Nachts möchte ich gerne schlafen. Meist gelingt das auch, doch gelegentlich nutzt mein über den Tag mit vielerlei medialen Eindrücken überversorgtes Gehirn die plötzlich freie Zeit vor dem Einschlafen, um mir aktuelle Menschheitsprobleme zur Verarbeitung vorzulegen.
Wie aber lässt sich so etwas wie „Die Welt nach Fukushima“ so verarbeiten, dass man danach gut schlafen kann? Geht gar nicht! Und zuvor hatte ich auf PHOENIX auch noch einen unglaublich eindringlichen Film gesehen, in dem die Kinder von Fukushima berichten, wie sie das ganze Desaster – Erdbeben, Tsunami, AKW-GAU – und die Zeit danach erlebten. Bei uns ist das ganze Thema weitgehend aus dem Medien verschwunden, doch dort bleibt die Umwelt auf unabsehbare Zeit verstrahlt – mit unfassbar deprimierenden Folgen für die Menschen.
Festhalten, egal wie verrückt…
Abgesehen vom Desaster selbst hat es mich richtig fertig gemacht, zu sehen, wie viele Menschen sich dort immer noch Illusionen hingeben. Sie bleiben in der Nähe ihrer verstrahlten Dörfer, gewöhnen sich ans ständige Messen der Strahlung und erwarten von ihrer Regierung, dass diese verlautbart, ob und wann eine Rückkehr möglich sein wird. Dabei reichen ein paar Info-Klicks im Netz, um zu erkennen, dass das Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte nicht möglich sein wird. Sie „putzen“ verstrahlte Dächer, Wege und Plätze, doch die Natur rundum lässt sich nicht putzen und emittiert weiter soviel Strahlung, dass jegliches „Dekontaminieren“ binnen kurzem wiederholt werden müsste. Ein Vater erlaubt seinem Kind täglich 30 Minuten Spielzeit draußen auf einem asphaltierten Platz – wegziehen will er nicht, sagt er, denn er weiß nicht, OB ER ANDERSWO EINEN JOB BEKOMMEN würde. Und natürlich muss die Familie zusammen bleiben, sagt die Mutter.
Verdammt, ich will doch endlich einschlafen und nicht auch noch in Wut über das Schaf-Verhalten der armen Betroffenen geraten! Ich konzentriere mich auf den Atem, die Szenen verschwinden, dafür tauchen die Fischer auf, die tonnenweise gefangenen Fisch von Tepco-Mitarbeitern messen und wiegen lassen und dann wieder ins Meer werfen: Über 80 Bequerel belasteter Fisch kann nicht vermarktet werden, aber der AKW-Betreiber zahlt eine Entschädigung pro Kilo. Na klar, deshalb macht es ja ungemein Sinn, weiter die Netze auszuwerfen: fangen, messen, wiegen, zurück werfen… tonnenweise!
Genug, genug, das ist doch weit weg und ich kann an alledem sowieso nichts ändern.. atmen… spüren, wie die Luft durch das Nasen-Innere weht… Ich stelle mir mein LEERES Hirn vor, still, dunkel, keine Inhalte, keine Katastrophen, gar nichts…
Da reisst mich die nächste Ungeheuerlichkeit unserer Tage aus der Trance, die das nahe Einschlafen ankündigt. How the NSA Almost Killed the Internet (Archivversion) – ein ausführlicher Bericht über das „Jahr in der Hölle“, das die Tech-Titanen Google, Facebook, Microsoft u.a. in 2013 erlebten – und wie sie sich in der Situation vorfanden, gegen ihre eigene Regierung „um ihr Überleben kämpfen“ zu müssen.
Den umfangreichen WIRED-Artikel hatte ich nachmittags gelesen und obwohl mein Englisch nicht ganz für alle Details ausreicht, verstand ich doch genug, um das ganze Ausmaß des Dilemmas und die weitgehende Machtlosigkeit selbst dieser Giganten mitzubekommen. Nicht, dass mir das Schicksal von Google oder gar Facebook persönlich viel bedeutet, doch macht der Artikel deutlich, dass selbst für die USA-Wirtschaft wichtige weltweit aktive Firmen nichts, aber auch gar nichts gegen die Datensammelwut der NSA und der auf „Kampf gegen den Terrorismus“ gepolten Regierung zu tun vermögen. Die NSA-Leute sind und bleiben überzeugt, dass ihr Tun unverzichtbar ist, um „Leben zu retten“ und sämtliche üblen Auswirkungen rechnen sie alleine der VERÖFFENTLICHUNG ihrer finsteren Aktivitäten an – böser Snowden, böse Presse:
„But they do not see any of those points as a reason to stop gathering data. They chalk all of that negativity up to monumental misunderstandings triggered by a lone leaker and a hostile press. NSA employees see themselves as dealing with genuine deadly threats to the nation, and it makes them crazy when people assume that spooks at Fort Meade are intent on stealing their privacy.
“It’s almost delusional,” Ledgett says. “I wish I could get to the high mountaintop to scream, ‘You’re not a target!’”
So so, wir alle sind keine Ziele, wohl aber durchweg verdächtig und den Algorithmen ausgeliefert, die nach Gutdünken finsterer Spione Zusammenhänge zwischen Datenspuren herstellen, die wir über die Jahre im Netz hinterlassen. Da ich mich als Bürgerin des 21.Jahrhunderts daran gewöhnen musste, dass WIRTSCHAFT und WACHSTUM normalerweise die obersten Kriterien politischen Handelns darstellen, ist es nun umso erschreckender, zu erkennen, dass es doch etwas gibt, das DARÜBER steht: die totale Überwachung von allem und jedem!
Was nützt es aber, wenn ich deshalb nicht einschlafen kann? Gar nichts! So sehe ich also meinem eigenen Polit-Kopfkino zu, in der Hoffnung, dass es irgendwann verblasst und ich endlich das belastete Bewusstsein verliere. Traumlose Leere, ich komme…
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8 Kommentare zu „Vom Bemühen, das Bewusstsein zu verlieren“.