Gestern also mein Geburtstag, wie immer ohne „besondere Aktivitäten“ – im Gegenteil, ich blieb den ganzen Tag allein, hatte nicht viel zu tun, und konnte es mir so richtig gut gehen lassen. FÜNFZIG – beeindruckt mich das? Höchstens im Sinne eines kleinen Staunens: was die nur alle haben, die sich so vor den runden Geburtstagen fürchten!?
Einer (60plus), der es gewiss nicht böse meinte, schrieb mir, eine Frau bleibe immer 49, wenn sie es richtig anstelle – du lieber Himmel! Was für ein fragloses Einverständnis damit, das Altern als Defizit anzusehen, als Makel, den man möglichst verbergen müsse! Damit steht er nicht alleine, mir fällt zunehmend auf, wie sehr die Leute eine Art „psychospirituellen Jugendwahn“ verinnerlicht haben, auch und gerade die Jüngeren. Neulich schätzte ich einen Enddreißiger auf „über 40“, was ihn sichtlich erschreckte. Dabei hatte ich es positiv gemeint: Immerhin schon vierzig! Man kann ihn langsam ernst nehmen… Dass es jemand war, der ansonsten immer noch ein Selbstverständnis als „Rebell“ pflegt, zeigt, dass es damit nicht weit her ist. An der Stelle setzen die wenigsten dem Meinungsmainstream der schönen glatten Werbewelt offensiv etwas entgegen, warum nur?
Klar, mit dem Kampf gegen die äußeren Anzeichen des Alterns kann man Milliarden umsetzen, also wundert es nicht, dass die Medien das „Forever young“ betrommeln als gelte es, der hereinbrechenden Sintflut zu entkommen. Ich sehe schon die 75-Jährigen der Zukunft: einerseits lebenslänglich operativ glatt-gezogen, dafür aber voll verziert mit alten Tatoos, Piercings und Brandings – wow, das wird nett in der Sauna!
Im Januar hab‘ ich mir im Fitness-Center einen kleinen Muskelfaserriss am Oberschenkel zugezogen – unabhängig vom Alter ergibt das eine deutlich sichtbare Delle, daneben eine kleine Schwellung (die abgerissenen Muskelfasern). Erst war ich einigermaßen erschreckt: Ein richtiger Schönheitsfehler! Kein „harmonisch glatter“ Oberschenkel mehr – und wer weiß, ob das jemals wieder ganz verschwindet! Ich betrachtete mich im Spiegel, beobachtete meine innere Bewegtheit angesichts dieses „Makels“ – und auf einmal wurde mir die ganze Absurdität dieses Empfindens bewusst. Ich fragte mich nämlich ganz konkret: Was befürchte ich eigentlich? Was droht denn Schlimmes aufgrund einer kleinen Delle am Schenkel? Wird mich deshalb irgend jemand weniger lieben? Oder auch nur erotisch weniger begehren? Hat es je in meinem Leben an der Verfassung eines bestimmten Körperteils gelegen, ob ein Mann mir nahe kam?
Nie. Nicht mit zwanzig und erst recht nicht mit fünfzig. Der glatte jugendliche Körper ist allein dort wichtig, wo Frau (und zunehmend auch Mann) sich auf einen Laufsteg begibt, sei es nun in der Werbung oder an irgend einem Strand der Eitelkeiten, wo allein die äußere Form zählt. Wer sein ganzes Leben als so einen Laufsteg begreift, ist selber schuld und wird mit jeder Falte, die sich zeigt, unglücklicher werden. Auf einmal fiel mir der „Kampf gegen die Cellulitis“ ein: Heerscharen von Frauen schauen erschreckt auf ihre „Orangenhaut“, cremen, massieren und rütteln daran herum, als könnte die Art und Weise, wie sich so ein paar Fettzellen unter der Haut in Stellung bringen, ihre Ehen und Beziehungen retten!
Aber genug davon. Ich werde all diese Verrücktheiten nicht ändern, aber ich kann darauf achten, nicht selber „vom Wahn erfasst“ zu werden. Wenn ich mein altes Fotoalbum ansehe, Claudia mit 15, 18, 25 – eine Schönheit, wie alle jungen Mädchen und Frauen! Und dabei erinnere ich mich sehr genau, dass ich vor Minderwertigkeitsgefühlen nur so strotzte, mich als zu dick, zu hässlich, zu unattraktiv empfand. Völlig irre – aber anscheinend ganz „normal“.
Normal?
Je älter ich werde, desto mehr verschwindet der Begriff von „Normalität“ – eine vermutete kollektive Normalität, die man falsch oder richtig, gut oder schlecht bewerten mag, auf die man sich aber als Background doch meist bezieht.
Gestern hörte ich zwei Mädels, die in der Sauna leise miteinander sprachen. Es ging darum, wann die eine sich bei ihrem Lover wieder melden soll: heute? Morgen? Erst nächste Woche? Oder warten, bis ER sich meldet? Sie sagte mit unsicherer Stimme: „ich weiß nicht, was normal ist!“
Ich weiß heute: dieses „Normale“ gibt es nicht! Jedes Individuum pflegt seine eigene „gefühlte Normalität“ – und die kann ganz schön verrückt sein. Der ständige gedankliche Bezug auf „die Anderen“, die „breite Masse“, oder auch nur die mit persönlicher Sympathie betrachteten Subkulturen und Minderheiten ist nichts als ein selbst gebautes mentales Gefängnis. Dabei ist es völlig egal, ob man nun versucht, zu sein wie die vermutete „Mehrheit“, oder ob man alle Energie investiert, um sich davon partout zu unterscheiden. Beides verstellt den Blick auf das je eigene, das real existierende Selbst.
Älter werden bedeutet die Chance, aus diesem Gefängnis endlich heraus zu wachsen. Keine Normalität mehr – und nun? Einerseits kann man das als Risiko und Unsicherheit erleben, aber ich finde es mittlerweile richtig toll. Denn es bedeutet die Lizenz zum Selber-Gestalten – auf allen Ebenen. Und DAS ist es, was ich ab jetzt noch viel mehr als bisher tun werde: Nicht immer rückversichern, Sinn und Chancen jedes Vorhabens endlos mit Anderen diskutieren, ihre Meinungen und Einschätzungen für wichtiger und realistischer nehmen als die eigenen. Wer sagt denn, dass nicht meine „Sicht der Dinge“ diejenige ist, die gerade passt? Die vielleicht aufgrund ihrer Originalität sogar besser ankommt als etwas „Mainstreamigeres“, das schon gleich auf möglichst viele „vermutete Erwartungen“ zugeschnitten ist?
Echtes Selbstvertrauen, Gelassenheit, über die eigenen Schwächen und Flops auch mal herzlich lachen können – alles Dinge, die mir erst das zunehmende Alter brachte: Zwischen den Stühlen sitzen können, aber nicht unbedingt müssen, das Leben immer mehr als Abenteuerspielplatz wahrnehmen, weil es immer weniger gibt, was unbedingt verteidigt oder errungen werden muss. Macht richtig Laune! Dass ich auf der anderen Seite kaum mehr Lust habe, mir die Nächte in lauten Kneipen um die Ohren zu schlagen, dass ein Kater nicht mehr so locker wegzustecken ist wie mit dreißig, dass ganz allgemein der Körper mehr Aufmerksamkeit verlangt, ist – bis jetzt zumindest – kaum ein Verlust. Denn genau das hat auch eine positive Seite: mit dem langsamen Verschwinden der jugendlichen Energie stellt sich eine neue „Beeindruckbarkeit“, eine umfassendere Sensibilität ein. Die Wahrnehmungsfähigkeit für Zwischentöne erweitert sich, alles Grobe wirkt platt und langweilig. Es ist, als vertrüge man ganz plötzlich keinen Jungk-Food mehr, dafür erschließt sich aber unverhofft die genussreiche Welt des Gourmets.
Ich glaube mittlerweile, gutes Altern bedeutet bereitwilliges Loslassen dessen, was war, und neugierig bleiben auf das Neue, das kommt. Das fällt umso leichter, je weniger man sich im Leben zugunsten irgendwelcher Vorteile und Sicherheiten verbogen hat. Meist ist dieses Sich-Verbiegen ein Verzicht: auf Lust und Lebensfreude, auf Experimente und Abenteuer. Das war nie meine Welt, sondern das Zugreifen, wenn es mich nach etwas verlangte: eine interessantere (oder auch mal gar keine) Arbeit, ein neuer Geliebter, neue Freunde, eine andere Wohnung, ein Umzug aufs Land und wieder zurück in die Stadt, wenn es dann doch langweilt. Nicht erst aufs Häuschen sparen, nichts für die Ewigkeit sichern wollen – unser Leben ist sowieso „in Sand geschrieben“. Ich spüre ihn gern auf der Haut, gebe ihm neue spielerische Formen, aber eines Tages bläst der Wind ihn weg. Na und?
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7 Kommentare zu „Fünfzig“.