Claudia am 05. Januar 2003 —

Beobachtung: der hundertprozentige Flop

Gestern war ich auf der Post, ein Paket aufgeben. Die Filiale ist in einer überdachten Passage, Läden, Restaurants und ein Hotel bilden eines dieser recht auswechselbaren „Essembles“, in denen man heute Stadt erleben soll. In der Mitte des Platzes, um den sich alles ordnet, führt eine Treppe ins Untergeschoß, vermutlich zu den Tiefgaragen. Mensche liefen eilig hin und her – und auf einmal sah ich mehrere große Kuverts auf den Boden fallen. Die Passanten gingen einfach weiter, niemand schien es zu bemerken. „Hallo“, rief ich laut einer Frau hinterher, die gerade auf die Treppe zusteuerte, „haben Sie diese Umschläge verloren?“ Mir schien, sie war die nächste, die dafür in Frage kam. Die Frau schaute mich ganz kurz an, dann guckte sie auf den Boden und ging weiter – wie ein Roboter! Ich dachte mir noch nichts weiter, sondern rief noch einmal lauter und bestimmter, denn offensichtlich hatte sie nicht gemerkt, dass sie GEMEINT war. Noch einmal ein irritierter Blick, ganz so, als hätte sie etwas Schlimmes verbrochen, sie errötete heftig, senkte wieder den Kopf, beschleunigte die Schritte und verschwand im Untergeschoß.

Ich war perplex! Wieder einmal hatte ich erlebt, was mich jedes Mal ein bißchen verstört: Jemanden spontan ANGESPROCHEN, und derjenige schafft es nicht, darauf in einer „normalen“ Art und Weise zu reagieren. Sie hätte doch bloß den Kopf schütteln brauchen! Vielleicht mit einem Anflug von Lächeln, aber darauf will ich ja gar nicht bestehen. Dass die Menschen notorisch schlecht gelaunt mit Leidensmienen durchs Leben gehen, wundert mich nicht mehr, es gehört hierzulande einfach zum guten bzw. schlechten Ton. (=Alles Leben ist Leiden, und wer lächelt und zum Anderen freundlich ist, ist gewiss ein Heuchler oder nicht ausreichend informiert.) Nein, das meine ich jetzt nicht, sondern diese echten Ausraster, die mir das Gefühl geben, da drüben sei eigentlich gar kein Mensch, sondern etwas irgendwie Grusliges.

Schwitzen, aber schweigen

Ich erinnere mich mit Schrecken an den Wintertag, an dem ich in einen U-Bahn-Wagen einstieg, aus dem mir so extreme Hitze entgegen schlug, dass ich fast rückwärts wieder rausgesprungen wäre. Statt dessen sagte ich laut zu den vielen Menschen, die vor mir dicht an dicht in den Gängen standen, der nächste nur eine halbe Armlänge von mir weg: „Himmel, ist das heiß hier! Ist die Heizung kaputt?“. Einige schauten kurz in meine Richtung und dann zu Boden, es blieb still. Noch einmal legte ich nach, fragte: „Was ist los, merkt Ihr denn nichts ??“ – ein bißchen lauter und erstaunter jetzt, schließlich war ich von den vielleicht 40 Grad Raumtemperatur einigermaßen irritiert. Aber wieder keine Reaktion, sie standen wie eine Wand aus Schweigen und einigen war für Augenblicke anzusehen, dass es sie verstörte, sie irgendwie „betreten“ machte, als hätten sie Grund zur Angst oder würden sich schämen. Dann erstarrten die Gesichter wieder, jeder schaute am anderen vorbei, irgendwo in die Ferne oder an eine Wand.

Ja, was haben die denn alle, um Himmels willen??? Sie reagieren wie das Publikum im Theater, wenn die Schauspieler versuchen, ohne Vorwarnung jemanden in die Handlung einzubeziehen. Oder wie Gäste auf einer Party, wenn ein Spiel beginnt, zu dem JEDER etwas beitragen muss. Manche wirken so verstört, als wären sie eben noch gemütlich im Kino gesessen und hätten erst beim Blick in die Mündung einer Pistole plötzlich begriffen: DIES IST WIRKLICHKEIT!

Eine Art Stupor ist das. Kein irgendwie geartetes Fehlverhalten, sondern der AUSFALL von Verhalten überhaupt – und dann die Gefühle, die dem folgen: Scham, Angst, peinlich-berührt-sein, und schließlich das „militante“ Wegsehen. Man möchte vergessen, dass „so etwas“ jemals passiert ist, wünscht sich weit weg, an einen neuen Anfang, mindestens.

Und selbst genauso…

Oh ja, ich hab es auch an mir selber schon erlebt, zumindest ganz ähnlich: spät Abends am Boxhagener Platz, ich laufe den breiten Gehweg entlang zwischen dem Gebüsch, das den Innenraum des Platzes begrenzt und der Baumreihe zur Straße hin. Es ist menschenleer, mir entgegen kommt ein Mann mit einer Bierflasche in der Hand. Wird er mich anpöbeln? Mir die Handtasche abnehmen? Mich anbetteln und vollabern? Es ist so düster, ich gehe schnellen Schrittes auf ihn zu – und als er dann vor mir stehen bleibt und den Mund aufmacht, hebe ich schon die Hand zu einer abwehrenden Bewegung, schüttle den Kopf, will ihn einfach nur aus der Welt haben, ganz egal, wer er ist und was er will. Er sagt seinen Spruch auf, eher schüchtern, will mich um einen Euro anschnorren mit einer wenig originellen Geschichte – doch ich sage nichts, reagiere nicht, gehe einfach weiter, bin irgendwie peinlich berührt, weil ich spüre, dass mein Verhalten verrückter ist als seines. Ein sozialer Flop, aber volle Kanne!

Programm „Sozialverhalten“ abgestürzt

Gemeinsam ist diesen Erlebnissen neben dem menschlichen Versagen in einer konkreten Situation das Unvermögen, bzw. der Unwille, daran noch irgend etwas zu ändern, es sozusagen zu „heilen“. Man könnte sich ja entspannen und – aus dem Stupor bzw. der Verweigerung erwachend – ein normaleres Verhalten anknüpfen, etwas Verbindliches sagen, lächeln, einen Witz machen, winken – was auch immer. Aber genau DAS geschieht nicht, und das ist das eigentlich gruslige: Wir gehen hier nicht menschlich mit anderen Menschen um, indem wir ihnen als Person begegnen und die Folgen unserer Handlungen oder Nichthandlungen verantwortlich auf uns nehmen – sondern wir handeln, als wären wir Teil eines Programms: einmal „abgestürzt“, gibt es kein Weiterkommen mehr, allein ein Neustart hilft. Wenn die Gesichter in Ignoranz erstarren, ist das die innere „Cancel-Taste“ bzw. der Blue Screen: Mit DEM bzw. in DIESER Situation hab ich’s verpatzt, Mist – die nächste bitte!

Sich wegzappen aus einer Situation – das ist es, was hier versucht wird. Der Andere, an den man aneckt, bzw. der einem auf irgend eine unberechenbare Weise plötzlich nahe tritt, wird als Gegenüber negiert. Warum?

Nicht aus Feindseligkeit, vermute ich, sondern aus Erschrecken darüber, dass im jeweiligen Augenblick der innere Film ganz plötzlich unterbrochen wird, das übliche Vor-sich-hingrübeln, wünschen, lästern, planen, urteilen, interpretieren, fürchten und begehren. Ihhhh, da ist ja noch eine Welt „da draußen“, oh Gott, die will ja was von mir – nix wie weg hier!

Es geschieht einfach so, ist nicht etwa böse Absicht. Und deshalb auch nicht durch gute Vorsätze zu ändern. (Wie übrigens das meiste Versagen und sogar die meisten übergriffe auf andere Personen!) Ich beschreibe diese verstörenden Verhaltensausfälle denn auch nicht in der Hoffnung, die eigene Moral zu bessern oder bei anderen ein schlechtes Gewissen zu erzeugen – sondern einfach, weil ich diese Erlebnisse bemerkenswert finde. Interessanter jedenfalls als Geschichten von Außerirdischen, die jemanden entführt und untersucht haben sollen – das wär nämlich vergleichsweise menschlich!

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