Es ist der dreizehnte März, 7.33 Uhr, und die Morgensonne scheint von rechts (Osten) auf meinen Balkon. Dies ist eine Nordseite-Wohnung, von der die Vormieterin erzählte, dass sich die Morgensonne immerhin im Juni zwischen sechs und acht Uhr früh kurz zeige – und nun kommt sie schon jetzt, wie schön.
Meine Welt und mein ganzes Leben verändert sich drastisch. Nicht unbedingt von heute auf morgen, aber seit ein paar Monaten zerlegt sich alles, was lange Bestand hatte. Kein Stein bleibt auf dem anderen, keine Gewohnheit oder Errungenschaft bleibt, wie sie war. Wohnen, Arbeit, Beziehungen und Freundschaften verwandeln sich, ja sogar das Essen und Trinken bis hin zum Körpergefühl ist anders: Sieben Kilo weniger machen einen Unterschied, der in jeder Bewegung zu spüren ist.
Und alles geht wie von selbst. Nicht, dass ich etwas geplant oder konkret gewünscht hätte: der Entschluss vom letzten Herbst, in Zukunft alleine zu wohnen, der von außen so selbstbestimmt wirkt, war nur das Ja zu einer länger schon offenkundigen Not-Wendigkeit. Nicht ICH wende die Not, ich folge nur.
Wem? Da ist niemand mehr. Kein Mensch und auch keine „Lehre“, an der ich mich ausrichte und festhalte. Nicht, dass ich irgendwie dagegen wäre, das zu tun, es funktioniert einfach nicht mehr.
Wie fühl‘ ich mich dabei? Gelegentlich ist es geradezu euphorisch: Ich wandere in der Wohnung herum und empfinde Glück, frag mich verwundert, woher es kommt: Müsste da nicht etwas oder jemand sein, eine Ursache? Aber es findet sich nichts, nichts, was ich benennen könnte. Doch weil ich es gewohnt war, für alles Ursachen zu sehen, kann ich nur staunen.
Natürlich gibt es auch Tiefs, Verunsicherung, Einsamkeitsgefühle – sie kommen und gehen und auch von ihnen kann ich nicht sagen, WARUM sie sich zeigen. Und vor allem nicht, warum sie wieder gehen. Ich bemerke sie, forsche nach möglichen Ursachen, hänge mich vielleicht mental für kurze Zeit an das, was mir dazu gerade einfällt, hege „Meinungen“, drücke sie aus – aber schon wenig später zerrinnt wieder alles. Die Sonne kommt hinter den Wolken hervor, einfach so.
Was folgt daraus? Müsste das nicht bedeuten, dass mich alles cool und gleichgültig lässt, unberührt über den Wassern schwebend, wohl wissend: die Zeit nimmt alles Übel mit sich weg, genau wie alles Gute, Wahre, Schöne? Sollte ich – zumindest in meiner Kommunikation – immer von diesem erlebten Wissen ausgehen und die konkreten Höhen und Tiefen nicht mehr Ernst nehmen? Sie nicht mehr ausdrücken vor allem, damit sich niemand betroffen fühlt und womöglich meint, ich sei NUR so – und daraus falsche Schlüsse zieht?
Geht nicht. Es gibt keinen Weg zurück ins berechnende Denken. Wenn sich in mir etwas aufstaut, muss ich es ausdrücken, um es gehen lassen zu können. Mag es den Gipfel der Unvernunft bedeuten, mag es falsch und unberechtigt sein, mag es mich als Idiotin erscheinen lassen (was ja ganz besonders schmerzt!) – was raus muss, muss raus. Eindruck und Ausdruck müssen im Fluss bleiben – und auch „Denken“ hat keine höhere Qualität, sondern ist etwas, was mir ganz genauso zustößt wie eine Empfindung oder ein Gefühl, ist also Teil des Eindrucks, der im jeweiligen Augenblick oder nach einer kleinen Zeit der Einwirkung zum Ausdruck drängt.
Sich diesem Fluss verweigern, ihn kanalisieren wollen, bedeutet Elend und Leiden. Das Gute und Schöne existiert dann nur noch in der Zukunft, also in der Vorstellung. Die Gegenwart ist zubetoniert durch berechnendes Handeln, von Wünschen und Ängsten gesteuert. Immer im Versuch, durch Wohlverhalten nirgends anzuecken oder positive Reaktionen anderer zu erleben, verfehle ich dann genau das, was ich eigentlich wünsche: die Freiheit vom Leiden.
Diese Freiheit verwirklicht sich nicht dadurch, dass ein Rezept, ein Verhaltenskanon gefunden wird, wodurch das Leiden ein für allemal in Schach gehalten werden kann, sondern allein durch das Akzeptieren dessen, was ist. Eben auch, wenn es leidvoll ist. So schnell, wie es sich wieder verändert, wenn ich nicht dran klebe, kann ich manchmal kaum gucken!
Ist das jetzt ein Rezept? Denken und Reden entlang dieses Themas endet immer im Paradox. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es unmöglich ist, so etwas einfach zu lesen und zu übernehmen. Ganze Bibliotheken weißer Worte begleiteten schließlich meinen Weg ins Elend, konnten mir nicht aus der Verstrickung ins rechnende Denken und berechnende Handeln heraus helfen. Es ist erst dann genug, wenn es eben genug ist. Jeder Versuch, etwas grundlegend zu ändern, ist ja genau wieder das beschriebene „Berechnen“, das nur immer tiefer in den Sumpf führt.
Die größte Behinderung bei alledem – nachdem Wünsche und Ängste ihre Macht bereits verloren haben! – ist jedenfalls das Bemühen, doch immer noch „ein gutes Bild abzugeben“. Ich möchte aus dem Augenblick leben, ja sicher, aber andererseits sollen doch alle sehen, dass ich nicht so eine unbewusste Idiotin bin, die vom „richtigen Leben“ nichts weiß.
Und DAS funktioniert nicht. Nie.
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