Zwei Monate sind es jetzt schon seit dem Umzug an den Rudolfplatz. Zwei Monate alleine wohnen, zum ersten Mal seit vielen vielen Jahren. Ich wusste länger schon, dass es Zeit ist, aufzubrechen, doch als es im Sommer und Herbst 2002 angesichts völlig unterschiedlicher Wohn- und Lebenswünsche dann konkret wurde, hatte ich schon ein bisschen Bammel: Würde ich mich nicht einsam fühlen, wenn diese beiläufige Zweisamkeit Zimmer an Zimmer, das gemütliche Kochen und Essen, das Kaffee-Trinken, Fernsehen, Plaudern nicht mehr die Grundstruktur meines Real Life ausmachen würde? Würde ich vielleicht verwahrlosen, wenn „der Andere“ nicht mehr durch sein bloßes Dasein eine disziplinierende Wirkung ausübte?
Kein Tag in dieser Wohnung hat diese Ängste bestätigt. Es war richtig, mich endlich einmal in einen eigenen Raum zu begeben, wo es nur ganz allein mir selber überlassen ist, was ich darin anfange. Die Zweisamkeit, die hinter mir liegt, war voller gegenseitiger Achtung, Wertschätzung und liebevoller Rücksichtnahme. Nichts, wovor man mit Grauen wegrennt, im Gegenteil! Das Allein-Sein jetzt ist etwas gänzlich anderes, ermöglicht eine völlig neue Lebensweise: Keine Routinen, keine vermuteten Erwartungen, niemand ist da, der aufgrund langjähriger Erfahrung ganz genau weiß, WER ich bin. Also kann ich die Tatsache wieder zur Kenntnis nehmen, dass ICH das NICHT weiß. Und das ist wunderbar! In jedem Moment bemerke ich – wenn ich will – die offene Weite: Was tu ich jetzt? Welchem Impuls folge ich? Welches Dasein wähle ich als Nächstes, welche Rollen und Masken setze ich dazu auf?
Freiheit. Ich spüre große Freiheit. Ganz anders, als etwa Mitte zwanzig, als ich auch schon mal alleine wohnte, doch eigentlich nie allein sein konnte. Meine Wohnung war mir damals nur Absteige, Stauraum, Postadresse – und manchmal liebevoll geschmückte Empfangshalle für einen netten Gast. Mit mir alleine konnte ich nichts anfangen, ja, ich fühlte mich unruhig und getrieben. Es trieb mich zu Gleichaltrigen, man hing gemeinsam in Wohnungen und Kneipen herum, redete viel, hatte zu allem eine Meinung, diskutierte, bis die Köpfe rauchten – dazwischen fanden und zerstritten sich Paare, inszenierten Beziehungsstress, also noch mehr Gesprächsstoff – und dazu Drogen in 1000 Gestalten.
Wir wussten nichts mit uns anzufangen und taten alles, um das nicht zu spüren. Sich ständig unter Leuten aufzuhalten gab uns den Anschein von Halt, Sicherheit, „Jemand-Sein“. „Spontane“ Aktionen wie das nächtlich beschlossene „Komm, wir fahren jetzt nach Paris“ vermittelte den Anschein von Freiheit. Doch das Gefühl der Getriebenheit und Unruhe blieb, auch, wenn man dann in Paris angekommen war.
Heute stelle ich entzückt fest: Nur das Ankommen bei sich selbst ist ein wirkliches Ankommen. Kein naher oder ferner Ort, kein noch so liebevoller anderer Mensch, kein tolles Gedankengebäude und keine „Leistung in der Welt“ kann das Loch stopfen, die Leere füllen, die Getriebenheit beenden, die Suche stoppen. Nur eine Umwendung der Blickrichtung ist nötig: nach „innen“, statt nach „außen“ – die Anführungszeichen geben einen Hinweis darauf, was für eine riesige Abenteuerlandschaft des Unerforschlichen sich hier auftut.
Und wie im Märchen wandert man ganz alleine, trifft Zauberer, Feen, freundliche und feindliche Geister und Gottheiten. Lernt – wie im Märchen – die Macht kennen, die darin liegt, dem Unbekannten Namen zu geben. Oder – und das ist fast noch spannender in meinem Alter – die bekannten Namen von allem und jedem wieder weg zu nehmen. Die Zwiebel des „Life as we know it“ zu schälen, in der Ahnung, dass dieses Beginnen in ein grundstürzendes „Nichts“ führt, vor dem man unsäglich erschrecken würde, wenn es so weit ist. Das Nichts, aus dem die Fülle kommt, die Fülle all der Möglichkeiten, die wir durch unser Denken und Sagen, Tun und Nicht-Tun Wirklichkeit werden lassen.
In diesem Metier gibt es zwei Arten von Gurus, zwischen denen ich lange hin- und hergerissen war: Die einen weisen auf das Nichts hin und geben Tipps, die Zwiebel zu schälen, die anderen auf die Fülle der Möglichkeiten, die unsere Freiheit ausmachen – die Möglichkeit, etwas anderes zu wählen als das gemütliche Elend, in dem man so gerne klagend verharrt.
Damit bin ich durch. Es gibt da keine wahrere Wahrheit, kein richtigeres Verhalten, keine wirklichere Wirklichkeit. Es liegt an meiner Tagesform und Laune, meinen Impulsen im Augenblick, was mich gerade mehr fasziniert: das „schälen“ oder das „kreieren“.
Nichts und niemand auf der Welt hindert mich daran, das eine zu tun und das Andere nicht zu lassen.
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