Wie funktioniert der „freie Wille“? Wo kommt er her, wie kann er wachsen und was lässt ihn verschwinden? Ich frage nicht, „was IST der freie Wille?“, beziehe mich nicht auf die philosophische Endlos-Diskussion, ob ein Wille überhaupt frei sein kann oder nicht. Meine Frage richtet sich auf den Willen schlechthin: das Wort „frei“ benutze ich nur, um ihn von unfreiem Wollen zu unterscheiden. Was das ist, weiß jeder: das Streben nach Macht, Besitz, Anerkennung, Liebe ist uns irgendwie mitgegeben, es ist da, ohne dass wir es wählen, allenfalls können wir uns in gewissen Grenzen im Lauf des Lebens davon frei machen – zum Beispiel aufgrund von Erfahrungen, insbesondere Erfolgen. Wenn ich immer wieder erreiche, was ich „will“ und dann feststellen muss, dass es mich nicht glücklich macht, sondern nur der nächste Wunsch ins Rampenlicht tritt, dann erwischt mich irgendwann das Aha-Erlebnis: DAS ist es offensichtlich nicht! Und das einschlägige Wollen und Streben stirbt ab, ganz ohne Anstrengung und Indoktrination von außen.
Was aber dann? Mein eigenes Wollen reicht seit langem nur noch dahin, meinen Lebensunterhalt auf bescheidenem Niveau zu gewährleisten, meine Arbeit so zu gestalten, dass sie mir Freude macht und mich nicht nervt. Zudem habe ich gelernt, förderliche und freudvolle Beziehungen zu Mitmenschen zu pflegen und schädigende Verstrickungen gar nicht erst wachsen zu lassen. Es geht mir gut, und zwar sowohl von der Warte des eigenen Daseins-Gefühls aus betrachtet, als auch im Vergleich zu unzähligen Menschen, die ich mitbekomme, deren Innenraum gefüllt ist mit Ängsten, Agressionen, Mangelgefühlen und vielem mehr.
Und doch kann ich nicht sagen, dass ich „zufrieden“ bin. Oberflächlich betrachtet schon, aber untergründig ist da immer ein kleiner Stachel, der sich mal mehr, mal weniger spürbar zeigt. Eine leise Stimme, die zu mir sagt: Das ist doch nicht alles! Du kannst doch nicht mit 48 psychospirituell in Rente gehen! Was ist mit deinen Fähigkeiten, deiner Kreativität, deiner Kraft? Du lebst weit unterhalb deiner Möglichkeiten, schöpfst deine Potenziale nicht aus, hängst zufrieden herum und fängst mit deiner persönlichen Freiheit eigentlich nichts an. Gehört denn alles, was du erworben und entwickelt hast, dir? Reicht es, ein angenehmes und stressfreies Leben zu führen? Was hat die Welt davon?
Den Stau wahrnehmen
Bei der letzten Frage „Was hat die Welt davon?“ könnte man glauben, es gehe um Moral, um die Pflicht, den Kriegsdienst an der Realitätsfront im Geiste der Aufopferung abzuleisten. Das ist es aber nicht, ich fühle es nicht als Forderung, die Welt auf meinen Schultern zu tragen und mich in irgendwelchen Kämpfen aufzureiben, weil das nun mal jeder tun soll, damit die Gesellschaft prosperiert. Nein, es ist mehr ein Gefühl mangelnden Austauschs, als wäre der Fluss meines Aktiv-Potenzials irgendwie gestaut – und immer, wenn ich mich zurücklehne und meine Gelassenheit feiere, spüre ich diesen Stau, spüre, dass da etwas nicht stimmt.
Wenn ich über längere Zeit denselben Aspekt als „unstimmig“ empfinde, aber so gar nicht „von selber“ darauf komme, was da eigentlich los ist und wie ich etwas ändern könnte, dann werde ich wieder offener für Anregungen von außen. Allerdings müssen es Inhalte sein, die schon irgendwie nah an meinem Thema sind. Derzeit hätte ich gar nichts davon, etwa noch weiter spirituelle Texte zu lesen, die Gelassenheit und Selbstbeobachtung, Meditation und Loslassen predigen. Mein inneres Gefühl sagt mir, dass ich genau in die andere Richtung will – zwar auf einem neuen Niveau, nicht mehr in der unbewussten und extremen Art, wie ich in der ersten Lebenshälfte versuchte, die Welt und mich selbst durch überaktives Herumwurschteln zu beglücken, aber doch in Richtung HANDELN, mich einlassen, verpflichten, fordern – auch auf die Gefahr hin, an die Grenzen meiner Kraft und meiner Fähigkeiten zu kommen. Schon dass ich das „Gefahr“ nenne, ist ein Zeichen des „Problems“!
An die Grenze gehen
Eine Yoga-Übung zelebriert, wie es „richtig“ wäre: Man nimmt langsam und bewusst eine ungewöhnliche Körperhaltung ein und geht an die Grenze des Möglichen, die gleichzeitig die Grenze zum Schmerz ist – nicht aber darüber hinaus. Dort verharrt man, solange es geht und schaut sich an, was das im Körper, in den Gefühlen und Gedanken bewirkt. Dann lässt man ebenso langsam los und entspannt sich wieder, nun beobachtend, was die Übung für weitere Wirkungen entfaltet.
Im Leben tu ich das nicht, lange schon nicht. Ich gehe NICHT an die Grenze der Möglichkeiten, geschweige denn an die des Schmerzes. Wenn sich die Gelegenheit zeigt – und das Leben ist immer voller Gelegenheiten – frage ich mich: „Wozu denn? Mir geht’s doch gut, was will ich denn noch? Es gibt doch nichts zu erreichen!“. Das ist, so seh‘ ich es jetzt, ein klarer Fall von spiritueller Matschbirne. Diese Gedanken sind nicht Weisheit, sondern kaschieren und rationalisieren einen Fehler, eine Unstimmigkeit, irgend eine Altlast, die mich behindert und einschränkt, ohne dass ich sie schon genau sehen könnte.
Ein erstes Aha-Erlebnis verschaffte mir ein Buch über „Techniken zur Erforschung des Bewusstseins“, dessen Arbeitsbögen zur Erhebung eines Persönlichkeitsprofils ich einfach mal ausfüllte, ohne noch die Texte dazu zu lesen. Zwei hintereinander stehende Fragen und meine ohne Zögern gegebenen Antworten ließen mich stutzen:
Frage:
Welchen Abschnitt deines Lebens hältst du für den besten? Weshalb?
Antwort:
Mitte dreißig, die Zeit nach meiner „Befreiung vom Alkohol“ – weil ich da entdeckt habe, dass alles „von selber“ geht und nicht von mir „gemacht“ werden muss.
Frage:
Welche Aspekte deines gegenwärtigen Ichs magst du am wenigsten?
Antwort:
Entschlusslosigkeit und Ziellosigkeit, Zerstreutheit und Unkonzentriertheit, physische Beschwerden am rechten Arm und Bein (=Schäden von zu vielem Sitzen).
Das hat mich ein bisschen wach gemacht! Die wunderbare Wende in meinem Leben, von der ich noch heute zehre, hat mir Erkenntnisse und Weisheiten vermittelt, die für mich über allem anderen stehen, da sie selbst gefunden, selbst erlebt sind, nicht von außen vermittelt. Auch nicht in einer Umkehrung angenommen, wie man etwa als junger Mensch GEGEN das ist, was von den Eltern oder der Gesellschaft an Wahrheiten tradiert wird. Es war wirklich neu, völlig unerwartet und eröffnete mir eine neue Weise des In-der-Welt-Seins, die alles übertraf, was ich mir bisher ausmalen konnte. Ich glaubte, das Geheimnis des Glücks und des „richtigen Lebens“ gefunden zu haben.
Das „richtige“ Leben
Dem war auch so. Ich sehe das jetzt nicht als falsch an. Eher scheint mir der Prozess so zu verlaufen, wie das Yin Yang-Zeichen – wenn man es animiert, in Bewegung versetzt – zeigen will: der eine Aspekt der Polarität, sagen wir „schwarz“, wird immer größer und größer bis er allen Raum einnimmt – doch im Augenblick seiner totalen Dominanz, entsteht in seiner Mitte das Gegenteil: Weiß. Ab jetzt beginnt Weiß zu wachsen und Schwarz schrumpft zusammen – bis jetzt Weiß dominiert, in dessen Mitte dann wieder ein zunächst winziges Schwarz erscheint.
Mich hat offensichtlich die Begeisterung über das erste vollständig selbst durchlebte „Umschlagen“, das Gefühl der Befreiung und Erlösung, das damit verbunden war, derart beeindruckt, dass ich irgendwann anfing, fest zu halten. Ich hielt das Gewonnene für die absolute und letzte Wahrheit und begann, in meinem Leben das „Weiß“ zu verstärken, das so wunderbar inmitten des „Schwarz“ erschienen war. Das ist solange gut und unschädlich, solange das „Weiß“ von selber wächst – wenn es aber Zeit ist, wieder in Richtung des anderen Pols zu leben, wenn die Bewegung wieder umschlägt, dann bremse ich mich so nur selber aus. Tue also (unbewusst!) genau das Gegenteil von dem, was ich als „Extrakt der gewonnenen Weisheit“ gerne predige: den eigenen Impulsen zu folgen, sich ihnen hinzugeben, mitzuleben und nicht aus dem Kopf heraus daran herum zu rechten und das Leben zu be-rechnen. Meine Willensimpulse hab‘ ich dabei zunehmend gelähmt, innerlich alles diskriminert, was über das Bestehende, das „von selbst Entstehende“ hinaus greifen will. So lange und so erfolgreich, bis ich nicht nur jeden Draht zu dieser Art Wollen verloren hatte, sondern auch physisch an den Handlung symbolisierenden Gliedmaßen „Krankheiten“ auftraten. Unglaublich!
So ist jetzt also „Wille“ mein Thema. Etwas erreichen wollen, Ziele haben, die eigenen Aktivitäten auf diese Ziele hin ausrichten, auch längerfristig. Mich verpflichten und „Verstrickungen“ riskieren – und nicht aus den Augen verlieren, ob ich den Zielen mit meinen Schritten auch näher komme. All das hört sich für mich noch äußerst fremd an, da ist eine, wie ich jetzt sehe, selbst geschaffene innere Ablehnung dieser Dimension. Wie könnte ich die wieder „abschaffen“?
Was du nicht erfühlen kannst…
Wo eine Frage als solche erkannt ist, folgen Suchbewegungen auf mögliche Antworten hin. Bisher weiß ich nicht viel, obwohl ich mich schon ein wenig in den üblichen Formen mit „Ziele finden“ auseinander gesetzt habe, zunächst auf der beruflichen Ebene. Allerdings sprang da noch kein zündender Funke über, berufliche Ziele sind eben nur operationale Ziele, also solche, die eigentlich Zielen auf ganz anderen Ebenen dienen sollten.
„Was du nicht erfühlen kannst, das kannst du nicht erjagen“ – der Satz von Goethe geht mir seit langem nach. Nur darüber zu grübeln, welche Ziele es wert wären, sich ihnen zu verpflichten und richtig Einsatz zu bringen, ist gewiss nicht der Weg. Nein, ich muss mich neu öffnen, nicht immer gleich das beschwichtigende Zufriedenheits-Programm im Kopf ablaufen lassen, wenn mich irgend etwas stört oder ein Änderungswunsch auftritt. Ich muss nicht noch mehr „Gelassenheit üben“, sondern das Gegenteil an mich heran lassen, es wieder erwecken und wachsen lassen.
Muss ich? Nein, ich muss nicht. ICH WILL.
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