Claudia am 03. Mai 2014 —

Ich will doch nur ein besserer Mensch sein!

Gestern hab ich via Zattoo auf ZDFKultur den wundervollen Film „Zwischen uns das Paradies“ gesehen. Selten hat ein Filmtitel so gut gepasst! Bringt er doch das Dilemma auf den Punkt, um das es in der Filmhandlung vornehmlich geht: Ein junges Paar, das gerne ein Kind hätte und bereits dabei ist, eine künstliche Befruchtung zu planen, dividiert sich binnen weniger Wochen auseinander, weil der Mann beginnt, mit Religion Ernst zu machen.

luna-und-amar

Als weltliche bosnische Muslime sind sie staatlich getraut und führen ein übliches „westliches“ Leben. Nur dass Amar (der Mann) seit dem Krieg, in dem auch ihre Familie teils ermordet, teils vertrieben wurde, keinen neuen Job findet seit er wegen seiner Sauferei gefeuert wurde.

Amars Seele wird gerettet

Gerne nimmt er deshalb das Angebot eines früheren Kampfgenossen an, in einer Art Feriencamp Kindern Computer-Unterricht zu geben. Dass dieser ihn in ungemein giftfreie Gaststätten führt, wo er weder den gewünschten doppelten Schnaps bekommt noch rauchen darf, fällt ihm zwar unangenehm auf, aber was tut man nicht alles für einen guten Job! Andrerseits ist dieser Freund beeindruckend in seiner Zuwendung, seiner Lauterkeit, seiner Ersthaftigkeit – er hat etwas, das Amar schmerzlich vermisst in seiner desolaten Existenz.

Obwohl seine Liebste (Luna) heftig protestiert, taucht Amar ins Leben der „Ernstgläubigen“ ein. „Ich wusste immer, dass da etwas ist“, wird er später sagen, um seine plötzliche Veränderung zu erklären, „und jetzt habe ich es gefunden!“ Die wahabitische Gemeinde lebt nach den Regeln des Propheten, alle Frauen sind bis auf einen Augenschlitz voll verschleiert, Männer und Frauen baden und beten getrennt. Handy-Empfang ist in dem entlegenen, inmitten der Natur gelegenen Camp nicht möglich, wie Luna bei einem Besuch bemerkt.

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Mit ihrem städtisch-modernen Outfit wirkt sie dort extrem exotisch und kollidiert hier und da mit den Vorschriften. Als sie auch noch mitbekommt, wie ein junges Mädchen als „Zweitfrau“ islamisch geheiratet wird, tickt sie aus und verlässt wütend Mann und Camp. ER soll nachhause kommen, SIE hat nicht vor, eine „gute muslimische Ehefrau“ zu werden, die ihrem Mann gehorcht und ihren Lebenssinn darin sieht, für ihn und ihre Kinder da zu sein.

Der Sog des gottgefälligen Lebens

Man könnte nun denken, gut und böse seien hier klar verteilt, doch so einfach macht es der Film von Jasmila Zbanic den Zuschauenden nicht. Das Leben der „Weltlichen“ in den Kneipen und Diskos wird in all seiner Rastlosigkeit und Leere gezeigt. Die Szenen in der Moschee lassen ahnen, wie sehr die Lehre vom reinen, gottgefälligen Leben und die Liebe der Gemeinde das Herz berühren und Amars Sinnsuche beantworten kann. Die großartig „gesungene“ Koran-Rezitation erschafft einen spürbaren „Raum des Heiligen“, der auch weltliche Gemüter auf der Gefühlsebene erreicht.

„Es hat sich doch nichts geändert“, sagt Amar zu Luna, als er wieder einmal nachhause kommt. „Ich will doch nur ein besserer Mensch sein!“

Luna

Dieser bessere Mensch schläft nun nicht mehr mit seiner Frau, da sie ja (noch?) nicht islamisch getraut sind. Und morgens steht er vor ihr auf und rollt seinen Gebetsteppich aus. Zwischen den beiden liegen mittlerweile Welten, ein Brückenschlag erscheint immer unmöglicher.

Zwischen uns das Paradies

Philosophisch bemerkenswert erschien mir die Jenseits-Orientiertheit der wahabitischen Gemeinde. Im Gegensatz zu ihrer Koran-konformen Lebensweise werden traditionelle muslimische Bosnier gezeigt, die zwar auch das Zuckerfest feiern und Allah anrufen, dabei aber fröhlich geistigen Getränken zusprechen und singen und tanzen. Sie genießen das Glück im Diesseits, während die „wahren Gläubigen“ die Belohnung für ihren vielfältigen Verzicht auf weltliche Freuden im Paradies erwarten dürfen: der Weg zu Gott ist steinig und schmal, wogegen die Straße in die Hölle mit Lust und Vergnügen gepflastert ist, so beschreibt es der Imam.

Damit wird deutlich, wie allzu schlicht die üblichen Diskussionen über „den Islam“ in der Regel gestrickt sind. Der Graben verläuft nicht zwischen „dem Westen“ und dem Islam, sondern zwischen Ernstgläubigen (die es ziemlich ähnlich in jeder Religion gibt) und den Weltlichen bzw. „Gemäßigten“. Die Vorschriften für das gottgefällige Leben sind in pietistischen Gemeinden nicht weniger restriktiv: der Mensch in seiner Sündhaftigkeit soll gezähmt werden mit dem Verweis auf ein Glück im Jenseits, das dann größer sein wird als alles, was diese Welt zu bieten hat.

Dieses „Rezept“ zur Befriedung menschlicher Gier, Ignoranz und Maßlosigkeit nutzen viele religiös motivierte Gruppierungen: islamische, christliche und auch buddistische. Mal ist das Paradies im Jenseits das Reich der Belohnung, mal die bessere Wiedergeburt oder die letztendliche Befreiung aus dem Samsara mit Eintritt ins Nirvana. Damit es gelingt, braucht es zwingend die Gemeinschaft, weil man nur so zusammen in diesem Leben „Ernst machen“, sich gegenseitig unterstützen bzw. auf dem rechten Weg halten kann. Dass „das Böse“ dabei oft nur unter den Teppich gekehrt wird und die jeweiligen Gemeinschaften zu rigiden Verbots- und Wohlverhaltens-Sekten sich gegenseitig überwachender Rechtgläubiger werden, nimmt man in Kauf oder verleugnet einfach, dass dem so sei.

glaeubige

„Gott sieht’s“ wird geupdatet

Mit der Lebensweise moderner, in ganz anderer Weise nach Selbstoptimierung strebender Individuen (fit für den Markt!) sind solche Gemeinschaften tatsächlich nicht kompatibel. Dass „der Westen“ so angestochen auf islamische „Rechtgläubige“ reagiert, verdankt sich der Tatsache, dass „wir“ kein wirklich funktionierendes Alternativkonzept haben. Der Zustand der vom weltlich-westlichen Lebensstil zunehmend dominierten Welt spricht ja Bände. Auch der atheistische Humanismus hat niemals eine vergleichbare Wirkungsmächtigkeit entwickelt, denn er kann keine ensprechende „Belohnung“ für die Selbstbezähmung in Aussicht stellen. Und er verliert in der Welt von Big Data und Reality-Mining genau wie die klassischen „gemäßigten“ Religionen weiter an Boden: Die Innensteuerung des Individuums durch Gewissen und Werte („Gott siehts!“) wird durch die Steuerung von Außen per totaler Überwachung, Berechnung und Vorab-Verhinderung möglichen Fehlverhaltens abgelöst.

Am Ende wird uns „die Maschine“ bzw. das globale Betriebssystem auf dem rechten Weg halten. Leider ohne eine Möglichkeit, noch mitzuentscheiden, was denn „Recht“ und „Unrecht“ ist. Denn dies wird das Geschäft der von irgendwem in Irgendwo zu Zwecken programmierten Algorithmen sein, weit außerhalb der Zugriffsmöglichkeiten unserer derzeit rasant veraltenden repräsentativen Demokratie.

***

Tut mir leid, dass das so düster ausgefallen ist – über Widerspruch freue ich mich natürlich!

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Diskussion

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10 Kommentare zu „Ich will doch nur ein besserer Mensch sein!“.

  1. Widerspruch gibt es von mir nicht. Aber eine Blogempfehlung…

    Noch ganz frisch ist der Blog „AFKARI افكاري – Ein nicht immer wissenschaftlicher Islamwissenschaftlerblog“ von Julia Hoffmann, die sehr sympathisch versucht über den Islam aufzuklären. Schau doch mal rein, Claudia und mach n Abo. Das kommen sicher bald noch mehr feine Gedanken von ihr und vielleicht ergibt sich auch mal eine feine Diskussion – so wie wir das von und bei Dir ja gewohnt sind. ;o)

    http://hoffmann-julia.de

    Hab ein schönes Wochenende!

  2. „Ich will doch nur ein besserer Mensch sein“ –

    ein Anspruch wahrscheinlich, Claudia, den wir alle zutiefst in uns tragen, vielleicht, weil wir uns auch unserer Unvollkommenheit bewusst sind.

    Ein Weg zum besseren Mensch kann m. E. nach nie über eine Zuweisung „richtig“ oder „falsch“ führen, ob mit oder ohne „Gott“ – in welcher Form auch immer er als Wegweiser dient.

    Auch glaube ich nicht, dass es einen Weg über das „verstehen“ geben kann. Vielleicht einen, der Annäherung.

    Selbst Toleranz reicht nach meinem Empfinden nicht für ein friedfertiges Zusammenleben aus, in dem wir alle unseren Weg zum besseren Menschen gehen wollen.

    Im friedfertigen „akzeptieren“ und „akzeptiert werden“ sehe ich die Chance, dass wir alle unsere individuellen Wege finden können.

    Jede konträre Diskussion über „Gott“, oder „richtig“ oder „falsch“ wird uns nur weiter voneinander entfernen.

    Seid einigen Tagen arbeitet schon der Gedanke in mir, dass es manchmal besser ist, nichts zu sagen, als „gut gemeintes“ sagen meinen zu müssen.

    Eins bleibt dabei für mich unerlässlich und ist für mich eine große Übung, mit ständigen, teils sehr harten Rückschlagen: „Akzeptanz“ darf keine Worthülse sein, sondern ICH muss es vorleben.

    Schön, dass es mir mit deinem Beitrag möglich wurde, mal wieder über das Große und Ganze auch in die kleinen Dinge unserer Zusammenlebens, wieder tiefer hinein gefunden zu haben.

    Menachem

  3. @Olaf: danke für den Link, hab ich abonniert!

    @Menachem: der Film zeigt beispielhaft, wie nicht einmal zwei Menschen, die sich lieben, Akzeptanz für auseinander driftende Weltanschauungen und deren Konsequenzen aufbringen können. Und das nicht, indem sie über Gott gestritten hätten…

    Für mich ist das verständlich: das „Leben und leben lassen“ der Großstädte basiert auf Anonymität und Individualisierung: Wie mein Nachbar lebt, geht mich nichts an und tangiert mich auch nicht (solange sie nicht zu oft zu laute Musik machen, mal so als Beispiel).

    Wenn aber – wie im Film – der Lebenspartner den Sex verweigert, weil man nicht nach dem Ritual der plötzlich ernst genommenen Religion verheiratet ist, oder er bei Familienfesten Reden gegen das Leben in Sünde hält, weil da getrunken, gesungen und getanzt wird – dann ist nur die Trennung eine „friedliche“ Wahl. Man könnte sagen: ER ist es, der Toleranz üben sollte – das aber würde von ihm verlangen, unter dem Einfluss der Sünde zu leben, die er ja gerade ablegen will.

    Die Tragik des Films liegt gerade darin, dass das Streben nach einem besseren, „eigentlicheren“ Leben die allernächste Liebe zerstört, weil der aus diesem Streben erwachsende Lebensstil einfach nicht mehr passt.

    Am offenen Ende des Films sagt er zu ihr: „Komm zurück zu mir!“ Und sie antwortet: „Komm DU zurück zu MIR!“

    Sie werden nicht mehr zueinander kommen, denke ich. Traurig, aber nachvollziehbar.

  4. Das sehe ich auch so, Claudia, das dann eine Trennung die „friedliche Wahl“ sein könnte, womit ich auch sagen möchte, dass das noch nicht das ganze Spektrum der Möglichkeiten sein muss – mir aber derzeit auch keine andere einfällt.

    Sorry, aber den Film habe ich nicht gesehen und möchte ihn auch zur Zeit nicht sehen. Fühle mich für diese Dinge im Moment nicht gut genug gerüstet.

    Bei alledem versuche ich ja auch nur selber für mich irgendeinen Weg zu finden, der keinen Haß in mir entstehen lässt – was bei dem ganzen Nachrichten die zur Zeit auf uns einschlagen schon viel Diziplin erfordert.

    Ich muss aber jetzt mal etwas ausholen, auch um mit mir dazu etwas ins Reine zu kommen.

    Mein Vater, jetzt 94, hat erstmals vor ein, zwei Jahren darüber nachgedacht, ob er Schuld hat, dass er als einzigster seiner Familie überlebt hat. Was sind das für Gedanken, in der Fortführung?
    Muss ich jetzt auch Schuld haben, dass ich in ein gutes, friedliches und sehr wohlhabendes Europa geboren wurde? Weil aus meiner komfortabelen Situation kann ich gut die Dinge der Welt laufen lassen. Ich habe frisches Wasser, kein Hunger und Notärtze.

    Bei allem bleibt aber für mich auch, dass ich mich nicht erfunden habe, und auch nicht die Menschen und auch nicht diese Welt – so wie sie ist. Wäre ich der Konstrukteur, und das sehen bestimmt viele ähnlich – sie wäre nicht besser.

    Und Dummheit und Fanatismus, mit all seinen schrecklichen Auswirkungen, gehört mit zu der uns fest vorgegebenen Konstruktion. Auch diese versuche ich zu akzeptieren, was, wie schon oben gesagt, mir auf dem Berg sitzenden deutlich leichter fällt, als den Menschen in z.b. Äthopien.

    Den Dingen ihren Lauf zu lassen, in meiner Unkenntnis warum das alles so ist, versuche ich auch als nicht gottesgläubiger Mensch so zu akzeptieren. Wer kann denn wirklich behaupten, dass das, was ich jetzt hier schreibe, richtig ist und das wie Amar die Welt sieht, falsch ist. Wer kann das?

    Ich kann aber kleine Dinge tun, die mir durch Geburt in eine wohlhabende Welt möglich sind. Wie z.B. dein kleines Projekt zu bespenden – was ich jetzt direkt noch einmal tun werde und mich im Kontext meines Kommentares irgendwie auch an die Ablaßbriefe erinnert.

  5. Hab Dank für deine Spende, Menachem – das freut mich sehr!
    Den Spendenden mag sowas wie „Ablasshandel“ vorkommen, aber ich sehe da mehr den Nutzen für den bespendeten Zweck – und der lässt sich ja nicht wegdiskutieren! :-)

    Die Nachrichten vertrage ich zur Zeit kaum – ich nehme nur das Allernötigste wahr, um im Groben auf dem Laufenden zu bleiben. Noch nie hab ich ein solches Ausmaß bewusster oder unbewusster Propaganda in den „Leitmedien“ wahrgenommen wie rund um den Ukraine-Konflikt. Soviel Parteiname, soviel einseitige Sicht und bewertende Wortwahl – ich hab quasi den Rest Vertrauen verloren, das ich in viele große Medien offenbar doch noch hatte.

    Dass man Schuld empfinden sollte, könnte, wenn man „davon gekommen“ oder in eine (noch) angenehmere Umwelt geboren wurde, hab ich nie verstanden. Ebensowenig teile ich die Idee, dass ich ein schlechtes Gewissen haben müsste, weil ich „weiß“ bin („critical whiteness“). Nicht vom Leben zufällig Privilegierte müssen sich in den Staub werfen, sondern den Marginalisierten muss geholfen werden – nur das ist für mich vernünftig und sinnvoll.

    Nichtsdestotrotz kann und soll man sich seiner Situation bewusst sein, helfen wo man kann und z.B. danach trachten, den eigenen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern – oder was auch immer man persönlich als wichtig und richtig ansieht.

  6. „Religion war im Schöpfungsplan nicht vorgesehen.
    Das Gesetz von Ursache und Wirkung schon.“

    Ursache war der Krieg, der ein psychisches Trauma zur Folge hatte. Aus diesem Trauma entwickelte sich die Labilität Amars.
    Die Ehe mit Luna gab ihm nicht mehr den erforderlichen Halt, und da griff er nach einem Strohhalm beziehungsweise der Ideologie, die sich ihm aufgrund seiner Herkunft anbot. In der Gemeinschaft der Strenggläubigen fühlte er sich wieder aufgehoben und beschützt, und diese Geborgenheit wurde ihm wichtiger als das Zusammensein mit Luna.

    Amar hat sich entschieden, so einfach ist das.
    Es war eine Entscheidung gegen das intime Glück seiner Liebesbeziehung.
    Man kann im Leben eben nicht alles haben.
    So einfach ist das.

    Viele Grüße, Anja

  7. Sei gegrüßt, Anja!

    Ja, das ist die eine, im Grunde die banalste Interpretation. Aber für diese Geschichte alleine hätte der Film nicht gedreht werden müssen bzw. er wäre – nur mit diesem Aspekt – ziemlich langweilig. Was er jedoch nicht ist!

    Ein Kriegs-Traumatisierter ist ja nur vermeintlich in einer grundstürzend anderen Situation als ein gewöhnlicher bzw. von extremem Leid verschont gebliebener Mensch. Schließlich brauchen wir alle irgendwo Trost, Schutz, Geborgenheit – das gehört einfach zum Befindlichkeitskostüm eines höheren Primaten (um es mal – deinem „so einfach ist das!“ entsprechend – cool auszudrücken).

    Religionen sind Trostsysteme, die gegen die Verlorenheit und Marginalität der menschlichen Existenz im Kosmos helfen sollen – und natürlich gegen den Skandal des Todes, indem ein „danach“ angenommen wird.

    Das ist jedoch nicht die einzige Dimension: der Charakter des angenommenen „Danachs“ ist aus der Sicht der Religionen ja nicht unabhängig vom Leben zuvor. Nur ein gottgefälliges Leben (oder eines, in dem man das Ego transzendiert etc.) führt ins Paradis (bzw. zur Befreiung). Nebenbei gibt es noch Gnade für Sünder, Vergebung bei Reue und sogar Ablass gegen Bezahlung – je nach Ausformung der religiösen Kontexte.

    Über die Forderung, für den Himmel ein gutes, ethisch korrektes Leben auf Erden führen zu müssen, konnten und können Menschen zur Selbstbezähmung (sogar zum Selbstmord) motiviert werden. Umso eher und besser, wenn eine „stützende Gemeinschaft“ (Sanga) dabei zusammen wirkt.

    Die Frage, die ich im zweiten Teil des Artikels stelle ist eben die: was haben die „Weltlichen“ dem entgegen zu setzen? Nicht gemeint als „was rettet uns vor der Sekte?“, sondern: was könnte Ähnliches leisten?

    Nämlich Trost und Selbstbezähmung.

  8. Liebe Claudia,

    das, was die Ultrareligiösen tragischerweise nicht begreifen, ist, dass es keineswegs von Gott gewollt ist, dass wir auf Erden darben, um dann im Himmel das Paradies zu finden.
    Was sie ebenfalls nicht begreifen, ist, dass wirkliche Nähe zu Gott nur auf der Herzensebene herzustellen ist.
    Ein aufrichtiges, liebevolles, gottgewolltes Leben zu führen ist der Weg in den Himmel, und zwar schon auf Erden.
    Die Mystiker sind es, die diese Wahrheit am ehesten zu leben vermögen. Mystiker gibt es in jeder Religion, und es gibt sie auch religionsunabhängig. Mystiker brauchen auch nicht unbedingt die Gemeinschaft, ein mystisches Leben ist durchaus in der Abgeschiedenheit möglich.
    Was dafür nötig ist? Eine gewisse Charakterstärke. Und die Fähigkeit, Recht von Unrecht unterscheiden zu können. Ein ausgeprägtes Gewissen ist nicht die Folge religiöser Vorschriften, sondern die Folge eines hohen moralischen Anspruchs an sich selbst. Das ist es übrigens, was im Islam als „Al-Djihad al-kabir“ bezeichnet wird, als der „große Krieg“: Die beständige innere Abwägung: Was ist gut? Was ist richtig? Kann ich das, was ich denke/sage/tue, vor mir selbst verantworten? Kann ich es vor meinem Gott verantworten? Es ist dies die eigentliche und wirklich größte Herausforderung, die Gott uns gegeben hat. Dagegen nimmt sich das, was gemeinhin als „Djihad“ bezeichnet wird, nämlich die Vorantreibung der Ausbreitung des Islam, gering aus.
    Ein vor Gott guter Mensch zu sein lässt sich durchaus vereinbaren mit Freude und Lust am Leben, aber es bedarf einer sorgsamen inneren Führung, um nicht von einem Extrem ins andere zu geraten. Buddha war es, der den ganzen Weg gegangen ist. Weder im Überfluss noch in der Askese fand er Befreiung, sondern allein im Weg der Mitte.
    Die Philosophie des Buddhismus ist die perfekte Anleitung zur Benutzung des menschlichen Gehirns, um ein Leben in Freiheit und Würde zu führen. Ich wünschte, diese Erkenntnis würde Eingang finden in den Religionsunterricht an unseren Schulen.
    Ein Mensch, der die Wahrheit des Glaubens erkannt hat, ist Mouhanad Khorchide. Er lehrt islamische Theologie an der Universität Münster. Gäbe es mehr Männer wie ihn, wäre diese Welt ein ganzes Stück besser, da bin ich sicher.

    Herzliche Grüße nach Berlin, Anja

  9. Ein wundervoller Kommentar, Anja!

    Dem kann ich mich voll und ganz anschließen – nur leider ist der Weg der Mystiker/innen nicht wirklich massenkompatibel. Sonst sähe die Welt heute anders aus…

  10. Danke, Claudia! Ja, die Welt sähe anders aus.

    Ich habe über Amar und SEINE Welt noch ein bisschen nachgedacht. Ich denke, dass er den leichten, da: passiven Weg gewählt hat. Passiv hat er sich zunächst seiner Sucht ergeben und passiv übernahm er anschließend die Regeln der Glaubensgemeinschaft. Der aktive Weg hätte ihn möglicherweise auch zu Gott geführt, aber zu einem anderen. Was heisst in diesem Zusammenhang aktiv?
    Dass Amar sich seinem Schmerz bewusst gestellt hätte und nach einer selbstbestimmten Form gesucht hätte, damit umzugehen. Dies wäre z.B. in Form einer guten (!) Psychotherapie möglich gewesen. Vielleicht hätte er sich auch mit den „12 Schritten“ der Anonymen Alkoholiker beschäftigt und hätte so in die Freiheit gefunden. Denn seine Freiheit hat er durch den Weg, den er stattdessen gegangen ist, verloren. Armer Amar.