Angeregt durch die Debatte um Lanier hab ich mich getraut, mal nachzulesen, was ich selbst DAMALS in der Zeit der ersten Internet-Euphorie, während dieses „kurzen Sommers der Anarchie im Netz“ so zum Thema verzapfte. Das „bloggen“ entlang am bloßen Datum und der veröffentlichenden Person war noch nicht erfunden. Man baute noch „Homepages“ oder Webprojekte, Themenseiten – jeder Impuls, auf irgend eine Art die eigenen Gedanken mit der Welt zu teilen, erforderte auch Auseinandersetzung mit der Technik, designerische Entscheidungen – es gab noch keine „Sehgewohnheiten“ im Web.
Was ich fand, ist ein Steinbruch, den ich nun einfach mal als Schreibimpuls nutze. Z.B. dieser Text zum Thema
Frieden unter den Menschen ?
als eines von mehreren Unterthemen in einem langen Artikel names „Cyberspace – Zwischenbilanz einer Utopie“. Ging so:
Wer damit anfängt, E-Mail-Kontakte zu knüpfen, wer eine Homepage im Web aufbaut und ein wenig am sozialen Leben im Cyberspace teilnimmt, wundert sich über die betonte Freundlichkeit, die positiv gehaltenen Botschaften, das freigiebig gespendete Lob, das von völlig fremden Menschen über den Newcomer hereinbricht.
Was ist das? Wir sind es doch eher gewohnt, mit der Miesepetrigkeit, den agressiven und depressiven Stimmungen, den Ängsten und Unzufriedenheiten der Mitmenschen konfrontiert zu werden – zumindest im Alltag, jenseits einer „schützenden Umgebung“.
Der technisch gestützte Friede der Cyber-Kommunikation verdankt sich der Tatsache, daß der Löschknopf nah ist: Wenn mir etwas nicht gefällt, befördere ich es mit einem Klick ins Nichtmehrda und diese Möglichkeit ist allen, wenn auch nicht immer bewußt, so doch aus eigener Erfahrung präsent. Jeder verfügt über dasselbe effektive virtuelle ‚Vernichtungspotential‘ – und so bemüht man sich, nett zueinander zu sein.
Natürlich gilt das nur, wo Kontakt ernsthaft gewünscht wird (auf anderen Ebenen, z.B. in manchen „Newsgroups“, brechen schon mal die berüchtigten FLAME-WARS aus, wüste Beschimpfungen, Fäkalsprache, die manchmal dazu führen, daß alle „Gutwilligen“ den Ort des Geschehens verlassen und sich an einem anderen Fleck wieder neu zusammenfinden – oder auch nicht).
Trotz der normalerweise beabsichtigten Friedlichkeit, die so lange ernst gemeint ist, wie es um nichts geht, birgt der E-Mail-Kontakt unzählige Möglichkeiten des Mißverständnisses. Ohne es zu wollen, trete ich immer wieder Leuten auf irgendeinen Schlips – wie das? Hier zeigt sich die Folge der aufs rein mentale begrenzten Kommunikation: der andere sieht meine Stimmung nicht, keine Mimik, keine Gestik. Also hängt es wesentlich vom Empfänger ab, wie er meine Botschaft versteht. Vielleicht versteht er meine Frage: „Wann bist Du fertig mit deinem Projekt X?“ als heftigen Vorwurf, je nachdem, wie er selbst gerade mit sich im reinen oder eben unreinen ist. So werden die Empfehlungen der Selbsterkenntnis-Übungen zum notwendigen Rüstzeug im Cyber-Alltag: Hege keine Erwartungen, mache Dir kein Bild, sei Dir zumindest Deiner Vorurteile bewußt!
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der Text muss 1996#97 entstanden sein. Datum war damals noch nicht üblich…
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44 Kommentare zu „Netzutopie „Frieden unter den Menschen““.