Angesichts mancher gesellschaftlicher Entwicklungen bin ich ganz froh, nicht „ewig“ zu leben. Schließlich macht es irgendwann keine Freude mehr, nurmehr Menschen von einem „neueren Typus“ vorzufinden, deren Blick auf das Leben und was man damit anfangen könnte, ein ganz anderer ist. Deren Selbstverständnis nicht mehr von innen, aus der Intuition, den Gefühlen, den Verkettungen und Prägungen individueller Lebenserfahrung im Unbewussten entsteht, sondern über technische Geräte und durch Bewertungen eines Publikums zustande kommt.
Die Frage „wer bin ich?“ werden sich diese Post-Humanen nicht mehr stellen, sondern die Antworten „in Echtzeit“ von Geräten ablesen, die über den eigenen Status informieren – über die gesellschaftliche Akzeptanz bei den jeweils relevanten Gruppen, die aktuelle Performance auf unterschiedlichen Leistungsfeldern bis in die Details der eigenen Körperlichkeit hinein. Angereichert mit einer Menge hilfreicher Anweisungen, wie das so festgestellte Selbst in allen erdenklichen Formen zu optimieren sei.
Zum Erscheinen der neuen iWatch von Apple, die einen weiteren Pflock in Sachen Selbstüberwachung einschlägt, schreibt „Time“, man werde mit ihr „slightly posthuman“ und fragt dann:
Was könnte dieses „post-human“ bedeuten? Das Paradoxe an so einem tragbaren Gerät ist, dass es zur gleichen Zeit sowohl Kontrolle gibt und nimmt. Etwa die Fitness-Anwendungen der Uhr: Sie erfasst alle Daten, die Ihr Körper erzeugt, Ihr Herz, ihre Aktivität und so weiter. Sie sammelt und speichert die Daten und gibt sie Ihnen in einer Form, die Sie verwenden können. Wenn erst die Entwickler-Community dafür Apps entwickelt, ist gar nicht mehr abzusehen, was sie sonst noch alles sammeln wird. Das wird Ihre Erfahrung des Körpers verändern. Nicht zu wissen, wie spät es ist, erscheint seit Erfindung der Armbanduhr absurd. In fünf Jahren könnte es absurd wirken, nicht zu wissen, wie viele Kalorien Sie heute verspeist haben oder die eigene Ruhe-Herzfrequenz nicht zu kennen.
Aber Wearables fordern auch die Aufgabe von Kontrolle. Das Telefon wird Ihnen sagen, was Sie essen sollten und was nicht und wie weit Sie laufen sollten. Es wird sich zwischen Sie und Ihren Körper drängelnd und ihre Beziehung zum ihm vermitteln. Wearables werden Ihr körperliches Selbst in Form von Informationen, in Gestalt eines unauslöschlichen digitalen Körper-Abdrucks in der virtuellen Welt sichtbar machen. Diese Information wird sich verhalten wie jede andere Information sich dieser Tage verhält. Sie wird kopiert und weiterverbreitet werden, sie geht an Orte, die Sie nicht erwarten. Die Menschen werden diese Informationen verwenden, um Sie zu tracken und zu vermarkten. Sie wird gekauft, verkauft und geleakt werden – stellen Sie sich ein Daten-Leck vor ähnlich dem letzten iCloud-Leck, jedoch mit Apple-Uhr-Daten anstelle nackter Selfies!
– (via MartinGiesler, übersetzt von Google und mir)
Jonny Häusler schreibt auf Spreeblick dazu: „Pulsschläge und Mini-Scribbles statt SMS werden Menschen auf eine neue Art kommunizieren lassen. Meine Prognose: Wir werden die Dinger lieben, Stars und Sternchen werden nicht mehr ohne gehen.“ Und regt sich ansonsten nur über die „Grenzüberschreitung“ auf, die Apple begehe, indem ein kostenloses Album der Gruppe U2 „automatisch“ auf die iWatches der Kunden gespielt werde.
Nur ein irrelevantes Gadget mehr?
Das könnte man denken, umso mehr, als die iWatch erstmal nur mit einem iPhone funktionieren soll. Aber mir geht es gar nicht speziell um diese „Mehr-als-Uhr“, sondern um den gesamten Trend in Richtung totaler Überwachung. Wir regen uns seit Snowden über die bekannt gewordene Abschnorchelei von allem und jedem durch die Geheimdienste auf, auch das User-Tracking, der Datenhandel, das punktgenaue Marketing ist vielen ein Dorn in Auge. Kaum problematisiert wird jedoch das eigene Verlangen nach Überwachung – nach Selbstüberwachung ebenso wie nach Überwachung Anderer.
- Die „Fitness-Anwendungen“ werden ja lange schon genutzt, man traut nicht mehr dem eigenen Gespür und Befinden, sondern erhebt Daten und gibt diese in ein Programm ein, das die eigene Leistung bewertet. Und teilt sie auch schon mal mit Anderen in irgendwelchen Fitness-Communities.
- Hunger kennen wir nicht mehr und dem eigenen Appetit vertrauen wir nicht. Statt dessen soll man genau festhalten, was, wieviel und wann man isst. Dabei auf „ausgewogene Nährstoffzufuhr“, wichtige Spurenelemente und einen ausgeglichenen Säure-Basen-Haushalt achten. Und weil das niemand perfekt schafft, helfen Analyseprogramme, und Nahrungsergänzungsmittel sollen alle Stoffe zuführen, die dem „Reagenzglas Mensch“ evtl. doch noch fehlen könnten.
- Eine Frau, die schwanger wird, ist heute nicht mehr „guter Hoffnung“, sondern wird durch vielerlei Untersuchungen genauestens überwacht. Um auch nichts zu verpassen, hilft der „Vorsorgeplaner“. Daneben liest sie einen Stapel Bücher, besucht Kurse und bekommt unverlangt Tipps oder gar empörte Blicke, wenn sie sich nicht so verhält, wie es Dritte von einer Schwangeren erwarten.
- Kinder haben heute praktisch keine unüberwachten Freiräume mehr. Sogar zur Schule werden sie gefahren und wieder abgeholt, was mancherorts zum Problem wird.
- Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – das scheint in modernen Beziehungen tatsächlich ein Feld der Auseinandersetzung zu sein. Im Web kursieren Tipps, wie man das Handy des Partners manipulieren kann, um fortan die totale Kontrolle über dessen Aufenthalt und Kommunikation zu haben. Zumindest der Blick auf die Anrufliste in unbeobachteten Momenten scheint keine Seltenheit zu sein.
- Überwachungskameras sind gesellschaftlich weitgehend akzeptiert, der private Einsatz boomt. Es gibt sie jetzt bei LIDL und sie sind schnell ausverkauft.
- Überwachungsszenarios sind erfolgreiche TV-Formate: Wer zahlt, darf bei Events wie „PromiBigBrother“ rund um die Uhr die Leute beobachten, die – hoffentlich! – ihr Beobachtet-werden im Lauf der Zeit vergessen.
Ich könnte noch mehr Beispiele bringen, belasse es aber dabei. Was wir erleben, ist nicht nur der Verlust von Privatsphäre, sondern der Verlust dessen, was dieses „Private“ einmal meinte. Messen und Sichten, speichern und analysieren wird auch der normale Umgang „mit sich selbst“ werden. Befindlichkeiten, Bewegungen, Verhalten und Kommunikation – alles wird zu Daten, die von Programmen aufbereitet und jenen zur Verfügung gestellt werden, die Zugang dazu haben oder ihn sich erschleichen. SICHERHEIT ist „Supergrundrecht“ – nicht weil ein Minister das sagt, sondern weil sie für viele zum obersten Wert geworden ist.
Denn all das passiert nicht, weil eine böse Herrscher-Riege uns das auferlegt oder die Werbung es aufzwingt, sondern weil es die Menschen mehrheitlich so wollen. Die Unsicherheit einer eigenen Einschätzung mag man nicht mehr aushalten, nicht in Bezug auf sich selbst, nicht auf die Mitmenschen und nicht aufs große „Draußen“ in der Welt. Zu einer eigenen Meinung fühlt man sich erst dann wirklich berechtigt, wenn sie von Experten bestätigt und mit Studien belegt ist. Was im Gange ist, ist die totale Verkopfung des Menschen, der Siegeszug des „rechnenden Denkens, das alles zum Bestand stellt“. So etwas wie ein Subjekt als „das sich selbst gewisse und sich selbst bestimmende Ich-Bewusstsein“ bleibt da nirgends mehr übrig. Man ist höchstens noch zu wenig analysiert und diagnostiziert – und entsprechend „verunsichert“ über den eigenen jeweiligen Status.
***
So angeln wir nun also mit blechernen Schiebern im Brötchenknast mit Zurücklege-Hindernis nach dem täglichen Brot, das ganz SICHER niemand zuvor berührt hat (es wäre sonst Müll). Doch so sehr wir uns auch absichern und alles überwachen: eines Tages sind wir trotzdem tot. Glücklich jene, die zuvor über alledem nicht vergessen haben zu leben.
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13 Kommentare zu „Mega-Trend: Überwachung statt Selbstvertrauen“.