Draußen dröhnt ein Preßlufthammer. Wieder reissen Arbeiter das Pflaster auf, das gerade mal ein paar Wochen seit der letzten Baustelle hinter sich gebracht hat. Zwar nehme ich den Lärm wahr, wenn ich einen Eindruck meiner Umwelt aufschreiben will, doch im Grunde berührt er mich nicht. Seit der Rückkehr aus Mecklenburg im Mai 2001, dem Land der großen Stille und Weite, ist diese Veränderung erstaunlich stabil: Lärm geht einfach durch mich hindurch, da ist nichts mehr, dass sich dagegen sträubt und sagt: Was für eine rücksichtlose Schweinerei! Wie soll ich da bloß arbeiten?
Die eingetretene Veränderung hab‘ ich nicht „gemacht“, beabsichtigt, gewünscht oder gar herbei geübt. Es war auf einmal so, ohne dass ich es auch nur bemerkte. üblicherweise nimmt das Bewußtsein die Abwesenheit eines Ärgers ja gerade NICHT wahr. Erst duch die Beschwerden meines Lebensgefährten ist mir dann aufgefallen: wo ist eigentlich MEIN „Leiden am Lärm“ hin gekommen?
Und hier ist sie nun, die Wegscheide: Soll ich jetzt etwa danach SUCHEN? Soll ich „in mich gehen“ bis ich das verlorene Leiden wieder finde? Soll ich in die hinterletzten Winkel meiner Psyche schauen, ob nicht vielleicht eine bloße VERDRÄNGUNG vorliegt oder ob ich mir das nur EINBILDE? Ob also mein Eindruck des Nicht-vom-Lärm-Betroffen-Seins vielleicht nur Illusion, Selbstbetrug und Heuchelei ist???
Habe ich nicht die Pflicht zu solcher Suche, wenn mir Wahrheit etwas bedeutet? Jahrzehntelang dachte ich so, suchte also ständig nach Unter- und Hintergründen und fand auch immer genug: unter der Oberfläche des alltäglichen So-Seins (meines, deines, unser aller…) liegt eine unerschöpfliche Mine, man kann bis in alle Ewigkeit Gold und Scheiße finden, alles Gefundene mit Staunen betrachten, es gar ausstellen – und dann?
Wer solche Erkundungen niemals angestellt hat, ist gut beraten, bei der näheren Untersuchung eines Leids nicht nur im Äußeren nach den Ursachen zu forschen, keine Frage! Diese Denkweise kann sich allerdings – auf Dauer gestellt – verselbständigen: das beobachtenden Hinterfragen wird zum Selbstzweck und raubt die Kraft und den Willen zum Handeln in der Welt. Sie wird grau und wüstenhaft, ihre Blumen verdorren, ihre Düfte verschwinden und verlieren alle Lockungen, ihre ureigenen Schönheiten verkommen zu weniger als Nichts, zur bloßen Spiegelung eines Ich, das nichts mehr außer sich selbst für wahr und betrachtenswert hält: verliebt in sein Elend weint Narziss seine Tränen am Rand des Brunnens der Wirklichkeit, spiegelt sich darin und seufzt: All das bin ICH!
Wer zur Welt und zu sich selbst immer schon eine negative Einstellung pflegt, wird kein Problem damit haben, in dieser Lebenshaltung bis zum Ende aller Tage zu verharren. Schließlich ist die Welt voller Schrecken und Ungerechtigkeit, ist Fressen und Gefressen werden, ist Kampfzone, vor der uns auch der Sozialstaat nicht mehr wirklich retten kann, wie wir derzeit zur Kenntnis nehmen müssen. Was stünde dem Geistesmenschen besser an als ein Leben im Modus der Klage und Anklage?
Hier müssen wir jeder für sich die je eigene Antwort finden und entscheiden, ob wir unser Glück oder unser Elend schmieden wollen – und damit letztlich auch das „der Welt“. Persönlich ziehe ich das Erstere vor, denn ich habe etwas bemerkt, das ich nicht mehr ignorieren kann: Ich FINDE de Wahrheit nicht nur vor, ich SCHAFFE sie auch! Je leerer ich bin, desto besser sehe ich: schon die geringste Erwartung eines bestimmten innerpsychischen Fakts kann diesen Fakt von der bisher nur gedachten Möglichkeit in die folgenreiche Wirklichkeit katapultieren. (Ein Phänomen, das nicht nur erkannt werden, sondern – es liegt auf der Hand! – auch ANGEWENDET werden kann.)
Wohlgemerkt, ich sage nicht, dass ich die Wirklichkeit NUR schaffe und dass es gar nichts zu finden gäbe! Nach meiner Erfahrung gibt es beides, aber in einem von mir letztlich nicht vollständig analysierbaren Geflecht – wer kann schon sagen, wo „ich“ endet und „Welt“ anfängt??? Im Grunde ist alles Teil der Oberfläche des einen Seins – um es mal ein bißchen mystisch auszuzdrücken. Wie weit „meine“ Wirkungen reichen, kann ich nur von Fall zu Fall ausprobieren – nicht ein für alle Mal erforschen, in Gesetze fassen und mich dann darauf verlassen.
Genau das werde ich jetzt bewußter tun! Nichts macht tatsächlich mehr Freude, als sich ganz in etwas hinein zu geben, von Augenblick zu Augenblick den Impulsen zu folgen und dann zu sehen, was kommt, was ES GIBT. Lass die Füße entscheiden, wohin du gehst, sagt ein alter Weisheitsspruch – in diesem Sinne ist auch der Geist nichts anderes als Fuß: ist er in Erwartung einer Katastrophe, wird sich alles zur Ver-wirklichung der Katastrophe verdichten, ist er in Angst, werden immer neue Monster sich zeigen. Gibt er sich dem Haß und dem Ressentiment hin, werden „die Anderen“ immer feindlich wirken und niemals Freunde sein. Erwartet er jedoch das Glück, das Wunderbare, das Abenteuerliche, und ist voller Freude und Zuversicht, dann können auch die hellen Seiten zur Wirkung kommen, indem sie von der Möglichkeit in die Wirklichkeit umschlagen.
Grübeln und Herumrechten, Bedenken tragen und ohne Ende Motive hinterfragen, mit vorgestanzten Wirkungen rechnen und Absicherungen gegen alle denkbaren Unwägbarkeiten anstreben – all das ist der Grauschleier über dem Leben, ist die selbst gebaute Käfiglandschaft, in der wir (ich, du und alle, die das allzu gern so machen!) dann jammernd auf nicht allzu hohen Stangen sitzen und die Krätze kriegen.
Anstatt zu sehen, dass die Tore immer offen stehen und zu fliegen.
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