In Berlin ist die Abstimmung über den neuen Bahnhof verlängert worden: „Zentralbahnhof“, „Berlin Mitte“ oder „Lehrter Bahnhof“ stehen zur Wahl. Der alte Bahnhof an gleicher Stelle hieß immer schon Lehrter Bahnhof – und soweit ich das beobachte, meint eine große Mehrzahl der Berliner, das solle auch so bleiben.. Die Lehrter natürlich auch. Das neue, durchaus attraktive Ungetüm aus Stahl und Glas soll allerdings nach dem Willen der Politiker einen „wichtigeren“ Namen bekommen – was ist schon Lehrte? Ein kleiner Ort in der Nähe von Hannover.
Es kann trotzdem gut sein, dass „Lehrter Bahnhof“ die Abstimmung gewinnt. Schließlich ist sie allein deshalb verlängert worden, weil dieser alte Name bisher in Führung liegt, zum Ärger des Stadtentwicklungssenators. Vielleicht mobilisieren jetzt beide Seiten mehr Postkartenschreiber – ich glaube, der „Lehrter“ wird bleiben, zumindest als Name.
Warum sind die Berliner nur so sperrig? Ist es nicht einsehbar, dass für so ein völlig neu in die neue Mitte Berlins gesetzes neues Bahnhofsgebäude auch ein neuer Name her muß? Ich glaube, der Kampf für den „Lehrter Bahnhof“ ist eine Demonstration, Ausdruck einer Verärgerung, die ungefähr sagen will: Könnt Ihr nicht wenigstens diese paar Buchstaben so lassen, wie sie sind? Die ganze Mitte ist neu, in der Luisenstadt findet man sich nicht mehr durch, die jahrzehntelangen Baustellen werden als „Schaustelle“ ins Kulturleben integriert – es ist einfach verdammt anstrengend, wenn man hier wohnt. Warum zusätzlich noch neue Namen lernen?
Neues strengt an, Neues tut weh, aber ohne Veränderungen langweilen wir uns zu Tode. Leben ist alles andere als vernünftig und wenn ich heute eine Rede gegen die Kreativität halte, einen der antriebe für Veränderung, so fühl‘ ich mich wenige Tage später eher zu einem Loblied aufgelegt, ja, denke womöglich: es geht schon verdammt langsam und allzu gemütlich voran in deutschen Landen!
Ersticken wir nicht unter allzu vielen Vorschriften? Hat nicht jede Interessengruppe ihren Way of Life & Making Money abgesichert bis zum geht nicht mehr? Ist nicht die Krise, die die Arbeitslosenzahlen ins Astronomische treibt, in vieler Hinsicht eine Folge von Verweigerungshaltungen? Ich spreche nicht von schlecht oder gar nicht ausgebildeten Arbeitslosen, die man für schlecht bezahlte Jobs künftig ans andere Ende der Republik hetzen will! – sondern von der Unbeweglichkeit derjenigen, denen es eigentlich ganz gut geht. Man denke nur als Beispiel an die Apotheker, wie sie gleich einen Aufstand inszenieren, weil in ihrem Sektor der Versandhandel zugelassen werden soll. Oder an die Tastsache, dass hierzulande einer, der eine Festplatte ersetzt, einen Meisterbrief braucht.
Im wilden F’Hain
Ich mach‘ lieber nicht weiter mit solchen Beispielen, das kann man schließlich alles in den Zeitungen lesen. Nicht dort zu lesen ist, dass die Lebendigkeit des Stadtteils, in dem ich lebe, zum großen Teil davon herrührt, dass sich Menschen kreativ über Vorschriften hinweg setzen – junge zumeist, aber auch ein paar Ältere, die extra „zugewandert“ sind. Neues macht Freude, Neues tut gut! Zwischen den Gründerzeitfassaden von Berlin Friedrichshain gibt es jede Menge Neues: selbst zusammen geschweißte Balkone, die die Welt noch nicht gesehen hat, Läden, die bis ein Uhr Nachts geöffnet haben, denn sie sind ja auch ein „Imbiß“, ein ehemaliges Reichsbahnausbesserungswerk, das jetzt als RAW-Tempel vielen Künstlern und Bastlern riesige Freiräume bietet: viel viel Platz, ungeregelt, ungestaltet, unbeaufsichtigt – und natürlich die Szene-Kiez-übliche Fassadengestaltung, meist recht öde Grafitti, die ich mich nicht scheue, Schmierereien zu nennen, aber auch wundervoll bemalte Fassaden, geheimnisvolle Schablonen-Sprühereien auf den Fußwegen, unglaublich verrückte Läden und auch die Leute selber sehen nicht unbedingt stromlinienförmig aus, manche sind echte Hingucker!
Abends sammeln sich Menschen wie Schwalben auf den Stahlkonstruktionen der noch im Bau befindlichen Modersohnbrücke (verboten!). Von da aus hat man einen weiten Blick über ein schier unendliches Gewirr aus S- und Fernbahn-Geleisen, dahinter die in dramatische Sonnenuntergangsbeleuchtung getauchte Skyline des neuen Berlins, Oberbaumbrücke, Funkturm, Alexander Platz. Wunderschön! Nach zwei Jahren Mecklenburg wäre es für mich schwer gewesen, in einem Häusermeer ohne Ausblick zu leben, immer nur an die Wand gegenüber starrend. Hier werde ich aufs Beste mit „offener Weite“ bedient, aber nicht genug: ein paar Schritte noch und bin ich an der Spree, muss also nicht mal Wasserlandschaften entbehren.
Erstarren ist so leicht
Jetzt bin ich ins Schwärmen gekommen und weg von meinem Thema, den Leiden und Freuden der Veränderung. Nochmal dahin zurück: Seit zwei Wochen mach‘ ich Telefondienst im Verein der Freunde alter Menschen, telefoniere Montags mit Menschen jenseits der Verfassung, in der man sie „rüstige Senioren“ nennt. Mir fällt dabei auf, wie unglaublich lang einige in ihren Wohnungen leben! Eine 75-Jährige erzählt mir, sie lebe in der „elterlichen Wohnung“, eine andere wohnt in einem „Neubau“ von 1961, wo sie zu den ersten Mietern gehörte. Unglaublich, dieses selbstverständliche Beharren auf dem, was man hat, was man kennt, wo man immer schon ist – ein Verhalten, das zur heutigen Zeit nicht mehr paßt und das auch vielen alten zum Verhängnis wird: sie leiden unendlich, wenn sie – warum auch immer – aus ihren gewohnten Umgebungen gerissen werden.
Viele können irgendwann nicht mehr laufen, für sie wird ihre Wohnung im Berliner Altbau zur Falle, die sie praktisch niemals mehr verlassen. Sie werden dort, solange es geht, gepflegt, und daneben steht jede zweite Erdgeschoßwohnung im selben Stadtteil leer. Würde man als alter Mensch rechtzeitig der Erde näher kommen, dafür auch Umzug und Veränderungen in Kauf nehmen, könnte man sich sehr viel besser die Restbeweglichkeit erhalten, sich länger selber versorgen und sogar noch am öffentlichen Leben teilnehmen. Warum ist das nicht so? Weil die, die HEUTE so alt sind, Veränderungen vermieden haben! Weil sie erstarrt sind, weil sie ganz selbstverständlich ihre Eigenheiten immer eigener haben werden lassen, sich selbst nicht in Frage stellend.
Recht haben – sofern es das überhaupt gibt – wird mit zunehmendem Alter unwichtiger, das ist mein Fazit. Denn auf Recht haben (zum Beispiel mit einer Klage, einer Kritik, einer Polemik etc., aber auch im Sinne „ein Recht haben auf…“) folgt SO-Bleiben, folgt Beharren und Erstarren, folgt der Verlust der Fähigkeit, mit Neuem innerlich zurecht zu kommen – und deshalb sehen viele Alte so verbittert aus. Und das bei einem Rentensystem, das diejenigen, die heute alt sind, doch noch ganz gut bedient!
WIR werden es weniger gut haben! Bleiben wir also biegsam, rasten wir besser nicht ein auf EINE Sicht der Dinge, üben wir Körper und Geist im kreativen Umgang mit Veränderung – wenn nicht’s anderes übrig bleibt, ist es immer besser, man hat Spaß an dem, was ist.
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