Claudia am 05. Mai 2006 —

Über Krankheit schreiben?

Es ist kurz nach elf, ich sollte schon im Bett sein, um vor dem Aufstehen um halb fünf noch ein bisschen Schlaf mitzunehmen. Gegen neun werde ich schon in Wiesbaden sein, bei meiner Mutter, deren letzte Krankheit sich gerade bedrohlich entwickelt. Seit ich das weiß, empfinde ich die eigene Hinfälligkeit in neuer Schärfe: Selten hab’ ich so oft daran gedacht, dass alles sehr schnell vorbei sein kann, was heute noch wichtig erscheint. Ich schaue in den Spiegel und sehe, wie ähnlich ich doch meiner Mutter bin: das Gesicht, dieselbe Mimik und manche Gestik – und auch dasselbe burschikose Verhalten gegenüber dem eigenen Leiden, in welcher Form auch immer es sich gerade zeigt: Bloß nicht jammern, nicht die Laune verderben lassen, nicht zum Arzt gehen, einfach ignorieren – SIE würde das wohl am Liebsten konsequent durchziehen, doch ist das nicht eben einfach, wenn man auf Angehörige angewiesen ist.

Ich will nicht von meiner Mutter schreiben, sondern bei mir bleiben, wie meistens in diesem Diary. Aber was heißt das für die Zukunft, für die Themen, die ich hier bespreche? Im Sommer werde ich 52 und körperlich bin ich nicht besonders fit. Allerlei chronisch gewordene Beschwerden, mit denen ich (noch) ganz gut lebe, böten jede für sich Stoff genug, um eine „Rubrik“ aufzumachen. Einmal hab ich meine Enthaltung bezüglich „kranker Themen“ durchbrochen und vom „Tietze-Syndrom“ erzählt, das mich seit mindestens zehn Jahren plagt (ein „entzündetes Gefühl“ in der Zwischenrippenmuskulatur nahe dem Brustbein, manchmal fühlt es sich nach einer Schwellung an, dann wieder ist da nichts zu tasten – wie eine alte, schlecht verheilte Narbe). Prompt kommen Leser bis zum heutigen Tag mit dem Suchwort „Tietze-Syndrom“ auf diese Seiten, obwohl der Artikel dazu schon ein paar Jahre alt ist. Zusammen mit „Porno für Frauen“, „Bondage-Geschichten“ und „Sinn des Lebens“ gehört es zu den großen vier „herführenden Begriffen“, obwohl der Stellenwert des Themas im Blick aufs Ganze nahe null geht. Würde ich anfangen, über all meine Zipperlein zu schreiben, hätte ich bald jede Menge Leidende auf Recherche hier – will ich das?

Schreiben ist Leben

Wer liest, was ich schreibe, ist im Grunde nicht wichtig. Ich frage mich, was mein eigenes Interesse ist: Will ich die in Zukunft vermutlich stärker und leidvoller werdenden Verfallserscheinungen hier überhaupt thematisieren? Das persönliche Schreiben ist mir in Fleisch und Blut über gegangen, doch ist mir dabei immer klar, dass ich nicht nur berichte, sondern schreibend meine Haltung zu den Dingen finde bzw. bekräftige. Und meine Haltung zum physischen Leiden ist eben eine Art mutwillige Ignoranz – genau wie ich sie jetzt so deutlich bei meiner Mutter sehe! Die gar nicht so bewusst gewählte Theorie dahinter geht so: zwar nimmt das Leiden mit zunehmendem Alter zu, doch kann ich wählen, womit ich mich identifiziere: Wenn ich mich damit befasse, meine diversen Beschwerden beforsche, Ärzte aufsuche, den Medizinmoloch erlebe, eine Patientenkarriere starte, dann bin ich selber schuld, wenn es mir auch psychisch immer schlechter geht. Warum nicht bis zum unausweichlichen Ende die Konzentration einzig darauf legen, was noch geht, was noch gut ist und Freude macht? Irgendwann wird es nur noch die Freude über den nächsten Atemzug sein, aber das ist nun mal der Lauf der Dinge. Warum ein Aufhebens davon machen und im Elend schwelgen?

Alte Menschen, die nur noch über die Details ihrer Krankengeschichte sprechen, waren mir immer schon ein Graus: die letzten Untersuchungen, die aktuellen „Werte“, die umfangreiche Medikamentierung, mit denen sie „eingestellt“ werden – muss mich das auch erwischen? Soll ich dem noch Vorschub leisten, indem ich mich über Tietze-Syndrom, Mausarm, Nervenschäden, Knieschmerzen, schwindende Sehkraft und Raucherbeschwerden verbreite? Kommt nicht in die Tüte, dachte ich bis jetzt, wer wird denn dem Teufel noch Zucker geben?

Angesichts des Besuchs bei meiner Mutter fühle ich mich aufgestört: wie werde ich mit dem eigenen Leiden umgehen, wenn das alles einmal heftiger, gar lebensbedrohlich wird? Werde ich verstummen und übers schöne Wetter schreiben, weil der restliche persönliche Kosmos ganz vom Leiden ausgefüllt ist, dem ich nicht schreibend noch mentale Fütterung gönnen will???

Auch der Aspekt der Eitelkeit schwingt da natürlich mit: mal angenommen, ich bekäme morgen meine Krebsdiagnose und würde darüber schreiben. Ab sofort wär ich nicht mehr Claudia, Webworkerin und Internet-Urgestein, sondern die mit dem Krebs. Das würde mir gewaltig auf den Geist gehen, denn natürlich wäre ich AUCH noch die, die ich immer war – oder etwa nicht??

Ich weiß nicht, was sein wird, noch nicht. In wenigen Stunden sitze ich im Flieger und fürchte mich kein bisschen davor. Von der Flugangst bin ich offenbar geheilt – womit dieser Artikel immerhin ein positives Ende bekommt.

Update: 6.2.2016: Zwischenzeitlich hab ich über „Uveitis“ und „allergischer Schnupfen“ geschrieben – und nun gehören schon seit Jahren diese beiden Themen sehr prominent und nachhaltig zu den „herführenden Begriffen“. (Der Schnupfen hat mich zum Glück verlassen und die Uveitis hab ich im mit ganz wenigen Cortison-Tropfen im Griff)

***

Aus dem Jahr 2005:
Angst vorm Fliegen II
Alt werden und sterben

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Diskussion

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6 Kommentare zu „Über Krankheit schreiben?“.

  1. Zeit, eine Generation ersetzt die nächste;
    der Pakt zum überleben gilt: was jung war wird
    alt und Neue folgen.

    Ich bin bald fünfzig, werde von allem verfolgt
    was sich Verfolger schimpft und lebe noch.

    Hannibal zog mit Elefanten über die Alpen,
    Ziel Rom, Nieder mit den Tyrannen!

    Heutzutage sind wir etwas zivilisierter,
    meine persönlichen Tyrannen sind nicht mit
    Elefanten zu bekämpfen, eher Nadel-, Mückenstiche
    sind heute die Wahl.

    ein Sandkorn im Getriebe der Herrschenden ist
    gezielte, permanente Sparsamkeit, erzwungen durch
    Unternehmenswillkür, Staatsarroganz und allgemeiner
    Preissteigerung (heute kostet ein 20ml Becher Kaffee
    das doppelte wie vor 5 Jahren, eine simple Bockwurst
    geht für 4 Euro über die Theke und keinen juckts.)

    Meine Nadelstichvariante geht so:
    Keine Lebensmittel mehr an Raststätten,
    Schluß mit belegten Brötchen, Schokoriegel etc.

    Bei einer Jahresfahrleistung von ca. 40. bis 50.000km
    verbrauchte ich mit einem Mittelklassewagen bislang
    ca. 8 Liter je 100Km: eine geänderte Fahrweise und ein geändertes Zeitmanagement drückt diese Kosten auf etwa
    zwei Drittel:

    konsequent mit hundert, keine unnötigen Überholmanöver,
    zweihundert nur wenns unbedingt sein muß;
    beim Starten des Motors kein Gas geben;
    unnötige Kilometer vermeiden.

    diese Änderung brachte mir beim letzten Tanken
    die Erkenntnis, dass ich mit dem selben Wagen
    anstatt wie üblich 560-600 Km satte 840 (achthundertvierzig!) weit gekommen bin.

    wenn ich das durchhalte und dieses Beispiel
    Schule machen sollte, kann sich der Bundesfinanzminister
    warm anziehen: ein Drittel weniger Steuereinnahmen
    durch Benzinpreiswucher! Ein Tyrann mehr dem
    sein Volk die Gefolgschaft aufkündigt.

    (in Zahlen: 50.000 km/jahr heisst normal:
    4.000 Liter Diesel (a.1.15€ = 4.600 Euro
    neue Variante=
    50.000Km/a 6 liter = 3.000 Liter Diesel
    (a.1.15€= 3.450 €uro)

    das sind in einem Jahr rund 1.150 Euro weniger
    für Papa Staat und Rom.

    wenn das jeder machen würde, (es ist machbar!)
    könnte man SIE in die Knie zwingen.
    und die Strassen wären sicherer, zu allem
    Überfluß auch noch weniger Unfälle, weniger
    Kosten fürs Krankenwesen, mehr Überlebende
    Steuerzahler.

    Hannibal kam über die Alpen.
    Ich komme über den Geldbeutel.

    :)

    grüsse nach wiesbaden und den Rest der Welt.

  2. anbei ein link,
    der leider das scheitern einer großen Idee
    beschreibt; allein: Hannibal war nicht der
    Schuldige, Haniball war ante Portas:)

  3. Hand halten wird wichtig sein!!!
    Gruß von Lu

  4. Hallo Claudia,

    bist du noch die Gleiche, wenn du krank bist? Ich habe dazu ein Gedicht gelesen (in der Zeitung), von einem mir bisher unbekannten: Istvan Eörsi heisst er, ist an Krebs gestorben und hat kurz vorher ein Gedicht geschrieben, das mit den Worten anfängt:
    Ich war gesund. Bin krank. Bin unverändert.
    Hat mir sehr gefallen, ich glaube, das drückt auch deinen Gedanken aus, oder?
    Und zum Rauchen…ich glaube, der Gedanke, den ganz viele Leute haben, dass man in seinem Leben eine „Balance“ machen muss / kann, ist falsch ;-) Dieses Schwanken zwischen sehr ungesund und gesund, sehr vernünftig und sehr unvernünftig – ich glaube, das IST die Balance, die sich selbst „macht“ (jedenfalls ist es bei mir so…wenn ich beginne zu denken, dass ich vernünftiger sein sollte, werde ich es auch bald und wenn mir das dann wieder langweilig wird, endet es auch bald – insgesamt ist das Leben dann recht ausgeglichen ;-)
    Ich wünsche dir, dass du deiner Mutter beistehen kannst, ganz praktisch.

    liebe Grüsse

    Caroline

  5. Hi Jürgen, Li, Caro,

    mal kurz von Wiesbaden aus hier reingeguckt: toll, kein Kommentarspam, sondern eure schönen Beiträge!! (Glückwunsch zur Kostensenkung, Jürgen – wenn das alle machen würden… ;-))

    Es ist immer alles anders, als man voraus denkt. Dem Sterben gegenüber gibt es offenbar doch Gelassenheit – und eher beiläufig lernte ich bei meiner Schwester Niquitin kennen und schätzen. Die Tabletten sind 1000 mal besser als Kaugummi und Pflaster – ein wirksames „Methadon-Programm“ für süchtige Raucher. Ich bin dabei.

    Grüße Euch

    Claudia

  6. hallo claudia. bin seit mai erstmals wieder online und lese deinen blog. zwei wochen nachdem du diesen artikel ins netz gestellt hast, bekam ich meine krebsdiagnose. ich bin fünfzig und war sehr fit und sportlich. nach mehreren operationen bin ich nun geheilt (eine operation muss ich noch im neuen jahr absolvieren – leider), aber ich fühle mich wie ein wrack. mein körper ist zerstört und meine kraft auch. ich finde nicht, dass man gleich bleibt. ich habe mich sehr verändert. ich bin ängstlich und schwach geworden. bisher hatte ich geglaubt, mit eisernem willen alles schaffen zu können. aber die unerträglichen schmerzen, die ich wochenlang erleiden musste, haben mich zermürbt und mir gezeigt, wie fragil der mensch ist. ich hoffe allerdings, dass ich diese schlimme zeit irgendwann vergessen kann und mich wieder aufrappele :-)

    lieber gruss
    claudia b.