Es ist kurz nach elf, ich sollte schon im Bett sein, um vor dem Aufstehen um halb fünf noch ein bisschen Schlaf mitzunehmen. Gegen neun werde ich schon in Wiesbaden sein, bei meiner Mutter, deren letzte Krankheit sich gerade bedrohlich entwickelt. Seit ich das weiß, empfinde ich die eigene Hinfälligkeit in neuer Schärfe: Selten hab’ ich so oft daran gedacht, dass alles sehr schnell vorbei sein kann, was heute noch wichtig erscheint. Ich schaue in den Spiegel und sehe, wie ähnlich ich doch meiner Mutter bin: das Gesicht, dieselbe Mimik und manche Gestik – und auch dasselbe burschikose Verhalten gegenüber dem eigenen Leiden, in welcher Form auch immer es sich gerade zeigt: Bloß nicht jammern, nicht die Laune verderben lassen, nicht zum Arzt gehen, einfach ignorieren – SIE würde das wohl am Liebsten konsequent durchziehen, doch ist das nicht eben einfach, wenn man auf Angehörige angewiesen ist.
Ich will nicht von meiner Mutter schreiben, sondern bei mir bleiben, wie meistens in diesem Diary. Aber was heißt das für die Zukunft, für die Themen, die ich hier bespreche? Im Sommer werde ich 52 und körperlich bin ich nicht besonders fit. Allerlei chronisch gewordene Beschwerden, mit denen ich (noch) ganz gut lebe, böten jede für sich Stoff genug, um eine „Rubrik“ aufzumachen. Einmal hab ich meine Enthaltung bezüglich „kranker Themen“ durchbrochen und vom „Tietze-Syndrom“ erzählt, das mich seit mindestens zehn Jahren plagt (ein „entzündetes Gefühl“ in der Zwischenrippenmuskulatur nahe dem Brustbein, manchmal fühlt es sich nach einer Schwellung an, dann wieder ist da nichts zu tasten – wie eine alte, schlecht verheilte Narbe). Prompt kommen Leser bis zum heutigen Tag mit dem Suchwort „Tietze-Syndrom“ auf diese Seiten, obwohl der Artikel dazu schon ein paar Jahre alt ist. Zusammen mit „Porno für Frauen“, „Bondage-Geschichten“ und „Sinn des Lebens“ gehört es zu den großen vier „herführenden Begriffen“, obwohl der Stellenwert des Themas im Blick aufs Ganze nahe null geht. Würde ich anfangen, über all meine Zipperlein zu schreiben, hätte ich bald jede Menge Leidende auf Recherche hier – will ich das?
Schreiben ist Leben
Wer liest, was ich schreibe, ist im Grunde nicht wichtig. Ich frage mich, was mein eigenes Interesse ist: Will ich die in Zukunft vermutlich stärker und leidvoller werdenden Verfallserscheinungen hier überhaupt thematisieren? Das persönliche Schreiben ist mir in Fleisch und Blut über gegangen, doch ist mir dabei immer klar, dass ich nicht nur berichte, sondern schreibend meine Haltung zu den Dingen finde bzw. bekräftige. Und meine Haltung zum physischen Leiden ist eben eine Art mutwillige Ignoranz – genau wie ich sie jetzt so deutlich bei meiner Mutter sehe! Die gar nicht so bewusst gewählte Theorie dahinter geht so: zwar nimmt das Leiden mit zunehmendem Alter zu, doch kann ich wählen, womit ich mich identifiziere: Wenn ich mich damit befasse, meine diversen Beschwerden beforsche, Ärzte aufsuche, den Medizinmoloch erlebe, eine Patientenkarriere starte, dann bin ich selber schuld, wenn es mir auch psychisch immer schlechter geht. Warum nicht bis zum unausweichlichen Ende die Konzentration einzig darauf legen, was noch geht, was noch gut ist und Freude macht? Irgendwann wird es nur noch die Freude über den nächsten Atemzug sein, aber das ist nun mal der Lauf der Dinge. Warum ein Aufhebens davon machen und im Elend schwelgen?
Alte Menschen, die nur noch über die Details ihrer Krankengeschichte sprechen, waren mir immer schon ein Graus: die letzten Untersuchungen, die aktuellen „Werte“, die umfangreiche Medikamentierung, mit denen sie „eingestellt“ werden – muss mich das auch erwischen? Soll ich dem noch Vorschub leisten, indem ich mich über Tietze-Syndrom, Mausarm, Nervenschäden, Knieschmerzen, schwindende Sehkraft und Raucherbeschwerden verbreite? Kommt nicht in die Tüte, dachte ich bis jetzt, wer wird denn dem Teufel noch Zucker geben?
Angesichts des Besuchs bei meiner Mutter fühle ich mich aufgestört: wie werde ich mit dem eigenen Leiden umgehen, wenn das alles einmal heftiger, gar lebensbedrohlich wird? Werde ich verstummen und übers schöne Wetter schreiben, weil der restliche persönliche Kosmos ganz vom Leiden ausgefüllt ist, dem ich nicht schreibend noch mentale Fütterung gönnen will???
Auch der Aspekt der Eitelkeit schwingt da natürlich mit: mal angenommen, ich bekäme morgen meine Krebsdiagnose und würde darüber schreiben. Ab sofort wär ich nicht mehr Claudia, Webworkerin und Internet-Urgestein, sondern die mit dem Krebs. Das würde mir gewaltig auf den Geist gehen, denn natürlich wäre ich AUCH noch die, die ich immer war – oder etwa nicht??
Ich weiß nicht, was sein wird, noch nicht. In wenigen Stunden sitze ich im Flieger und fürchte mich kein bisschen davor. Von der Flugangst bin ich offenbar geheilt – womit dieser Artikel immerhin ein positives Ende bekommt.
Update: 6.2.2016: Zwischenzeitlich hab ich über „Uveitis“ und „allergischer Schnupfen“ geschrieben – und nun gehören schon seit Jahren diese beiden Themen sehr prominent und nachhaltig zu den „herführenden Begriffen“. (Der Schnupfen hat mich zum Glück verlassen und die Uveitis hab ich im mit ganz wenigen Cortison-Tropfen im Griff)
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Aus dem Jahr 2005:
Angst vorm Fliegen II
Alt werden und sterben
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6 Kommentare zu „Über Krankheit schreiben?“.