Jeden Morgen geht nun der Versuch weiter, eine andere Surfkultur zu praktizieren: vor allem Blogs statt News zu lesen und mich nicht in den Strudel der „Aufreger“, erst recht nicht in den Sumpf der Hass-Kommentariate ziehen zu lassen. Dabei will ich diese Blogs nicht nur kurz konsumieren, sondern die Menschen wirklich wahrnehmen, kommentieren oder auf andere Art in Resonanz gehen.
Heute hab‘ ich mich also auf „Geist und Gegenwart“ festgelesen – und zwar auf einem ÄLTEREN ARTIKEL vom Oktober, weil meine „Blogbibliothek“ seltsamerweise diesen Beitrag als „Neuesten“ anzeigt (warum, muss ich erst noch rausfinden). Egal, der Beitrag ist ziemlich zeitlos, geht es doch um „10 Gründe, warum Facebook schlecht für uns ist“.
Gilbert Dietrich zählt dort alle Punkte auf, die man Facebook vorwerfen kann, aber auch der „Nutzerschaft“, die sich so bereitwillig im Zuckerberg-Universum festhalten lässt. Dass sich da manch eine Nutzerin auf die Füße getreten fühlt, wundert nicht, also gab es auch langen und ebenfalls begründeten Widerspruch, leider gespickt mit allerlei beleidigenden Anwürfen gegen Gilbert (das hab ich dann wiederum kritisiert).
Folgenlose Vorwüfe – Nachteil ist auch Vorteil
Angesichts der unzähligen Argumente, die bereits „gegen Facebook“ vorgebracht wurden, ist es ja durchaus erstaunlich, dass dennoch kaum jemand Facebook ganz verlässt, auch nicht die Kritiker, wie Gilbert selbstkritisch anmerkt. Zumindest eine „Seite“ wird oft weiter gepflegt, damit weiterhin Leser zum Blog finden. Bei Geist und Gegenwart kommen so offenbar VIELE, doch bleiben die gerade mal eine Minute und 43 Sekunden – frustrierend für den Autor, aber nicht frustrierend genug, um die Seite zu löschen (die Hoffnung stirbt zuletzt…).
Man fragt sich: Warum bleiben so viele? Das weiß ich nicht, aber immerhin kann ich die eigenen Motive bedenken, die mich von einer Löschung abhalten. Eins davon zeigt, wie ein bekannter und viel benannter Nachteil aus Nutzersicht ein VORTEIL sein kann. Gilbert klagt zum Beispiel an:
„Facebook führt uns systematisch in die Irre, denn es bestätigt zunehmend unsere eigene Sichtweise auf die Dinge. Alles Kontroverse wird aus unserem personalisierten Netzwerk herausgefiltert. Die Algorithmen lernen, was wir mögen, welchen Aussagen wir zustimmen und mit welchen Leuten wir am stärksten interagieren. Das führt dazu, dass uns verstärkt die Sachen angezeigt werden, die wir ohnehin denken. Wir haben so immer weniger die Gelegenheit, neues zu lernen oder unsere eigenen Sichtweisen zu hinterfragen. Wir werden systematisch in eine Form der Idiotie getrieben, unsere Welt verengt sich, Diversität und Meinungsverschiedenheiten werden zugunsten eines falschen Konsens unterdrückt. Facebook ist absichtlich auf die Verkürzung unserer Gedanken, Gefühle und Erlebnisse zugeschnitten. „
Alles richtig. Aber Facebook ist, so groß es auch ist, nicht die GANZE Welt. Gerade die hier gebotene Glättung, Banalisierung, Verkürzung und vor allem die Konzentration auf das, WAS GEFÄLLT, ist eben nicht nur ein Bug, sondern auch ein geschätztes Feature.
Denn was erlebe ich denn sonst so „online“?
- Unter Berichten in Großmedien von wichtigen, weltbewegenden Vorgängen taucht man in Hassreden ein, die die Laune für Stunden in den Keller drücken.
- Auf Twitter laufen tausende Kurz-News auf, die auf jeden Fall das Gefühl vermitteln, das nie und nimmer alles sinnvoll „kuratieren“ zu können. Die Interaktion mit Fremden in der gebotenen Kürze erzeugt Missverständnisse, Blockieren, „Haten“ und Entfolgen sind übliche Umgangsformen, Shitstorms an der Tagesordnung.
- Dann die Blogs: bei vielen, die so rumstehen, ist unklar, ob und inwiefern die Betreiber/innen sie überhaupt noch pflegen. Viele nervige Hürden erschweren das Kommentieren und bei „moderierten“ Blogs weiß man nie, wie lange es dauern wird bis zur Freischaltung – und ob die überhaupt jemals kommt.
- Schreibe ich einen langen substanziellen Kommentar, passiert es nicht selten, dass darauf gar nicht reagiert wird – offensichtlich will da jemand nicht diskutieren, sondern sich mit den Beiträgen nur selbst darstellen und dem Google-Algo Futter bieten.
- Auf Google+ sind gefühlt vor allem Webworker, Social-Media- und andere Profis zu Gange. Google spielt mir immerhin jede Menge „Beautiful Pictures“ in den Stream, wohl im Bemühen, dem eine weniger „fachliche“ Anmutung zu geben. (Vermutlich hab ich die mal selbst abonniert! Hilft aber nicht…)
Ich könnte fortfahren, belasse es aber dabei. Verglichen mit alledem ist Facebook tatsächlich eine WÄRMESTUBE: ein Zufluchtsort für frierende Seelen, die gerade „mal was Anderes“ brauchen als „nur Info“, Fachdiskussionen, VIELLEICHT irgendwann mal oder auch nie reagierende Blogger, und schon gar nicht das überall so ungeheuer schnell ausbrechende Hauen und Stechen.
Wohlfühlen gefällt mir
Logge ich bei Facebook ein, sehe ich nichts dergleichen. Statt dessen läuft am rechten Rand ein Stream mit aktuellen Aktionen – und zwar solchen:
- Mario Beck gefällt Anita Bauers Beitrag.
- Iris Bauer gefällt „Bilder und Farben aus meinem Leben“
- Susanne Baumgart hat Marianne Koiners Beitrag kommentiert.
- Lutz Hartmann gefällt Sabine Müllers Foto.
- Ina Hoffmann hat Ulrich Kellers Beitrag geteilt.
usw. usf. (Namen sind geändert).
Jede Aktion ist versehen mit dem Profilbild einer meist freundlich lächelnden Person. Per Mausover kann ich aufpoppen lassen, was diesen Menschen gerade gefällt, was sie teilen und kommentieren – und ich kann sofort einsteigen, teilhaben an dem, was ich in einem „sozialen Medium“ gelegentlich suche: Aufmerksamkeit, Resonanz, friedlich-freundlicher Umgang, Entspannung, Unterhaltung mit ganz normalen Menschen, die grade weder kämpfen noch etwas verkaufen wollen.
Natürlich kann man Facebook anders nutzen und hat dann auch andere Erlebnisse. In Polit-Gruppen wird man keine Wärmestuben-Atmosphäre vorfinden oder erwarten, aber diese muss man ja erstmal aufsuchen. Vermutlich bin ich mit meiner sehr gemischten Gruppe „Befreundeter“ bei FB kein exotischer Einzelfall: das sind Verwandte, reale Freunde, Online-Freunde und Bekannte, Arbeitskontakte und allerlei „Netz-Promis“, sowie viele komplett Unbekannte, die mich über eins meiner Blogs „kennen“. Mit großem zahlenmäßigen Übergewicht an Menschen, denen ich physisch noch nie begegnet bin, die sich aber auf FB auch „gefällig“ verhalten, soweit ich das mitbekomme.
Kurzum: wenn ich mal – sofort! – ein Bedürfnis nach einer gewissen Wärme im Netz verspüre, dann ist Facebook tatsächlich die Adresse der Wahl. Denn:
Diversität und Meinungsverschiedenheiten werden zugunsten eines falschen Konsens unterdrückt. Alles Kontroverse wird aus unserem personalisierten Netzwerk herausgefiltert. Facebook ist absichtlich auf die Verkürzung unserer Gedanken, Gefühle und Erlebnisse zugeschnitten.
Stimmt. Und das ist eine Dienstleistung, für die es eine große Nachfrage gibt!
Gelegentlich auch von mir.
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11 Kommentare zu „Facebook, die Wärmestube“.