Claudia am 19. Juni 2008 —

Wenn Freiheit ärgert

auf „Zeit zu leben“ fand ich heute einen sehr guten Artikel von Ralf Senftleben, der die Frage stellt: „Warum kämpfen manche darum, ein Opfer sein zu dürfen?“

Darin geht er der Frage nach, warum so viele Menschen verärgert reagieren, wenn jemand die Möglichkeiten aufzeigt, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und all das, was daran stört, zu verändern. Er kommt zum Ergebnis, dass es wohl der Blick auf die Schuldfrage ist, der zu solchen Reaktionen führt: Aha, mir geht es nicht nur mies, ich bin also auch noch selber schuld, weil ich ja nichts daran ändere – na klasse!

Ralf bemüht sich dann, zu zeigen, wie überflüssig und behindernd es ist, an der Schuldfrage zu kleben, die (das füge ich hinzu) als Besonderheit spezifisch deutscher Problembewältigungsstrategie bekannt und berüchtigt ist: liegt etwas im Argen, suchen wir erstmal den Schuldigen, nicht etwa DIE LÖSUNG! In so einer Gesellschaft ist es schwierig für ein Individuum, die Felder der Eigenverantwortung ohne Scheuklappen zu erkennen und kreativ zu nutzen. Denn immer droht ja das Urteil „schuldig“, wenn etwas nicht klappt.

Das Thema ist spannend und stellt die alte Frage nach dem Verhältnis von Weltveränderung und Selbstveränderung:

  • Mit dem Blick nach außen erkenne ich viele Missstände und versuche (vielleicht…), sie zu verändern. Oder ich empfinde mich als machtloses Opfer der Verhältnisse (das System, der Neoliberalismus, das Patriarchat etc. usw.) und verharre in Depressivität. Bin aber selber „immer bei den Guten“ und kann aus dieser Position ungebrochen schimpfen, klagen und anklagen.
  • Mit dem Blick nach innen hinterfrage ich meine Bewertungsmaßstäbe und deren Voraussetzungen: Habe ich hohe oder niedrige Ansprüche? Woher kommt meine Einschätzung dessen, was ich für „normal“, für gut und richtig halte? Nutze ich meine Möglichkeiten? Bin ich zu feige, zu bequem, zu verknöchert, um den Preis der Veränderung zu bezahlen?

Mit dem Blick ausschließlich nach außen landet man leicht im politischen Sektierertum und bei den Verschwörungstheorien. Schaut man nur aufs eigene Selbst, droht die spirituelle Matschbirne, der alles EINS ist, sowie die Arroganz und Blindheit, die mit der Überzeugung, alles hänge nur von der eigenen Einstellung ab, gerne einher geht.

Gibt es einen Weg der Mitte? Ich hoffe es, schwanke ich doch selber im Lauf meines Lebens immer schon zwischen diesen Sichtweisen – mit einem deutlichen Trend „nach außen“ in der Jugend und der Umkehrung dieses Trends so ab vierzig.

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Diskussion

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29 Kommentare zu „Wenn Freiheit ärgert“.

  1. Der Versuch, zu beschreiben, wie die Welt besser werden kann, wird scheitern, im schlimmsten Fall zur Katastrophe führen. Das ist zu allgemein, nachdenken darüber vertane Zeit. Es mutet arrogant, sagt jemand, wie im verlinkten Artikel Es ist dein Leben, also musst du etwas ändern, wenn sich etwas ändern soll. Will sich jemand ausheulen, ist Zuhören das Beste, ohne zu plappern. Will sich jemand ändern und fragt mich, was er tun soll, und meint es auch so, sollte ich nicht Binsenweisheiten von mir geben, sondern arbeiten: Ein möglichst detailliertes Bild der konkreten Situation erhalten, was alleine den Erzähler Lösungswege erkennen lässt, fragen, was anders werden soll und dann konkrete Lösungen gemeinsam herausfinden.

  2. Ein sehr interessante Beobachtung. Projektion kann ebenso sehr schädlich sein, wie Verdrängung, wenn wir sie übertreiben und verharren. Beim Lesen einiger Werke von Hesse fielen mir einige Anmerkungen des Autors die sich um den Kern des selben Themas drehen: Warum verharren einige Menschen in ihrer Opferrolle? Warum suchen Sie die Schuld im Anderen oder Abstrakten? Und ich denke vor der Bewusstwerdung einer unangenehmen Wahrheit über das eigene Dasein fürchten sich die allermeisten Menschen. Schon bei Zhunangzi heisst es: „Du kannst einem verschroben Gelehrten (wörtlich: Bücherwurm) nicht von der Großen Ordnung erzählen“.
     
     

  3. @Elmar: es ging hier (und im angeführten Artikel) überhaupt nicht um die Frage, was denn -konkret oder allgemein –  jemand zur Verbesserung seiner Situation tun sollte/könnet und WIE man da am besten helfen kann oder auch nicht. SONDERN um die Frage, warum mancher so gerne im Elend verharrt, zwar jammert, aber jeglichen Hiweis auf eigene Möglichkeiten aggressiv beantwortet. Das ist doch mal eine Überlegung wert!

    @tradem: das Leben wird deutlich angenehmer, wenn man die Vorstellung aufgibt, selbst immer und in jeder Hinsicht „bei den Guten“ zu sein. Schade, dass sich das nicht aus Büchern lernen lässt! :-)

     

  4. Claudia,

    Schuldige zu benennen, ist für mich ein Stück Resignation. Ich mach das auch, leider viel zu oft. Und manchmal sehr aggressiv.

    Ich kämpfe seit Jahren um die „Freiheit“ (wie auch immer man sie verstehen will) und stoße alle naselang auf Barrieren, die zunächst unüberwindlich erscheinen.

    Und natürlich kann zumindest ich „Schuldige“ benennen, die Verantwortung tragen tragen für mein SO-Sein. Für fehlenden Mut, für Angst vor dem Leben, für Suchtprobleme.

    Verantwortung für sich selbst zu tragen kann manchmal so irrsinnig angstbehaftet sein, daß so mancher lieber tot ist, als das anzunehmen.

    Ralf Senftleben hat auf seiner Ebene recht (wie übrigens auch Reinhard Sprenger), es ist nur verdammt schwer, nicht nur verstandesmäßig dort anzukommen, sondern ganz.

     
     
     

  5. @Rainer,
    ja, das stimmt. Wenn du magst, lies meine persönliche Erfahrung dazu:

    * König Alkohol – Teil 2

    Paradoxerweise stellt sich die Fähigkeit, die ganze Verantwortung zu übernehmen, über die Akzeptanz der Machtlosigkeit ein: wenn ich mich selber erstmal genauso hinnehme wie das Wetter, und mich nicht mehr ständig als mein eigener Sklaventreiber aufführe (beurteilen, verurteilen, Selbsthass, Leistungsstress etc.), ist die Veränderung drastisch – aber man kann es halt nicht aus dem Kopf machen, man muss ans Ende der Fahnenstange gekommen sein.

    Einsicht in die Machtlosigkeit heißt, das Kämpfen aufgeben und dann einfach das tun, was anliegt. Sich selbst in diesem Sinne annehmen bedeutet speziell in der Suchterfahrung: nichts mehr tun, wofür man das Suchtmittel bräuchte, um es erträglich zu finden oder zu schaffen – also absolut konsequent, ohne jedes Kokettieren oder „verhandeln“ der Sache aus dem Weg gehen. Sich nicht „zusammen reißen“, sondern wegbleiben! EGAL, was das für Verluste bedeutet – denn es gibt nichts Wichtigeres als die eigene geistige Gesundheit, die Klarheit und den inneren Frieden.

    Bezüglich des Alkohols ist das bei mir so verlaufen. Die fast 15 Jahre seit diesem „Tiefpunkt“, der eine Befreiung/Erlösung war, lebe ich „im Paradies“ und kenne verschiedene Formen von innerem Stress: Ängste, Hass und Selbsthass seitdem definitiv nicht mehr.

    Die eher „beiläufige“ Droge Nikotin bin ich jedoch immer noch nicht los, kämpfe aber auch nicht mehr groß rum. Entweder es geht mal „einfach so“, oder eben nicht. Mein Leben ist nicht schlechter, bloß weil es gegenüber dem Durchschnitt kürzer ist.

  6. Eine Lanze für die Schuldfrage!
     
    Jemand (hier sollte der Link auf den Artikel steheh, auf den Claudia sich bezieht, aber es geht irgendwie nicht) bemüht sich, „zu zeigen, wie überflüssig und behindernd es ist, an der Schuldfrage zu kleben„, da es sonst „schwierig (sei, S.S.) für ein Individuum, die Felder der Eigenverantwortung ohne Scheuklappen zu erkennen und kreativ zu nutzen.„.
     
    Schuld ist also ä-bäh, nach Schuld zu fragen ist – je nach Sprachniveau – irgendwie falsch, kleinlich, dumm, schädlich, dysfunktional, irreführend oder wird zumindest von den ganz großen Geistern der Menschheit nicht empfohlen.
     
    Ich sehe das ganz anders!
     
    Erstens frage ich immer sofort, wenn was daneben geht, mir nicht gefällt, Probleme macht oder sonstewie hakelt – wer ist Schuld? Und wenn ich einen – in meinen Augen – Schuldigen gefunden habe, zeige ich mit den Fingern auf ihn oder sie – naja, manchmal zeige ich gezwungenermaßen sogar auf mich, soll schon vorgekommen sein – und jammere laut herum, warum er oder sie das denn um Gottes Willen nur hatte machen müssen, und verlange lautstark vom Schuldigen, den Fehler so schnell wie möglich wieder gut zu machen. Es sind nicht die Verhältnisse, die tanzen, sondern die Tänzer!
     
    Denn, zweitens, bin ich der Auffassung, daß Menschen (erwachsene, nicht entmündigte, nicht berauschte oder sich in einem Zustand zeitweiliger geistiger Verwirrung befindliche) für ihre Taten verantwortlich sind. Daß sie bewußt sich entscheiden, dies zu tun und das dafür sein zu lassen. Daß sie Denken können, um u.a. die Konsequenzen ihres Handelns nach bestem Wissen und Gewissen zu beurteilen, vorwegzunehmen und abzuschätzen (evaluieren, nennt sich das, glaube ich). Und daß sie persönlich am Kanthaken zu nehmen sind, tun sie das nicht!
     
    Und, drittens, glaube ich, daß Menschen durchaus sich gegen besseres Wissen, gegen Moral und Anstand, gegen Freundschaft und Zuneigung für Handlungen entscheiden, die anderen weh tun oder schaden. Und vielleicht sogar um ein paar Ecken herum und außerhalb ihres Horizontes sich selbst auch. Menschen sind nicht böse, weil sie dazu gezwungen sind, sondern weil sie es für angebracht halten und meinen, damit gut weg zu kommen!
     
    Die Welt ist für mich nicht ein Geflecht unentwirrbarer Geheimnisse, in denen sich gut ruhen läßt, hat man seine Pferdchen – oder waren es die Schäfchen? – erst einmal ins Trockene gebracht. Auch kein brodelnder Vulkan aus unterirdischen, nicht näher zu bestimmenden Feuern, auf denen sich das eigene Süppchen hämisch grinsend kochen läßt. Sondern jede und jeder von uns kann seine Augen aufreißen und seinen Grips zusammen suchen und schauen, daß mit Bedacht und Sorgfalt, mit Abwägung und Hingucken eine Menge vermieden und eine Menge erreicht werden kann. Zumindest zu Hause in Küche und Schlafzimmer, vielleicht aber auch auf der Arbeit – okay, es gibt Bereiche, da glaube selbst ich das nicht, aber von denen will ich jetzt schweigen.
     
    Wir sollten an öffentlichen Gebäude große Tafeln anbringen, auf denen stehen sollte:
    Auch du kannst täglich einmal darauf verzichten, ein Arschloch zu sein!
     
    Im Übrigen favorisiere ich natürlich auch Problemlösungen, die keinem weh tun, niemanden ausgrenzen, alle zufrieden stellen, nichts kosten, viel einbringen, den jungen Mann da hinten an der Bar heftig für mich einnehmen, sich intellektuell gut nachlesen lassen und von ausgewiesenen Problemlösern (wie z.B. Hermann Hesse) empfohlen werden. Daher: Friede, Freude, Eierkuchen für alle!
     
    So!

  7. @SuMuze
    Sehr guter Kommentar, stimme uneingeschränkt zu.
    Aber auch: „Ich bin Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft.“ ( Goethe, Faust I )
    Gruß Hanskarl
     
     
     

  8. Hach, was für ein wundervoll leidenschaftlicher Beitrag, danke Susanne!

    Ich habe zur „Frage nach der Schuld“ (mittlerweile) ein eher leidenschaftsloses Verhältnis und sehe das wie Ralf als Ursachenforschung an, die nur insoweit hilfreich ist, als sie Lösungen (!) ermöglicht.

    Gerade das von dir angeführte „mit dem Finger zeigen und jammern“ ist ja nichts als Gefühlswallung, es verhärtet in der Regel dir Fronten, denn die Beschuldigten lassen das Visier herunter klappen und mobilisieren Verteidigungsmechanismen – und damit ist man in der Regel weiter von einer Verbesserung / Veränderung / Schadenswiedergutmachung entfernt als wenn man sich das spart.

    Dass jeder seine Taten zu verantworten hat, steht für mich auch ohne emotionalisierende Schuld-Debatte fest. So gibt es am Arbeitsplatz und in der Politik viele Möglichkeiten, sich schlicht als inkompetent für diesen Job zu zeigen – nun, dann muss derjenige eben gehen.

    In der Regel muss aber einer gehen, weil irgendwer ja schuld sein muss und die Lage dadurch vordergründig BEFRIEDET erscheint. Doch der Schaden, für den die Schuld zugewiesen wird, kommt oft genug durch ineinander greifendes Verhalten ganzer Gruppen zustande: jeder weißt dem anderen die Zuständigkeit zu und hält sich bedeckt, irgendwann ist das Kind in den Brunnen gefallen und nun muss man jemanden finden, der dafür grade steht. Verständlich, aber alles andere als sinnvoll! (Ich wünsche mir meine Mitmenschen auch als dem Kindergarten Entwachsene, werde aber oft genug enttäuscht!)

    Du schreibst:

    „Menschen sind nicht böse, weil sie dazu gezwungen sind, sondern weil sie es für angebracht halten und meinen, damit gut weg zu kommen!“

    Welche Menschen? Nur „die Bösen“ oder wir alle? Auch du und ich? Ich kenne meine hellen UND dunklen Seiten und deshalb kann ich mich nicht mehr großartig echauffieren und auf das Böse im Anderen zeigen. Wer kann denn von sich sagen, er sei ganz frei von Gier, Ressentiment und Ignoranz?

    Im Alltag der Küche, die du anführst, und in anderen Konsumbereichen mutieren wir mehrheitlich zu regelrechten Monstern, zu Tierquälern und Sklavenhaltern, zu Arbeitsplatzvernichtern, Klima-Killern und Artenausrottern – und sage mir keiner, er wisse das nicht! Der Grund ist schlichte Gier und Bequemlichkeit, sowie die emotionale FERNE vom Schaden, der da angerichtet wird. Und es hilft gar nichts, das immer wieder zu sagen und mit dem Finger aufeinander zu zeigen – das bringt eher so ein Gefühl von mutwilligem böse-sein als Trotzreaktion anstatt eine Änderung des Verhaltens. Ich war zwei Arbeitsjahre meines Lebens damit beschäftigt, Menschen zum Energie sparen und nicht vergeuden bewegen zu wollen – ALLE Zulieferer von Erkenntnissen und alle Erfahrungen sprachen GEGEN das Mobilisieren über „Schuld“.

    Im Artikel, der Anlass dieses Diary-Beitrags war, ging es allerdings um die „Schuld am eigenen Elend“, die offensichtlich viele gar nicht ansehen wollen, die lieber lebenslänglich Opfer ihrer Familie und/oder der gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben. Der Ansatz, die Schuldfrage da möglichst wegzulassen, ist in diesem Kontext dann eher ein therapeutisch-taktischer und vermutlich sinnvoll.

    Wobei ich selbst der Ansicht bin, dass jemand erst dann den Arsch hochkriegt, wenn das bestehende Elend zu lange und zu gewaltig schmerzt – nicht aufgrund irgend einer freundlich gemeinten Intervention von außen.

  9.  
    @Claudia

    zu den ‚Bösen‘: ich habe mich da leider sehr ungeschickt und mißverständlich ausgedrückt. Die Formulierung ‚Menschen sind nicht böse‘ sollte lediglich ‚Menschen handeln böse‚ besagen und damit alle Menschen umfassen, mich natürlich auch eingeschlossen. Es gibt für mich keine ‚bösen‘ und keine ‚guten‘ Menschen. Auch ein Mensch, der schuldig ist und Strafe verdient hat, ist nicht ‚böse‘, sondern hat lediglich ‚böse‘ gehandelt.
     
    Ja, also: ‚emotionalisierende Schuld-Debatte‚, an dieser Kombination von Worten hänge ich mich noch einmal nur zu gerne und mit Begeisterung auf. Weil in ihr in drei Worten zusammengefaßt ist, warum solches oft so gerne abgelehnt und warum ich solches aber so sehr begrüße.
     
    1. Emotionalisierung ist gut und nicht schlecht! (sagte das nicht schon Mao, oder zumindest irgendeine AO?) Wir alle haben Emotionen, ob wir mit dreckigen Knien unter den Büschen hocken und atemlos Nachbars Lumpi dabei beobachten, wie er an Mamas Forsythien pinkelt, oder ob wir mit einem kurzen Kopfnicken einem langjährigen Kunden wegen neuer Verfahrensweisen die Kreditlinie auf Null stellen. ‚No hard feelings – Das ist nicht persönlich gemeint – Business, my dear!‘ – nein danke, das kotzt mich nur an. Alles menschliche Handeln ist mit Emotionen unterlegt, jede menschliche Beziehung lebt von und weckt Emotionen. Nicht der Funktionär, der seine Menschlichkeit im Apparat verleugnet, ist mein Ideal. (Um Zustimmung heischender Augenaufschlag in die Runde..)
     
    2. Schuld – dazu habe ich ja im ersten Kommentar schon herum gestänkert. Und – sollte das noch nicht die Bedeutung von Schuld abschließend begründet haben, ähem – es sollte doch zu Denken geben, daß sich vieles, was Menschen zu sich und ihren Nächsten, ihrem Leben, Streben, Lieben und Sterben usw. geschrieben haben, mit Schuld beschäftigt und um Schuld dreht. Schuld scheint Menschen schon immer begleitet, angetrieben und verfolgt zu haben. Nicht die Bequemlichkeit des Warmduschens (ja, das mit dem Vorhang tut mir auch Leid, wirklich, ich weiß ja auch nicht, jetzt ist er ab, ja, hm, und alles naß, ja..), sondern die Mühsal der Schuld springt dir allenthalben aus dem Gequassel der Menschen über sich entgehen. Schuld und Handeln gehören ja wohl zusammen wie Geld und Macht. Schuldfreies Handeln ist für mich nichts als ein lahmes Konstrukt der feigen Ausrede. (Blitze und Donnern am östlichen Himmel…)
     
    3. Debatte. Genau: Debatte! Debattieren, Argumentieren, Reden, Vorwerfen und Zurückweisen, Leugnen und Aufdecken, Vermuten und Unterstellen, Beleidigen und Verteidigen usw. usf.! Ja, Himmel, wie soll denn das alles ohne Emotionen gehen? Ohne Ärger, Zorn, Freude, Frohsinn, Stolz und Scham. Triumph und Verzagen? Ohne insistierendes Pochen darauf, daß wir zu dem zu stehen haben, was wir gesagt und getan haben, löst sich alles in Unverbindlichkeit aus. Oder noch schlimmer, man ist miteinander einer Meinung, damit sich keiner an den Karren gefahren fühlt. Er könnte ja trotzig schmollen, ogottogottogott. Und womöglich gekränkt sein und nicht mehr mitspielen wollen. Nix da, diese blutleeren Ja-Sage-Orgien der Geweihten und Eingeweihten, der miteinander Übereinstimmenden und einander Bekräftigenden samt Nichtangriffspakt und Streichelwiese im Kinderzoo sind alles andere als anregende Debatten. Immer, wenn Menschen sich zu geflissentlich beeilen, einander das Wort aus dem Mund zu nehmen, um es dann doch nur zu wiederholen, ist es danach einfach nicht mehr wiederzuerkennen. Nein, nein – nur da, wo Menschen einander ins Wort fallen, das Wort im Munde umdrehen und Wort für Wort wieder zwischen die Zähne zurück stopfen, dafür aber einander beim Wort nehmen und sich nicht scheuen, offen das Wort zu ergreifen – nur da sind sie Menschen! (Tatatataah!)
     
    Ein Mensch, dem keine Schuld gegeben werden kann oder darf, ist in meinen Augen unmündig und entrechtet. Hat einen wesentlichen Teil dessen verloren, was ihn zum Menschen machte. Und eine Interaktion, die Schuldzuweisungen – die ja auch an sich selbst gerichtet sein können! Warum nur verstehen all darunter sofort das Wegschieben von Schuld auf andere? – verteufelt, ist künstlich restringierte Interaktion. Kindergartengetue. Vielleicht in therapeutischer Abgeschiedenheit sinnvoll, das weiß ich nicht. Aber keinesfalls ist sie mir Modell menschlichen Miteinanders.
     
    Ich habe fertig – was der arme Trappatoni übrigens nur ganz wörtlich übersetzt hatte: ho fatto!

  10. Um noch einmal zum Aufhänger zurückzukehren…
    Claudia schrieb:
    Im Artikel, der Anlass dieses Diary-Beitrags war, ging es allerdings um die “Schuld am eigenen Elend”, die offensichtlich viele gar nicht ansehen wollen, die lieber lebenslänglich Opfer ihrer Familie und/oder der gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben.
    M. E. lässt sich das recht simpel auf eine entsprechende Ego-Struktur, respektive eine meist über Jahre laufende Konditionierung reduzieren. Je länger und intensiver diese „pathologische Fehlinterpretation“ des Ego – wie ich sie  in Anlehnung an Eckart Tolle  einmal nennen möchte –  andauert, um so  hartnäckiger hat sie sich natürlich in der Psyche verfestigt und  kann als beharrlicher Kämpfer für den Bestand dieser Identifikation gesehen werden. Wird diese von außen in Frage gestellt, so ist das wie eine potentiell tödliche Bedrohung!
    Gell Claudia, isses nich so?
    liebe Grüße von Hermann
     
     
    Den meisten Menschen ist ihr Ego, Denken und Fühlen Subjekt ihrer Identifikation.
     
     

  11. oh Mist,
    kein nachträgliches Editieren möglich?
    ok, dann korrigier ich einfach hier. Der letzte Satz…
    Den meisten Menschen ist ihr Ego, Denken und Fühlen Subjekt ihrer Identifikation.

    …ist versehentlich mit reingerutscht und hat nichts zu sagen.
    Die Formulierung „über Jahre laufenden Konditionierung“ ist nicht so treffend, denn es handelt sich hier i d Regel um Identifikationen, die in Jahrzehnten bzw. die bisherige Lebensspanne Schicht für Schicht aufeinander gestapelt wurden.
    bisschen klarer jetzt?
    Gruß, Hermann
     
     

  12. das Diary wird nächstens mal wieder technisch modernisiert, dann kommt das Edit-Modul, versprochen!

    Danke Euch beiden für die sehr anregenden Einlassungen – für heut bin ich zum Schreiben zu geschafft, hab mir beim Fahrradfahren fast einen Hitzschlag geholt…

  13. @Susanne,

    Um ein etwaiges „Verschwinden“ von Emotionen muss man sich definitiv nicht sorgen. In deinem Business-Beispiel bezweifle ich, dass da wirklich KEINE Emotionen sind, sie werden nur gut verborgen.

    Zu allen Zeiten haben sich Menschen darum bemüht, der Verfallenheit an spontane Emotionen zu entgehen. Jemand ärgert mich? Dem werd‘ ich’s zeigen! Rache, Gewalt, Generationen überdauernde Fehden, Kriege und Feindseligkeiten aller Art entstehen aus Gier, Hass/Ressentiment, Neid, Eifersucht etc. Ich finde jegliches Bemühen gut, dieses bewusstlose, auf Emotionen gründende feindliche Reagieren einzudämmen, bzw. selbst Mittel und Methoden zu finden, dem zu entgehen. Die Vernunft alleine reicht dafür, wie uns die Geschichte lehrt, leider nicht aus.

    Es geht dabei nicht darum, die Emotionen zu verhindern (geht nicht..) oder zu verleugnen, sondern die Verkettung zwischen Emotion und Handlung zu durchschlagen: „aha, ich bin wütend“ – wer das mal so rein beobachtend konstatiert, hat der Sache schon einige Energie entzogen und wird nicht spontan zuschlagen, in welcher Art auch immer. Eine selbstbeobachtende Haltung löst binnen kurzem die Identifikation mit den Gefühlen, denn man schaut das Geschehen an wie das Wetter: aha, ein Gewitter! Aha, da ist Wut!

    Das ist erstmal sehr befreiend und bewirkt schon für sich größere Friedlichkeit. Will man weiter gehen, wird man bemerken, dass die Emotionen auf der Ebene der Gedanken, wie auch auf der Ebene der Körperlichkeit „angegangen“ bzw. „harmonisiert“ werden können.

    Die Not-Wendigkeit dazu sieht man allerdings nur, wenn man unter dem Zustand, wie er „normalerweise“ ist, leidet. Als ich jung war, dachte ich nicht im Traum dran, dass mir heftige Auseinandersetzungen mal grundsätzlich missfallen könnten: ich nahm jeden Fehdehandschuh auf, stieg in den Ring und wollte siegen – war also voll identifiziert mit diesen Emotionalitäten. Meist habe ich „gesiegt“, realisierte aber erst im Lauf vieler Jahre, zu welchem Preis.

    Seit dem nicht mehr so ist, genieße ich das Leben wie nie zuvor – und nicht nur im Sinne gelegentlicher friedlicher Momente, sondern durchweg. Es ist angenehm, kein Automat mehr zu sein, auf dessen Knöpfchen nur jemand drücken muss, um die entsprechenden Reaktionen hervor zu kitzeln – mein Artikel über Entspannung aus Yoga-Sicht behandelt das Thema im Detail.

    Himmel, die Arbeit ruft…

  14. @Claudia
    Nur eine kurze Zwischenfrage: wie kommt es, daß alle deine Beispiele, die Emotionalität als hinderlich aufzeigen sollen, stets Emotionen der Konkurrenz, der kämpferischen Selbstbehauptung gegen Attacken betreffen?
    Solche Einseitigkeit im Empfinden schiene mir auch sehr ungeeignet. Aber nicht wegen der Emotionen, sondern wegen ihrer Einseitigkeit.
     
     

  15. @Suzanne: Weil ich dir natürlich eine „negative“ Auswahl entgegen stelle, bei der das LOBLIED auf die Emotionalität nicht so einfach zu singen ist. Und man kann es eben nicht SELEKTIEREN: das Angenehme feiern und sich ganz spontan mitreißen lassen im emotionalen Taumel, das Unangenehme aber „im Zaum halten“ – das gelingt nur ganz oder gar nicht = meine Erfahrung.

    Wie das jemand für sich hält, ist wie gesagt niemals Ergebnis einer Debatte, sondern entwickelt sich entlang am Erleben, das einen formt.

  16. @Claudia

    Ich denke, das ist ein sehr wichtiger Punkt. Bei deinen Beispielen fällt mir auf, daß du sie schilderst, als gäbe es nur die jeweils hervorgehobene Emotionen – Zorn über Zurückweisung, Wut über Nicht-Anerkennung z.B. – und als wäre diese, weil im Vordergrund, allein handlungsleitend. Was dann natürlich das Handeln ganz schön dösig machte.
    „Es geht dabei nicht darum, die Emotionen zu verhindern (geht nicht..) oder zu verleugnen, sondern die Verkettung zwischen Emotion und Handlung zu durchschlagen: ‚aha, ich bin wütend‘,“ schreibst du. Und nennst auch das Rezept: „Eine selbstbeobachtende Haltung löst binnen kurzem die Identifikation mit den Gefühlen, denn man schaut das Geschehen an wie das Wetter: aha, ein Gewitter! Aha, da ist Wut!“ Sowie ein Ziel bei der Sache: „Das ist erstmal sehr befreiend und bewirkt schon für sich größere Friedlichkeit. Will man weiter gehen, wird man bemerken, dass die Emotionen auf der Ebene der Gedanken, wie auch auf der Ebene der Körperlichkeit “angegangen” bzw. “harmonisiert” werden können.
    Die Verkettung zwischen Emotion und Handlung durchschlagen zu wollen ist für mich Waschen, ohne sich naß machen zu wollen. Das geht nicht. Ich glaube auch eher, du willst die voreilige Bindung des Handelns an nur dieses eine, dominierende Gefühl verringern. Da ich der Meinung bin, daß Menschen niemals nur ein Gefühl haben, und daß Handeln fast immer auch die Entscheidung zugunsten eines oder einiger weniger Gefühle enthält (und somit auch anders ausfallen kann, prinzipiell), wären wir da aber gar nicht weit auseinander. Aussagen wie ‚ich war blind vor Wut‘ halte ich eher für Legitimationen im Nachhinein. Meiner Erfahrung nach sind auch Menschen, die ‚blind vor Wut‘ sind, bestens in der Lage, Lichtschalter und Lautstärkeregler akkurat zu bedienen, Ohrfeigen recht präzise zu platzieren und außerordentlich scharfzüngige Beleidigungen sich auszudenken und abzusondern. Wut allein würde das nicht können.
    Selbstbeobachtung aber kann jede betreiben, die den Willen und den Grips dazu hat. Dabei lösen sich aber die beobachteten Gefühle doch nicht von der Beobachtenden. Die Beobachtung (als wirklich einmal sehr direkt teilnehmende in diesem Fall) verändert natürlich die Gefühle, ihrer Intensität, Akzeptanz und Wirksamkeit nach – wie jede Beobachtung das Beobachtete verändert. Das kennen die Sozialwissenschaftler seit den Herren Roethlisberger und Dickinson und die Physiker seit Herrn Heisenberg. Wir schauen eben das Gefühl nicht an wie das Wetter, das sich keinen (merklichen) Deut um mich schert, wenn ich ihm zuschaue. Sondern mein Beobachten ist Teil eines Geschehens, wie die Gefühle, der Verstand, meine Motive und Ziele auch. Die durch das Beispiel Wetter suggerierte Neutralität des Beobachtens ist mit dem falschen Beispiel nur erschwindelt, nicht begründet.
    Daß das Beobachten durchaus befreiend wirken kann, sehe ich auch. Es ist nie ein Fehler, sich etwas genauer anzuschauen. Daß es zu größerer Friedlichkeit führt, sehe ich nur bedingt. Es mag verhindern, gleich mit der Pumpgun in der Hand herein zu schneien und mit dem betrügerischen Ex-Lover Tacheles reden zu wollen. Aber es trennt höchstens Empfinden und Handeln zeitlich ein wenig. Gefühle haben viel Geduld, und sie kriechen aus ihren Verbannungen hervor, wenn niemand mehr mit ihnen rechnet. Und oft nähren sie sich von der schmalen Kerkerkost ganz beachtlich und sind, wenn sie sich dann wieder zeigen, ganz schön dick und fett geworden. Das, was du hier Friedlichkeit nennst, würde ich nicht ganz so positiv wohl eher als Resignation und Verzicht bezeichnen. Oder, schärfer noch, als Vermeidung oder gar Unterdrückung.
    Und warum sollte ich eine Harmonisierung meiner Gefühle überhaupt anstreben? Harmonisch klingt mein Klavier, auf dem zu spielen meinen Ohren gefallen und mir Beifall einbringen soll. Harmonisch schmeckt das Salatdressing, das ich nachher über den Salat kippen will und das meinem Gaumen und dem meiner Mitesser schmeicheln soll. Aber meine Gefühle harmonisieren? Ich kann nicht sagen, daß ich das ernsthaft will. Ich liebe meine Gefühle, die ruhigen, langsamen, gemächlich dahin fließenden ebenso wie die lauten, schrillen und wild herum purzelnden. Ich denke – und hoffe -, daß ich auch das unauffällige Blümchen leiser Gefühle sehe, wenn ich den ins Auge fallenden Busch der laut lärmenden Emotionen betrachte. Das ist eine Frage der intellektuellen Sorgfalt und der Ehrlichkeit mir selbst gegenüber.
    Dieses aber ist für mich einmal ein lohnenswertes Ziel bei der Beobachtung meiner Gefühle: Daß ich mir und anderen nicht nur von den angesagten Gefühlen spreche, sondern auch von den aus der Mode gekommenen. Daß ich meine Gefühle nicht nur mit den gängigen Labels bepflastere, sondern sorgfältig nachschaue, ob ich nicht besser andere, neue oder alte Namen dafür finden sollte. Daß ich Gefühlen mißtraue, deren Beschreibung ich allenthalben nachlesen kann. Sei es, weil es die Spatzen schon von den Dächern pfeifen, oder sei es, weil nur geheimgetippte Gurus sie bedeutsam im Hinterzimmer raunen. Daß ich auch an Gefühlen achte, was beim Vorzeigen vielleicht nicht die Achtung anderer gewinnen mag, und daß ich nicht leugne, wessen ich mich schämen zu müssen meine. Dann befreie ich mich und meine Gefühle ein wenig aus den engen Grenzen der Borniertheit und Abhängigkeit, und vielleicht erfahre ich mich damit als offener und erweitere die Möglichkeiten meines Handelns ein Stückchen. Aber muß das auf Harmonie heraus laufen? Kann nicht auch die pralle, johlende, schreiende Wut mich frei und offen machen – wenn ich nur zugebe, was alles an Liebe und Verzagtheit und Angst womöglich noch mit ihr einher geht? Und ist nicht auch die einschnürende, lähmende, erstickende Scham frei und offen, wenn ich ihre Begleiterinnen, wie den Haß und den Zorn und die Rachsucht, um sie herum ungehindert tanzen lasse? Kommt es nicht viel mehr als auf das Abwiegeln darauf an, diesen anderen Gefühlen ihren Platz zu lassen und ihnen eine, wenn vielleicht auch leise, Stimme zu leihen?
    So, das hat mir jetzt richtig Spaß gemacht, und ich hoffe, nicht gar zu grantig daher gekommen zu sein. Vermutlich fällt dir schon etwas ein, daß mich dann am Ende doch nicht so prima da stehen läßt, wie ich es gerne täte. Macht aber nix.

  17. Wow, was für ein Beitrag!! Im Moment ist grad nur Zeit für eine Zwischenausführung zu EINEM PUNKT:

    Ich kann selbstverständlich das Gewirr von Prozessen, das in einem konkreten Augenblick „mich“ darstellt, in einzelne Funktionen aufteilen und benennen: Da ist etwa der ARM, da ist die Haut, da sind die „Bauchgefühle“ (z.B. „Schmetterlinge“), dann die Gefühle des Solar Plexus (Ego-Verletzungen, Stolz etc.) und des Herzens (Mitgefühl, Traurigkeit, unpersönl. Liebe…), da ist der ATEM, der Gedankenstrom – und eben auch „die Beobachterin“ all dieser Aspekte, das Gewahrsein.

    Dieses Gewahrsein unterbricht den Gedankenstrom, selbst wenn wir das Gefühl haben, das Denken zu beobachten, ist es doch ein Oszillieren zwischen Denken und Hinschauen/Beobachten.

    Mit meiner Aufmerksamkeit bzw. der Fokussierung derselben auf einen der genannten Aspekte LENKE ich Energie – das ist nicht nur ein Spruch, sondern kann sofort ausprobiert und erfahren werden. Fokussiert man die Aufmerksamkeit in einem Körperteil, wird es deutlicher gespürt, wird warm, kribbelt (siehe Autogenes Training) – schaut man auf ein Gefühl, tritt es ebenfalls deutlicher ins Bewusstsein, doch bemerkt man auch schnell, dass es nicht stabil ist, sondern wieder verschwindet. Betrachtet man das Denken, wird der Strom oft wirrer Gedankenfetzen so richtig deutlich – und egal was man beobachtet: die Energie, die dafür aufgewendet wird, wird dem Beobachteten entzogen. Seine Kraft, den „ganzen Menschen“ einzunehmen, ist dahin… die Bewusstlosigkeit des Alltagsschlafs ist durchbrochen und „automatenhaftes Reagieren“ wird verunmöglicht (natürlich kann man von heftigen Emotionen aus dem Beobachten auch mal „heraus geworfen“ werden, klar! Nobody is perfect.. :-)

    Mit „wasch mich, aber mach mich nicht nass“ hat das nichts zu tun, dazu fällt mir nicht mal ein „möglicher Bezug“ ein! Die Beobachterfunktion ist neutral und wertet nicht, bzw. beobachtet auch die Wertungen, die der Verstand vornimmt, nur wie ein Wetterphänomen.

    Solang man darauf besteht, nur zum wertenden Verstand „ich“ zu sagen, kann man nicht wirklich beobachten, denn alles wird sich dann entsprechend den Prämissen des Verstands verzerrt darstellen.

    Wenn der Beobachter NICHT neutral ist, dann IST es nicht der Beobachter!

    Soweit dazu – zum GANZEN schreib ich aber noch was, später.

  18. „Wenn der Beobachter NICHT neutral ist, dann IST es nicht der Beobachter!“
    Ist das Deskription? Oh nein, das ist Präskription!
    Der Beobachter ist nie neutral. Welche Anmassung – viewing ist nothing but part of the game! Niemand verläßt das Haus. Draußen ist Regen. Wir hassen ihn. Weil er uns fremd ist. Und bleibt. Nur im Drinnen sind wir beieinander.

    Und mit wem redest du, wenn nicht mit dem Verstand? Nichts anderes bindet uns aneinander.  Zumindest, wenn wir reden.
    Sehr gespannt, was – und ob – du sagst!
     

  19. Ich verstehe deinen Beitrag nicht ganz – und will auch nicht erst „Präskription“ nachgoogeln. Was ich beschrieben habe, ist meine Erfahrung und Praxis seit mehr als 15 Jahren – und es hat nichts mit Kommunikation mit Anderen zu tun, sondern ist Selbstbeobachtung, die dann in Selbstreflexion mündet (=nicht dasselbe!). Das Beobachten geht dem bewerten voraus, bzw. findet davon unabhängig statt. Bewertungen sind Objekt der Beobachtung, genau wie Lust- oder Schmerzempfindungen im Körperlichen. Besser beschreiben kann ich es nicht – muss auch nicht, mir reicht, dass ich es erleben kann, was die Verfallenheit an die 10.000 Dinge, Gefühle, Befindlichkeiten und Bewertungen spürbar mindert.

  20. @Susanne:

    “ Und warum sollte ich eine Harmonisierung meiner Gefühle überhaupt anstreben?“

    Das kann man nicht anstreben, das passiert von selber, wenn man die Gefühle einfach nur beobachtet. Manche sagen dazu auch „annehmen“, „ernst nehmen“, „sich Aufmerksamkeit schenken“ – das ist mir alles zu sozialtherapeutisch. Schaut man einfach hin, schmelzen drastische Emotionen weg wie Eis in der Sonne. Unterbricht man das „nur hinsehen“, indem man den damit assoziierten Gedanken folgt (=z.B. herum rechten = rationalisieren), gibt man ihnen neue Nahrung, evoziert sie ein neues Mal.

    „Dann befreie ich mich und meine Gefühle ein wenig aus den engen Grenzen der Borniertheit und Abhängigkeit, und vielleicht erfahre ich mich damit als offener und erweitere die Möglichkeiten meines Handelns ein Stückchen.“

    Ganz gewiss – und umso mehr, je deutlicher dabei wird, dass das Objekt der Beobachtung nicht das Subjekt sein kann. Kommt einer daher und will mir mit ein paar blöden Sprüchen an den Karren fahren, ich ärgere mich und gehe in Verteidigungshaltung – bemerke das jedoch sofort, sehe die Automatenhaftigkeit dieses Prozesses und bin damit (für diesen Moment) von der Identifikation mit dem beleidigten Ego befreit. Kann sogar darüber lachen (= Gefühl/Emotion aufgrund einer der Beobachtung folgenden Reflexion und Neubewertung) und habe die Chance, den Prozess NICHT weiter ablaufen zu lassen, denn nun hab‘ ich eh schon den Bauch entspannt, ruhig geatmet – es ist vorbei.
    Um Missverständnissen vorzubeugen: ich denke nicht daran, das „Ego“ abschaffen zu wollen, wie es manche spirituellen Lehren anstreben. Es ist ein unverzichtbares Wahrnehmungsorgan, denn es ist hilfreich, zu WISSEN, wann einem jemand an den Karren fahren will! Jedenfalls solange wir uns in einer Welt bewegen und unseren Alltagsgeschäften nachgehen.

    „Kann nicht auch die pralle, johlende, schreiende Wut mich frei und offen machen – wenn ich nur zugebe, was alles an Liebe und Verzagtheit und Angst womöglich noch mit ihr einher geht?“

    Die Wut verengt den Blick und schmerzt denjenigen am meisten, der sie fühlt. Und WENN ich wütend bin, ist mir Liebe, Verzagtheit und Angst echt kein Thema. Mag sein, dass Angst oder das Einsetzen rationaler Überlegungen das „zuschlagen“ verhindert – das aber kann nicht dazu dienen, die Wut als solche irgendwie zu glorifizieren.

    „So, das hat mir jetzt richtig Spaß gemacht, und ich hoffe, nicht gar zu grantig daher gekommen zu sein. Vermutlich fällt dir schon etwas ein, daß mich dann am Ende doch nicht so prima da stehen läßt, wie ich es gerne täte. Macht aber nix.“

    Don’t worry, wir stehen hier beide ganz prima da – allein schon wegen des tiefen Schürfens in den Themen! Ich finde es immer toll, wenn du dich so einlässt, denn so ein Diskurs klärt und verfeinert das eigene Denken – danke dafür!! Mitlesern geben wir vielleicht Anreize, da selber mal genauer hin zu schauen, mehr ist von meiner Seite nicht intendiert. Ich spreche ja über das, was ich erlebe. Durch „in Frage stellen“ wird das intellektuell eventuell fassbarer, „wegdiskutieren“ kann man es ja nicht. :-)

  21. Nur noch einmal kurz, damit es kein Bandwurm wird:
     
    Präskription: weil dein Satz “Wenn der Beobachter NICHT neutral ist, dann IST es nicht der Beobachter!” einen Sachverhalt vorschreibt, und – nach meiner Auffassung – nicht beschreibt.
     
    Wut: ich möchte sie nicht glorifizieren, aber auch nicht verdammen. Ich weiß ohnehin nicht, ob ich Gefühle im vorhinein ‚bewerten‘ kann oder will.  Mir kommt es so vor, als hättest du eine implizite Top-20 der Gefühle, mit Wut, Zorn, Hass usw. auf den hinteren Plätzen und Ruhe, Entspannung, Zufriedenheit usw. ganz vorne. Und begrüßt alles, was deine gefühlten Gefühle (oje!) so erscheinen läßt,  als rekrutierten sie sich aus den vorderen Plätzen.
    Du sagst, „…dass das Objekt der Beobachtung nicht das Subjekt sein kann„. Welche seltsame Beschreibung, wenn es darum geht, sich seiner selbst beobachtend-redend zu vergewissern. Wird doch für mich gerade hierbei so schreiend klar,  daß eben gerade das nicht der Fall ist. Das beobachtende Subjekt und das beobachtete Objekt – beide drängeln sich in ein und derselben Schüssel und wir laufen immer Gefahr, für ‚objektiv‘ zu nehmen, was höchst ’subjektiv‘ ist. Für ’so-ist-es‘ auszugeben, was nur ‚ach-wie-schön-wäre-es‘ ist.
     
    Oha, jetzt reicht’s aber. ;-)
     

  22. Ich habe nun schon öfter die Erfahrung gemacht, daß ein Streben nach „guten Gefühlen“, für mich sind das Glück, Zufriedenheit, Entspannung, Schmerzfreiheit, Heiterkeit, Nähe, Wärme …, von einigen als ganz unecht, utopisch und langweilig empfunden wird. Offensichtlich ist jenen die Dosis Kampf (Wut, Zorn, Hass ..), Verurteilung anderer, darauf folgendes angegriffen werden, Schuldgefühle und am Schluß eine Prise Selbstmitleid, anregendes und unterhaltsames Programm. Oft höre ich, das sei das Salz oder der Pfeffer des Lebens und Glückseligkeit sei dagegen nichts als öde.

    Für mich bestätigt das die Tendenz des Verstandes, sich den jeweiligen Entwicklungsstand schönzudenken. Davon sind selbstverständlich auch diejenigen betroffen, die mit ihrer andauernden Glückseligkeit klarkommen müssen. ;-)

  23.  
    @Uwe:

    Also, Uwe, um deiner polemischen und völlig einseitigen Schilderung mal die Schlagseite durch ebensolche einseitige Polemik zu nehmen:
     
    Ist es nicht so, daß jenen, die nach den ‚guten Gefühlen‘ streben, äußerst anregend ist, wenn ihr privates Glück das Unglück anderer ausblendet (der Dieselkat als Ablaßzettel für den hemmungslosen Fleischkonsum, der in Brasilien den Regenwald dezimiert..), wenn ihre Zufriedenheit aus der Unzufriedenheit anderer sich nährt (prima, abends einkaufen zu können, irgend jemand wird sich schon finden, der auch dann noch zu arbeiten bereit ist..), wenn ihre Entspannung die Aspannung anderer nötig macht (wunderbar, dieses Trompetensolo aus meinen Lautsprecherteufeln, da kann sich der Heini nebenan mit dem Ghettoblaster und seinem ewigen Technogebummse mal anhören, was wahre Lautstärke ist..), wenn ihre Schmerzfreiheit andere schmerzt (ich bin privat versichert, Herr Doktor, also bitte mit Spritze vorm Bohren, meine Kasse zahlt jeden Hebesatz..), wenn Heiterkeit auf Kosten anderer geht (zwei Dinge hasse ich, Rassenvorurteile und Nigger an der Bar..), wenn ihre Nähe andere ausgrenzt (solche Leute ziehen zum Glück einfach nicht in unsere Straße..) und ihre Wärme andere frieren macht (naja, das Gas ist schon teuer, aber morgens in ein warmes Bad zu kommen ist es uns einfach wert..)?
    Offensichtlich ist jenen ihre Dosis Wohlbehagen (Glück, Zufriedenheit, Entspannung.. ) Benachteiligung anderer, darauf folgendes sich gegen diese verteidigen und diese unterdrücken mpssen, dann ein paar Schuldgefühle hegen und am Schluß doch eine Prise Stolz über die eigene Bessergestelltheit empfinden, anregendes und unterhaltsames Programm.
     
    Damit will ich klar machen, daß du bestimmte Gefühle mit etwas verteufelst, das diesen Gefühlen nicht per se anhaften muß. Sondern du nimmst (ggf. deine) Erfahrungen über den Umgang mit ihnen und mögliche Folgen dieser Gefühle, um sie in dem von dir gewünschten Licht erscheinen zu lassen.
    Und daß unser Verstand uns den Status quo schön zu reden bemüht ist, liegt an vielem, aber nicht daran, daß wir Zorn oder Wut empfinden. Die hindern den Verstand doch wohl eher daran, das, was zu sein scheint, für schön zu nehmen.

  24. @Susanne: zu deinem vorigen Beitrag (nicht zum Disput mit Uwe)

    ich schrieb doch oben „Das kann man nicht anstreben, das passiert von selber, wenn man die Gefühle einfach nur beobachtet.“  Wie du plötzlich dazu kommst, mich unter die (bewusst) Strebenden einzureihen, weiß ich nicht. (Unbeswusst gehört es zur Condition Humain, nach dem Angenehmen zu streben und das Unangenehme zu fliehen – sonst hätten wir gar nicht überlebt!)

    Man fühlt, was man fühlt – und wenn man die Aufmerksamkeit ein wenig auf die Beobachtungsfunktion (auch „Gewahrsein“ genannt) verschiebt, dann ändern sich die Gefühle, man ist ihnen weniger ausgeliefert. Das gilt, egal wie man sie im einzelnen bewertet, ob man sie genießt oder verabscheut.

    Bewerten ist „drüber nachdenken“ – im Augenblick findet etwas anderes, nämlich spontanes Reagieren statt, dass man (weil z.B. die Flucht ergriffen wird, Begehren oder Aggressivität gespürt wird) als „bewerten“ interpretieren kann, doch ist das ja keine mentale Funktion.

     

  25. Ich freue mich, daß Du mir geantwortet hast SuMuze.
    Danke für Deine unterhaltsame „Gegen-Polemik“ zur Wiederherstellung des Gleichgewichts. Doch gleich zum Thema, das mich bewegt:

    Eigentlich möchte ich nichts verteufeln sondern nur verstehen. Es ist tatsächlich so, daß ich grundsätzlich völlig damit einverstanden bin, daß verschiedene Menschen einen unterschiedlichen Gefühls-Mix bevorzugen. Wer bestimmte Gefühle gerne mag (Wut, Zorn, Hass ..) wird sie sich also herbeiführen, auch wenn ich persönlich nicht so gerne länger zornig bin. Wenn ich nichts davon abbekommen möchte, dann kann ich mich ja dagegen abgrenzen. Soweit so gut. Doch jetzt hilf mir bitte.

    Was mache ich mit meinem Gefühl des Mitleidens, wenn ich bemerke, wie ein großzügiges Ausleben von Wut, Zorn und Hass, sich aus meiner rein subjektiven Sicht für die Beteiligten schmerzhaft isolierend auswirkt? Kann ich tatsächlich glauben, daß ich da voreingenommen bin und es für die anderen nur ein Spaß ist, dem irgendwann Versöhnung folgt bzw. daß es sich einfach um einen alternativen Lebensstil handelt? Wenn dem so wäre, würde mir das eine Menge gefühlter Verantwortung abnehmen.

  26. @Claudia

    Oha, ja, ich denke, du hast Recht. Ich werde (kühler..) nachdenken. ;-)
     
     
    @Uwe
     
    „Was mache ich mit meinem Gefühl des Mitleidens, wenn ich bemerke, wie ein großzügiges Ausleben von Wut, Zorn und Hass, sich aus meiner ein subjektiven Sicht für die Beteiligten schmerzhaft isolierend auswirkt?“
    Das weiß ich auch nicht. Dein Beispiel mißbehagt mir. Wie kannst du etwas bemerken, das sich ‚isolierend‘ auswirkt? Es tut das doch gerade wohl nicht, wenn du es bemerkst. Frage dich doch besser, was es dir bedeutet, etwas offenbar Mitgeteiltes als Isolierendes wahrzunehmen.

  27. @Uwe: ich bezweifle, dass irgend jemand „Wut, Zorn, Hass“ GERNE MAG – wohl aber gibt es ein Streben nach Erregungszuständen, anders wäre das freiwillige Ansehen dramatischer Filme (Kampf, Krieg, Katastrophe…) und dergleichen nicht zu erklären. In unserer wattierten Zivilisation ist es für die große Mehrheit möglich, allzu heftige, sogenannt „negative“ Gefühlswallungen zu vermeiden. Klar, dass sich dann eine unbewusste Sehnsucht nach dem Ausgleich einstellt, der auf verschiedene Weise befriedigt werden kann.

    Es wäre allerdings absurd, in der Kommunikation mit den Mitmenschen deren heftige Gefühlsreaktionen als so motivierte ABSICHT zu deuten! (Cowper Powy riet aus Gründen der Psychohygiene in seinem Werk „Kultur als Lebenskunst“ gerade zum Gegenteil: man unterstelle einzig sich selber die volle Bewusstheit und gehe davon aus, die anderen hätten keine Wahl). Damit entzieht man sich der Kommunikation, da man die so vermittelten Botschaften nicht richtig ernst nimmt. Das vertrittst du ja auch nicht, wie ich aus deinem Folgeposting entnehme, sondern bekennst dich nur selbst zum „Streben nach guten Gefühlen“.

    “Was mache ich mit meinem Gefühl des Mitleidens, wenn ich bemerke, wie ein großzügiges Ausleben von Wut, Zorn und Hass, sich aus meiner ein subjektiven Sicht für die Beteiligten schmerzhaft isolierend auswirkt?”

    Es isoliert sie nicht von dir (wie es Su hier wohl verstanden hat), sondern du empfindest Mitgefühl wegen der Wirkungen, die solche Menschen auf Andere haben (die dann die Flucht ergreifen) – richtig?

    Ich fühle dann einfach mit und konzentriere mich (mittlerweile ganz automatisch) verstärkt auf Atem und Anspannung in der Bauchdecke, damit ich nicht doch noch von der Wut „erwischt“ werde (schließlich sind die Spiegelzellen weiter aktiv… entspannt empfinde ich jedoch nicht die Wut, sondern das damit abgewehrte Leiden = Mitgefühl). Allerdings ist es durchweg so, dass Wut und ähnliche Wallungen schnell vergehen, wenn sie keinen Widerpart finden, der sie mit entsprechenden Reaktionen nährt. Entweder, man kommt dann auf den Teppich, ODER die Person stimuliert sich selbst, indem sie „im Elend kreist“ und sich (und mir) das, worüber sie gerade wütet, immer wieder „vorerzählt“. Das kann ich unterbrechen und das Gespräch ins Hier & Jetzt führen – und wenn auch das nicht hilft, dann entferne ich mich, bzw. beende die Kommunikation wegen Sinnlosigkeit.

  28. Danke, Claudia, das war erhellend und hilfreich.
    Jetzt sehe ich auch, wie SuMuze mich verstanden hatte und verstehe ihre Antwort.

    Ja, ich empfinde Mitgefühl für verletzte und wütende Menschen, die „im Elend kreisen“ und sich dadurch selbst isolieren, weil sie damit andere verscheuchen. Auch mich, da ich mich dann doch abgrenzen möchte.

    Ich kann nicht umhin, Wut und Hass als unproduktiv zu empfinden, weil das Verharren in diesen Gefühlen letztlich die Kommunikation blockiert und das Gefühl der Verbundenheit verhindert.

    Vielleicht komme ich da ja mal drüber.

  29. Ist es nicht ein Stück Freiheit sein eigenes Leben zur Zufriedenheit zu leben? Wenn du dir das weltliche schnelle Leben anschaust bin ich wirklich froh darum auch nur etwas Freiheit in meinen eigenen 4 Wänden zu haben. :-)