Eigentlich ein ganz normales Treffen. Gemütlich sitze ich mit zwei lieben, langjährig bekannten Kollegen auf der Veranda einer frisch angemieteten Idylle am Rande Berlins. Ich bestaune den freundlichen Garten, die waldreiche Umgebung: mitten im Grün zu wohnen ist doch wirklich wunderbar! Noch dazu sind es kaum fünfzehn Autominuten bis zum Kudamm, wenn man es versteht, die richtige Autobahnauffahrt zu finden. Auf dem Herweg ist mir das leider nicht gelungen.
Immerhin bin ich angekommen. Mein Orientierungsvermögen im realen Raum ist nämlich mehr als beschränkt, allenfalls für kleine Fußwege auf bekanntem Terrain ausreichend. Wenn ich wirklich einmal weitere Strecken fahre (also nicht nur bis zum Fitnesscenter, sondern auf die andere Seite der Stadt), quäle ich mich mit dem Stadtplan von Ampel zu Ampel, schaffe es niemals wirklich, mich in der kurzen Haltephase ausreichend zu orientieren, verärgere regelmäßig Autofahrer hinter mir, die mich hupend daran erinnern, dass jetzt grün ist. Mit dem quadratmetergroßen Plan über dem Lenkrad kämpfend, behindere ich andere Menschen in ihrem Recht auf ein schnelles Fortkommen, weil ich selber da einfach einen Knacks in der Birne habe! Selbst nach über 20 Jahren Berlin ist keine Besserung in Sicht – ätzend!
Was ich eigentlich erzählen wollte: Wir sitzen also auf der Veranda und plaudern gemütlich über unsere aktuellen und künftigen Projekte, während im Wohnzimmer, das sich zur Veranda hin öffnet, die 12jährige Tochter meines Kollegen auf eine kleine Trommel einschlägt. Erst haut sie eine Zeit lang auf den hölzernen Rand, dann auf das Trommelfell, dann auf ihre eigenen Oberschenkel und zur Abwechslung auf die Sitzfläche der Couch. Schließlich greift sie sich ein kleines Holzschränkchen und trommelt darauf weiter, ja, jetzt wird es richtig laut! Wir schauen ihr zu, ohne Ärger, wissen wir doch, dass sie nicht hören kann: Nicht den Ton, den sie der Trommel oder anderen Gegenständen entlockt, nicht unsere Stimmen, nicht das Radio, nicht das Rauschen der nahen Autobahn und auch nicht das Zwitschern der Vögel im Garten. Vera weiß nicht einmal, dass ich gekommen bin, dass eine Fremde mit ihrem Vater auf der Veranda sitzt, seit Stunden schon. Vera sieht nicht und hört nicht, Vera ist taubblind.
Was für ein Leben muss das sein, so ohne Licht, ohne Farben, ohne Töne? Oft hab‘ ich mich das gefragt und automatisch angenommen, es müsse leidvoll sein. Das wird mir jetzt erst richtig bewusst, wo ich Vera zusehe: ein Mädchen, das kein bisschen leidend wirkt, sondern fröhlich vor und zurück schaukelt, trommelt, alle erreichbaren Gegenstände betastet, auf den Boden schlägt – immer bleibt sie irgendwie in Bewegung, ruckelt hin und her, wippt auf und ab. Flexibel wie ein Schlangenmensch schlägt sie die Beine übereinander, knickt spielerisch in der Hüfte ab, wiegt nun liegend die verknoteten Beine auf- und nieder. Yoga-Übende kennen eine ähnliche Haltung: der mit dem Lotus-Sitz kombinierte „Fisch“. Nur dass es den meisten Yoga Übenden ziemliche Mühe macht, die Beine derart zu verschränken.
Anders als ich gedacht hatte, spielt das taubblinde Mädchen ganz für sich. Lange Zeit vergeht, ohne dass sie etwas oder jemanden braucht. Wir unterhalten uns und sie spielt und schaukelt dahinten, es ist kein Problem. Als wir später um den Kaffeetisch sitzen, verdrückt sie in Windeseile kleine, für sie zurecht geschnittene Käsebrote – dann sitzt sie rittlings auf Vaters Schoß, schaukelt wieder weiter, schlägt ihm mit beiden Händen auf den Rücken, kuschelt sich in seine Arme, stößt ihn mal eben heftig mit dem Kopf, weint sie jetzt etwa? Ich begegne ihr heute zum ersten Mal und kann nicht gleich alle Regungen und Bewegungen deuten. Immer seltsamer erscheint mir auch die Tatsache, dass sie nicht weiß, dass ich da bin. Andrerseits: Sie einfach so berühren geht nicht, das wäre vermutlich äußerst erschreckend. Also sehe ich den beiden nur zu, diesem ständigen Fluss der Bewegungen: schlagen, tätscheln, streicheln, massieren, schaukeln, umarmen, drehen, wiegen, klopfen – Kommunikation durch Berührung. Erst wirkt es ein wenig wunderlich, doch je länger man zusieht, desto selbstverständlicher wird es. Unser Gespräch über eine Datenbank für verschlüsselte Mailadressen wird dadurch jedenfalls nicht gestört.
Es ist schon Nachmittag, bald werde ich die Heimreise nach Friedrichshain antreten. Seit einiger Zeit schon bin ich aufgestanden, gehe plaudernd und gestikulierend vor dem Tisch auf und ab, Himmel, es ist wirklich öde, so lange reglos auf einem Stuhl zu sitzen! Ich verlagere das Gewicht vom rechten auf den linken Fuß, massiere ein bisschen den Oberarm, trete vor und zurück, stelle mich auf die Zehen und wippe auf und ab. Ich genieße den Kontakt der Fußsohlen mit dem Parkettboden – Zehen, Ballen, Ferse, und dann wieder umgekehrt. Mit den Fingern möchte ich eigentlich gern mal auf diesen schönen Holztisch trommeln – was ist nur los, hab‘ ich zuviel Kaffee getrunken?
Nein, ich merke erstaunt: es ist nicht der Kaffe, es ist Vera. Das Mädchen ist hochgradig ansteckend! Ihr Sich-Bewegen-wie-es-gerade-kommt macht Lust, es ihr nach zu tun. Für den Verstand wirkt dieses „Herumwuseln“ erst einmal völlig verrückt, der Körper aber weiß Bescheid und wird neidisch, möchte auch in diese Freiheit eintreten, sehnt sich geradezu danach, das ihm eigentlich zugehörige Universum des Spürens ebenso lebendig zu erforschen und zu beleben. Da ist nicht Verrücktheit, nicht Störung, nicht einmal Behinderung. Sondern einfach Bewegung, unbehinderte Bewegung, das, was da ist, wenn man mal vom Hören & Sehen absieht. Nicht nur bei Vera, sondern bei jedem, bei allen, auch bei mir: es ist der Rhythmus, wo ich mit muss!
„Stell mich doch mal vor!“, sag‘ ich zum Vater und strecke meine Hand aus, Handfläche nach oben. Ganz spontan kommt mir diese Bewegung richtig vor, eine Einladung zur Berührung. Aber leider – ich dachte es mir schon – ist es für heute zu spät für eine Kontaktaufnahme. Es wäre ja nicht nur ein kurzes Handschütteln, wie es uns Sehenden und Hörenden genügt, ja, wie wir es – zumindest im Westen – auch schon weitgehend abgeschafft haben.
Schade. Es hätte mir jetzt bestimmt großen Spaß gemacht, mich einfach in diese Spontaneität fallen zu lassen. Einfach tun, was der Körper tun will, nicht mehr ruhig und still und aufrecht und „konzentriert“ auf dem Stuhl sitzen, sondern „im Fluss sein“, das Gegenüber und die ganze Welt berührend erkunden – es ist wie Lust auf Tanzen.
Bestimmt werde ich einmal wiederkommen. Ich verabschiede mich, setze mich ins Auto, finde diesmal dank genauen Anleitungen unproblematisch den Weg in die City. Während ich durch Kreuzberg fahre, gehen mir vielerlei Gedanken durch den Kopf. Über „Behinderung“, bzw. das, was wir so nennen. Wie wir aus all diesen Abweichungen von der Norm so ein Riesenproblem machen: nicht nur ein organisatorisches, pflegerisches Problem, sondern vor allem ein Problem im Kopf und im Herzen. Wir sehen immer nur das Defizit, das, was den „Behinderten“ (im Moment find‘ ich das Wort irgendwie komisch) fehlt, aber niemals das, was sie uns – deshalb! – voraus haben. Und schon gar nicht das Potenzial, das sich aus diesen Andersartigkeiten, die auch Fähigkeiten sind, ergeben könnte.
In einer anderen, weniger verrückten Welt wäre Vera nicht Problemfall, sondern Therapeutin. Zu für Körperarbeit oder Massagen üblichen Stundensätzen von 30 bis 80 Euro würde sie Menschen empfangen und behandeln, indem sie einfach auf IHRE Weise mit ihnen kommuniziert. Ich denke an verspannte, neurotische Menschen, an alle, die steif wie ein Stock nur aus dem Kopf leben, an die auf vielfältige Weise von Ängsten geplagten, an alle, die man einfach mal heftig schütteln müsste, damit sie von ihrer persönlichen Macke herunter kommen. Aber eben auf eine Art, die nicht noch mehr angst macht.
Nicht zu vergessen die vielen, die – gesund aber unheilbar unzufrieden – gern allerlei Workshops, Übungssysteme und „Behandlungen“ ausprobieren und gut bezahlen. Vieles davon, wie etwa Yoga, Feldenkreis, Alexandertechnik, Shiatsu, etc., bedeutet das Ein- oder ausüben sehr kontrollierter Bewegungen. Es gibt aber auch Methoden, die das Gegenteil lehren bzw. ermöglichen sollen: Tanzen, intuitiv massieren, „dynamische“ Meditation, Körperbemalungen, vielerlei Übungsweisen, die das „Ki“ in spontanen Bewegungen erlebbar machen sollen – oh, man kann da jede Menge Geld los werden!
Andrerseits gibt es Taubblinde, die nichts anderes KENNEN, als die Welt der Bewegung und Berührung, sie sind immer SO, immer Da, immer im Hier & Jetzt! Spontaneität in psychophysischer Hinsicht müssen sie sich nicht erst mühevoll erarbeiten. Diese Menschen sehen wir aber als Sozialfälle an, als von vornherein für die Gesellschaft nutzlosen Ballast, den man aus humanitären Gründen und christlicher Nächstenliebe (falls noch Restbestände vorhanden) bestmöglich versorgt. Nun ja, was heißt schon bestmöglich: Wer selber Menschen mit behinderten Kindern kennt, weiß, dass es jede Menge Schwierigkeiten bedeutet und einen ständigen Kampf um Unterstützung, um Geld, um Anerkennung, um vieles, was man sich als unbetroffener Ignorant einfach nicht träumen lassen würde. (Weil wir ja auch eher selten hingucken…).
So, es ist jetzt fast geschafft, die Oberbaumbrücke, einzige Verbindung zwischen Kreuzberg und Friedrichshain, liegt schon hinter mir. Kein Stau hat mich aufgehalten, jetzt noch ein bisschen Parkplatzsuche und die Heimat hat mich wieder. Es war ein guter Tag – einerseits wegen den Freunden und den interessanten Gesprächen. Aber auch wegen Vera, der Bewegungsmeisterin: Sie hat mir gezeigt, dass ich noch ein lebendiger Mensch bin und nicht nur eine vernünftige Stuhlbesitzerin. Im Moment fühl‘ ich mich so richtig nach tanzen & springen! Der Platz vor dem Monitor kann mich heut‘ abend jedenfalls nicht mehr locken!
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