Jan Tißler hat in seinem Mag UPLOAD die 5 Phasen des Bloggens beschrieben: Annäherung, Euphorie, Ernüchterung, Gleichgültigkeit und Sucht. Demnach müsste ich schon viele Jahre ein „süchtiges Leben“ führen, was auf jeden Fall stimmt, wenn man es als Sucht ansieht, vom Schreiben und Webprojekte basteln nicht lassen zu können. Der Artikel inspiriert mich, die eigene Webgeschichte auszugraben – und die geht so:
Als das funkelnagelneue Web meine Aufmerksamkeit fesselte, war ich hin und weg! Die Annäherung wurde blitzgeschwind zur Euphorie: Da konnte ja JEDER rein schreiben, Seiten ganz nach eigenem Geschmack gestalten und veröffentlichen: schreiben (Netzliteratur), Kunst machen (Web.Art), und andere frei schweifende Geister kennen lernen – wow!!!
In der Steinzeit des Webs
Man schrieb das Jahr 1996: damals baute man binnen Stunden Webprojekte aus statischen Seiten – ohne jede Vorgabe. HTML war noch ganz simpel, ein Nachmittag reichte, um loszulegen. Es gab noch keine Gewohnheiten, wie etwa „Navigation“ gehen soll, wie man strukturiert und wie eine Website auszusehen hat. Es gab nur Links, die man auf Texte oder Bilder setzen konnte, mehr „Tradition“ war nicht. Wir bauten fantasievolle Webseiten, auf deren Bildern und Objekten man mit der Maus herum fahren musste, um die Links zu finden – und fanden das toll! Wir schrieben uns Mails zu den neuesten Werken und veröffentlichten sie ober- oder unterhalb der Artikel , händisch halt, aber doch recht schnell. Wir glaubten, die Welt werde sich jetzt grundstürzend ändern, da es unmöglich schien, im Web so etwas wie „Eigentum“ festzuschreiben – und natürlich, weil jeder mit jedem kommunizieren konnte, Netzanschluss vorausgesetzt.
Ich fuhr schwer ab aufs „webben“, kam vom Monitor kaum mehr weg und führte ein „Cyberzine“ („Missing Link“), in dem ich schrieb, was ich so über die Welt dachte. Ab und an bekam es ein neues Outfit und eine neue Struktur, parallel entstanden weitere Projekte, wenn das neue Thema nun wirklich nicht mehr passte oder ich Lust verspürte, mal wieder alles ganz anders zu machen. Indem das Web immer mehr wuchs und nun auch kommerziell wurde, war es jedoch plötzlich gefährlich, irgend einen griffigen Namen zu wählen. Es könnte ja unwissentlich ein Markenschutz verletzt werden oder sonst ein „Recht“ – und weg wär‘ die Domain bzw. der Name und alle Arbeit für die Tonne! Meine Begeisterung für ein Thema war zudem recht sprunghaft und hielt selten länger als drei Monate: dann war im Grunde schon wieder das neue Projekt fällig, mindestens aber ein größeres Redesign mit neuer Struktur und neuem Design. Es wurde mir zuviel Arbeit – eigentlich wollte ich ja nur ins Web schreiben!
Der Charme des Tagebuchs
Als ich 1998 dann mal wieder das Rauchen aufgab, schrieb ich dazu ein „Nichtrauchertagebuch“ (The Power of now), das – von heute aus betrachtet – schon ein wenig „Blog-Gestalt“ hatte. So entdeckte ich den Charme und die Einfachheit der „Tagebuch-Schreiberei“. Nach drei Monaten war das Thema Rauchen für mich durch, ich schloss das Projekt ab, vermisste aber auf einmal das „tagebuchartige“ Schreiben. Also meldete ich die Domain claudia-klinger.de an (die kann mir niemand absprechen!) und begann dort, im „Digital Diary“ zu schreiben – und bald auch wieder zu rauchen.
Landleben, Netzleben
Das war 1999. Zur Jahrtausendwende wurde der Weltuntergang namens „YTK“ angesagt, blieb aber dann doch aus. Ich zog für zwei Jahre nach Mecklenburg und erfüllte mir meinen Traum, vom Monitor weg direkt auf die Wiese wechseln zu können – mit rundrum nur Landschaft. Das Netz war schließlich überall, ich brauchte ja nur in Berlin ausstöpseln, am Zielort einstöpseln und den nächsten Beitrag schreiben. Das Diary bekam den Untertitel „Vom Leben auf dem Land und in den Netzen“. Zwei Jahre später stöpselte ich wieder in Berlin ein – zwar brauche ich nicht so viel „Real Life“, aber das Land bot doch auf Dauer wenig Anregung und Inspiration. (Da waren ja nicht mal Graffiti an den Wänden!) Bye bye Landleben!
11/9
Im Diary schrieb ich weiter, ohne mich einer Frequenz verpflichtet zu fühlen, jedoch immer, wenn etwas für mich WICHTIGES vorfiel. Dann kam der 11.September, der mich über eine Woche verstummen ließ, während sich im Web alle Welt kommunikativ in Kriege verstrickte. In Mailinglisten ging die Post ab, Foren gestandener Literaten wurden geschlossen, weil das Flaming und die Zerwürfnisse überhand nahmen, während ich keinen Satz zum Thema sagen konnte (aber auch nicht kommentarlos über etwas ANDERES weiter schreiben). Das Ereignis und die Mega-Welle seiner Wirkungen war ZU GROSS für das Diary, zu groß für mich. Bis ich dann doch weiter schrieb („Vom Glück mitten im Grauen“), schließlich konnte ich ja nicht aufhören, bloß weil die Welt sich geändert hatte.
Und wieder alles neu..
Das Diary blieb, die Technik wechselte: ab 2002 verschwanden die steinzeitlichen Frames, die Seiten wurden jetzt beim Aufruf per SHTML zusammen gesetzt. Dann kam „Full CSS-Design“, eine wirklich gravierende Veränderung. Ich musste 80% meines alten HTML-KnowHows vergessen und Webdesign neu lernen. Es war eine frustrierende Erfahrung, wenn ich auch einsah, dass es nötig war, um das zu komplex gewordene Chaos im Web wieder zu bereinigen. Es dauerte lange, bevor ich mit CSS (fast) alles machen konnte, was ich mit den alten Methoden perfekt beherrscht hatte. Mittlerweile wurde allerdings immer weniger von „allem“ verlangt, ich brauchte so manches gar nicht erst lernen. Webseiten wurden immer gleichförmiger, damit der Kunde schnell zum Kaufklick findet und der Leser möglichst viele „Page-Impressions“ erzeugt. An solche Seiten gewöhnte User wären nur genervt, wenn ich auf meinen Seiten „Kunst mache“. Webdesign begann, mich zu langweilen, doch schrieb ich natürlich weiter Digital Diary.
Das erste Blog-Script: WordPress
2006 setzte ich es dann auf ein WordPress-Blogscript und pfriemelte die Diary-Optik in die PHP-Dateien eines „Themes“. Zum ersten Mal nahm ich die Bloggerszene wahr, doch mit meiner Motivation hatte das nichts zu tun. Ich hatte einfach keine Lust mehr, für jeden Beitrag zehn Minuten händisch technische Idiotenarbeit zu leisten, wenn auch „einfach rein schreiben“ zur Verfügung stand. Zwar geschaffen für Ahnungslose, die sich HTML&Co. gar nicht erst antun wollten, aber immerhin funktionierend und meinen mittlerweile geschrumpften Ansprüchen ans „webben“ entsprechend: Schließlich WOLLTE ich gar nicht mehr jede Rubrik anders aussehen lassen und beliebig tief schachteln…
Mittlerweile machten die „Blogger“ zunehmend von sich reden: Himmel, eine neue schwurbelnde Szene mit im Prinzip denselben Themen und derselben Gruppendynamik wie in den wilden Zeiten der ersten Jahre! Tja, so ist es, älter zu werden: die Dinge kehren wieder – ein wenig anders gestylt und von Jüngeren getragen, aber doch „altbekannt“.
Vielleicht bleiben ein paar „Blogger“ dabei, treten aus der Phase 5 („Sucht“), die UPLOAD beschreibt, über ins zeitlose „webben“ – für mich heißt es immer noch so und bedeutet immerhin „vernetzen“. Die werden dann in zehn, fünf oder drei Jahren erleben, dass eine neue Szene wieder heftig drauf abfährt, wie wunderbar und einfach es ist, was sie da gerade neu entdeckt haben. (Schon jetzt gibt es ja die vielen, die nur schreiben, wo man das ganze Blog-Know-How nicht braucht….)
Nächstes Jahr wird das Digital Diary ZEHN und sieht noch immer weitgehend so aus wie zum Start. Denn im Netz ändert sich ständig alles, Seiten verschwinden, ändern ihr Aussehen oder ihren kompletten „Content“. Das Digital Diary bleibt und führt mich „vom Sinn des Lebens zum Buchstabenglück“. Hoffentlich solange, wie ich eine Maus klicken kann – das muss auch vom Bett im Pflegeheim aus gehen, denk ich mir!
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Zuerst veröffentlich am 15.5.2008 im Webwriting-Magazin, 2016 hierher übernommen, wer weiß schon, was aus dem WWMAG wird…
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