„Eines der zentralen Probleme unserer Lebensform ist die Einsamkeit. Und die wird nicht dadurch gelindert, dass wir nunmehr per Internet mit aller Welt kommunizieren können“, sagt der Benediktinermönch und ZEN-Meister Willigis Jäger in seinem lesenswerten Buch „Die Welle ist das Meer“. Richtig, ich fühl‘ mich grad‘ unglaublich einsam – und auf seltsame Weise ANDERS einsam als vor den Zeiten des Netzes.
Damals kannte ich eigentlich nur Menschen aus Berlin, die meisten wohnten sogar im selben Stadtteil. Wollte ich mal mit jemandem reden oder einfach unter Leute gehen, musste ich mich bewegen, das Haus verlassen, öffentliche Orte aufsuchen oder Privatwohnungen betreten. Ich musste Widerstände und Unbequemlichkeiten überwinden, um mich mit anderen auszutauschen, um Freud‘ und Leid erzählend zu teilen, Ideen und Pläne auszuhecken oder über die Welt zu philosophieren. Es war aufwändig, aber meistens war es das wert.
Heute KÖNNTE ich das natürlich immer noch so machen, nur kommt es in der Realität kaum mehr vor. Mein letzter „Realkontakt“ mit einer Freundin liegt nun auch schon wieder über fünf Wochen zurück. Dafür „kenne“ ich jetzt Menschen, die weithin über das Land, ja, über den Planeten verstreut leben: In Kanada und Laos, in La Palma und Südfrankreich, in Wien und in der Schweiz – und zu jedem deutschen Ballungsgebiet und jeder größeren Stadt fallen mir auf Anhieb mehrere liebe Menschen ein, die ich gut genug kenne, um bei ihnen zu wohnen bzw. zu übernachten – vielerorts bräuchte ich kein Hotel. „Ein Netizen ist niemals und nirgendwo allein“, schrieb ich vor ein paar Jahren voller Begeisterung. Heute füge ich hinzu: „aber hier und jetzt immer!“.
Das janusköpfige Netz
Nicht zu glauben? Sicher, in den sechs Netzjahren hab‘ ich mit weit mehr Menschen Kontakt gehabt, als in den ganzen 41 Jahren davor; viele sind „locker Bekannte“ und einige Freunde geworden. Man hat sich schon ein- oder mehrmals „f2f“ ( = face to face ) getroffen und ab und zu werde ich an Orte eingeladen, an die ich früher nicht im Traum gedacht hätte – ist das nicht schön? Zu jedem erdenklichen Thema kann ich Gesprächspartner finden, die vielen Mailinglisten, Newsgroups, Foren und Webboards ergeben eine endlose „Landschaft“ aus niemals schließenden Versammlungen. Manchmal antworten mir Leser auf Beiträge im Diary, zufällige Surfer kommentieren andere Webwerke oder stellen Fragen – so ist schon mancher tiefschürfende Maildialog entstanden, manchmal mit Menschen, mit denen ich in „diesem realen Leben“ ganz gewiss niemals in Berührung gekommen wäre. Das Netz verbindet, das Netz schafft Toleranz, aber – ich bleibe dabei – das Netz macht eben auch einsam.
Was kannst du – hier und jetzt! – schon tun, wenn es dich nach menschlichem Kontakt verlangt? Klar, du kannst ein paar Mails schreiben, kannst in Worte fassen, was dir auf der Seele liegt, was dich begeistert, was dich ängstigt und bedrückt. Dann der Klick auf den Send-Button und das war’s. Zwar bist du noch immer allein, aber du hast dich wenigstens „ausgedrückt“, ist das nicht schön? Wenn du ein Problem von allgemeinerer Bedeutung hast, kannst du eine Community aufsuchen und wirst dort binnen einiger Tage eine Menge Resonanz bekommen: Texte, Texte, und wieder Texte, ins Netz gestellt von Menschen, die du nicht kennst und in der Regel auch nie kennen lernen wirst. Aber immerhin Antwort, mitfühlende Worte, jede Menge Tipps und Tricks, um mit deinem Problem fertig zu werden – ist das nicht schön?
„Empfange Nachricht 1 von 137…“
An Reaktionen von allerlei Schattenexistenzen, die noch nicht einmal ihren eigenen Namen tragen, wirst du im Netz niemals Mangel leiden. Wenig empfehlenswert ist es dagegen, dich auf bestimmte Menschen, auf konkrete Gegenüber zu versteifen. So was widerspricht dem Geist der Netzgesellschaft: Wo Ort und Zeit egal sind, weil man sich nicht trifft, sondern Texte „abruft“, muss auch der Andere egal sein. Bloß nicht allzu menschlich schreiben, denken, fühlen, gar Erwartungen bezüglich Kontinuität und Inhalt hegen, die aus der untergehenden „analogen“ Welt stammen. Du weißt doch selber, wie es ist, wenn du „Nachrichten abrufen“ anklickst: „Empfange Nachricht 1 von 137…“ meldet mir mein Mailprogramm, und das ist nur einer von mehreren Accounts. Wie soll man sich merken, WANN jemand WAS geschrieben hat, oder wie die eine Botschaft vielleicht mit der anderen zusammenhängt, ja, ob sie überhaupt von derselben Person stammen? Der Mailspeicher scheint unendlich, das Gedächtnis ist es nicht. Im Gegenteil, es ist ein löchriger Eimer, der immer weniger fassen kann, je länger und ausschweifender die Kontakte zum Netz geraten.
Weißt du denn selber noch, was du an X, an Y und Z vor zwei Tagen, zwei Wochen oder gar zwei Monaten geschrieben hast? Glückwunsch! Du bist ein selten resistentes Exemplar, aber warte nur ein Weilchen, das Netz wird auch deinen Kopf zum Sieb machen. Stetes Mailen höhlt den Mind, es hat einfach die größeren Kapazitäten. Und willst du wirklich als Fossil überdauern? Inmitten von weit besser angepassten, blitzschnell agierenden Netzknoten-Existenzen, die die Kunst des Ein-Pixel-Kontaktes, der Copy & Paste-Kommunikation und vor allem des rückstandslosen Vergessens vollendet beherrschen? Du wirst einfach nur leiden, wenn du deine analogen Altmensch-Gewohnheiten nicht loslässt, wirst dich einsam fühlen, wo der neue Mensch sich wie ein Fisch im Schwarm anonymer Mitfische graziös im Tanz bewegt – willst du das?
Eher nicht? Dann lerne! – du weißt ja, das ist jetzt „lebenslang“ angesagt, weil immer neu aus dem Nichts begonnen und ohne Bezug zu irgend etwas schon Vorhandenem weiter gewurstelt werden muss. Damit wäre auch das Wesen des oben genannten „ein-Pixel-Kontakts“ schon angerissen: Deine Nachricht muss immer für sich stehen können (= 1.Gesetz für ein Hypertext-Modul). Bloß nicht den Adressaten dadurch in Verlegenheit bringen, dass du dich auf Vergangenes, auf bereits Gesagtes oder auf anderswo von Dritten Geschriebenes beziehst, womöglich gar, ohne es im Volltext zu zitieren oder den URL zu nennen!
Beziehung? Wie vorgestrig!
Bedenke: „beziehen“ an sich ist schon ein ausgesprochen vorgestriger Sprachgebrauch, „sich beziehen“ ist kompliziert, Beziehungen machen unfrei, kosten Zeit, die wir nicht mehr haben, und schaden der potenziellen Mobilität . Wenden wir uns lieber ab von all der nostalgietriefenden Mitmenschelei und freuen uns an „Kontakten“, den klaren Verschaltungen der digitalen Ära, die keine Wünsche offen lassen: ON oder OFF. Entweder ist ein Link gesetzt oder eben nicht. So einfach ist das. Von Netztechniken lernen heißt leben lernen. Versuche nicht mehr, dich mit Anderen auseinander- oder zusammen zu setzen, zu verhandeln, in irgendwelche Tiefen zu gehen – nicht verstehen ist gefragt, sondern funktionieren. Der Modus des Erfolgs ist heute das SCANNEN und wenn ein Kontakt langweilig oder ineffektiv wird das Zappen. Schau nur, wie schnell Google etwas findet – und wie lange du vergleichsweise brauchst, um einem konkreten Menschen etwas nahe zu bringen, worauf er nicht von selber gekommen ist!
Im Großen und Ganzen kommt es sowieso auf Masse und Reichweite an, auf die Dichte des Netzes, nicht auf den einzelnen Knoten. Mach nicht den Fehler, dich mit dem Knoten zu identifizieren, sondern nimm Zuflucht zum digitalen Buddhismus und erkenne: DU BIST DAS NETZ! Nur wo ein „Ich“ zu existieren scheint, ist Einsamkeit, sobald sich das Ich als Illusion erweist, wirst du über solche Empfindungen lachen. Es gibt keinen einzelnen Knoten, alles hängt mit allem zusammen! Praktiziere von früh bis spät. Lerne, auf effektive Art Knoten zu binden und zu lösen, behalte immer den NUTZEN und deine je eigenen Interessen im Auge, dann kann nichts schief gehen und das Netz wird wachsen. Möge die Macht mit dir sein!
***
Oh, ich könnte gut noch ein bisschen weiter so ausufern! Vermutlich fragen sich sowieso schon einige Leser, welche Laus mir über die Leber gelaufen sein mag; schließlich bin ich eher mit Lobreden auf ein warmes, freundlichen Internet aufgefallen und nicht mit Abgesängen auf virtuelle Wüstenlandschaften.
Seit ein paar Tagen bin ich dabei, mein reales und virtuelles Leben einer Inventur zu unterziehen: Was macht mich glücklich und was raubt mir den letzten Nerv? Wie entwickeln sich meine zwischenmenschlichen Beziehungen? Wie gut oder schlecht kann ich zur Welt etwas beitragen? Sind meine Fähigkeiten und Talente eigentlich sinnvoll eingesetzt oder kreise ich nur in einem Haufen nutzloser Zerstreuungen? Fehlt mir etwas und warum ist das so?
Das ist ein Vorgang, der sich sicher noch länger hinzieht und nicht gleich zu einfachen Lösungen kommt. Was mir aber jetzt schon klar ist: es mangelt an Übersichtlichkeit, an Klarheit und Verbindlichkeit. (Was nützt mir mein aufgeräumtes Zimmer, wenn mein Netzleben ein kaum noch überschaubares Chaos ist?) Ich will nicht wie ein Vogel im Schwarm sein und beliebig Stimmfühlungslaute austauschen, sondern ich möchte mich auf Aktivitäten mit Sinn konzentrieren – was immer das im einzelnen bedeuten mag. Außerdem glaube ich nicht mehr daran, dass man „netzgestützt“ weit MEHR Menschen kennen und ihnen auch gerecht werden kann als ohne. Und weil das so ist, werde ich wieder mehr auf räumliche Nähe und auf die tatsächlich zur Verfügung stehende Zeit achten. VIRTUELL heißt: der Möglichkeit bzw. der Kraft nach vorhanden. Für Roboter und Programme mag eine solche Qualität genügen, für mich reicht sie nicht.
Im Mailprogramm hab‘ ich mit dem Aufräumen angefangen, 40.000 alte Listenmails gelöscht. Fühlt sich schon mal gut an, warum sollte Digitales auch ewig „leben“?
Claudia Klinger, 05.06.2002
Diesem Blog per E-Mail folgen…