Wenn es mir zu intim wäre, könne ich den Text auch gern per Mail ganz privat schicken, schreibt mir der Leser, der sich dieses Thema gewünscht und es auch „gesponsert“ hat. (Danke!). Zu intim? Wikipedia zählt 4,3 Millionen Alkoholkranke in Deutschland, über 40.000 Menschen in Deutschland sterben jährlich in Folge übermäßigen Alkoholkonsums und etwa zwölf Prozent der Bundesbürger pflegen einen „riskanten Umgang“ mit Alkohol. Die Droge Nr.1 wird von Wissenschaftlern mittlerweile zu Recht als „harte Droge“ eingestuft, ebenso gefährlich wie Heroin & Co., obgleich legal.
Es gibt also gute Gründe, das Thema nicht „ganz privat“ zu behandeln. Zumal ich in Sachen Alkohol immerhin Erfolge vorweisen kann, die mir bezüglich des Rauchens einfach nicht gelingen wollen. Gelingen? Das klingt nach Bemühen, nach Selbstdisziplin und Anstrengung, die dann verdientermaßen von Erfolgen gekrönt ist – nichts wäre falscher! Gegen keine Droge, kein Fehlverhalten, keine andere Sucht hab‘ ich so ausschweifend „gekämpft“ wie gegen den Alkohol, doch solange ich das tat, solange ich glaubte, ich könne die Sache „in den Griff bekommen“ rutschte ich immer tiefer in die Sucht. Ganz allgemein ist es ein deutliches Anzeichen, dass man schon mitten auf dem Weg in den Abgrund ist, wenn man beginnt, das Trinken reglementieren zu wollen: Nur nach 18 Uhr, nur Bier und Wein, nur am Wochenende – mag sein, dass das eine Zeit lang funktioniert, doch wird es dabei mit großer Sicherheit nicht bleiben.
Alkohol? Ich doch nicht!
Etwa zehn Jahre hab‘ ich gebraucht, um mich in einen ordentlichen Alkoholismus zu saufen: erst mit 24 begann ich damit, regelmäßig Bier zu trinken, da eine neue Liebe gerne die Nachmittage in Mainzer Biergärten verbrachte. Bis dahin hatte ich Alkoholisches wegen des Geschmacks nicht gemocht und ansonsten die „Volksdroge“ mit Verachtung gestraft: mein Vater war Quartalsalkoholiker, war cholerisch und unberechenbar, soff sich phasenweise in extreme Zustände, in denen er dann die Familie terrorisierte: Nachts um drei nachhause kommen, Kinder aus dem Bett holen und die mitgebrachten Brathähnchen verspeisen lassen, einen drauf machen wollen – es war der reine Horror! Wir lebten während seiner Trinkphasen in ständiger Angst: wann wird er kommen? In welchem Zustand? Wird er wieder toben, rumbrüllen, auch mal zuschlagen – oder wird er weinerlich drauf sein, uns das Blaue vom Himmel versprechen, nach Bier und Schnaps und Rauch stinkend um Verzeihung für seine Schandtaten bitten?
Ich hatte eine ganze Kindheit und Jugend lang ausreichend Gelegenheit, hautnah zu erleben, was Alkohol aus einem Menschen macht. Nie würde ich dieser Droge verfallen, da war ich mir sicher! Meine Generation hatte Besseres, wir rauchten Haschisch und nahmen LSD, erweiterten unser Bewusstsein, erlebten echte Abenteuer des Geistes – aber selten und stark ritualisiert, in „geschützter Umgebung“, mit dem nötigen Respekt und viel utopischer Ideologie im Kopf. Timothy Leary hätte gerne LSD im Trinkwasser verteilt, um den Frieden auf Erden zu befördern – ich schweige lieber von all den Absurditäten, die ich in jungen Jahren so toll und revolutionär fand! All diese Experimente brachten mir tatsächlich neue philosophische Einsichten ins Geheimnis der Weltwahrnehmung: wenn die Filter des Geistes ausgeschaltet waren und alles an Informationen unsortiert herein kam, erlebte ich so manches Abenteuer, das ich nicht missen wollte! Zu häufiger Wiederholung drängte das allerdings nicht: zu heftig, kein Rauschpotenzial, kein Suchtfaktor.
Erste Kontrollversuche
Und doch gab es in der Art, WIE ich zum Beispiel meinen ersten Trip erlebte, schon Hinweise darauf, um was es in Sachen Droge bei mir ging: Ich wusste, dass man per LSD die gewohnte Wahrnehmung verliert und dem gänzlich Unbekannten gegenüber steht – dass man da auch manchen Horror erleben konnte, wie mir andere berichteten. Also konzentrierte ich mich darauf, die Kontrolle zu behalten. Zwar zerfiel die Welt schon bald nach Einnahme der kleinen Pille in ihre Bestandteile und vieles mehr, was ich „nüchtern“ gar nicht bemerkte – doch gelang es mir immer wieder schnell, mich zu besinnen, die Gesamtsituation (ich bin auf einem LSD-Trip und muss aufpassen!) nicht aus dem Blick zu verlieren. Ich steuerte mich selbst mittels spontaner Affirmationen wie etwa: Wenn ich jetzt raus auf die (Außen-)toilette gehe, hört der Trip auf, wenn ich die Wohnung wieder betrete, kann es weiter gehen! Und zu meinem Staunen hat das sogar geklappt – wow, ich war und blieb „Herrin der Situation“! Ich schaffte es sogar, empört den zweiten Trip abzulehnen, den mir mein Begleiter anbot, der lieber etwas Erotisches mit mir angefangen hätte anstatt ins Philosophieren abzudriften. Ich hatte alles im Griff, trotz des Wirbels, den das LSD in meiner Birne anrichtete – und ich war entsprechend stolz auf mich, fühlte mich schwer Drogen-kompetent!
Bewegte Zeiten
Was für eine Täuschung! Mit 26 zog ich nach Berlin und lernte echtes Nachtleben kennen. Vor 23 Uhr waren die Kiezkneipen eher leer, dann aber ging die Post ab! Aber nicht nur die Nächte waren spannend, das ganze Leben geriet zum spannenden Abenteuer: die Hausbesetzerbewegung Anfang der 80ger erfasste mich, erfasste das ganze Stadtteil: ein Sanierungsgebiet in Kreuzberg mit viel Entmietung, Leerstand bei gleichzeitigem extremen Wohnungsmangel. Ich war nach Berlin gekommen, weil mich meine Heimatstadt Wiesbaden langweilte, das Jurastudium hatte ich mit allen Scheinen abgebrochen, als mir beim Lernen fürs Examen klar geworden war, dass ich nicht Juristin werden will. Eine neue Idee hatte ich allerdings auch nicht, also kam mir der Ortswechsel mit meinem damaligen Liebsten, der der Bundeswehr entgehen wollte, gerade recht.
Alles bewegt sich und schwimmt im Bier
War ich zuvor nur am anderen Geschlecht interessiert, so erlebte ich jetzt eine „bürgerliche Geburt“: mitmischen bei gesellschaftlich wichtigen Dingen, Wohnungspolitik machen, den Stadtteil mitgestalten, „immer bei den Guten“ für die Verbesserung der Welt kämpfen – ich ging voll auf im neuen Aktivisten-Lebensgefühl! Drei Jahre war ich Vollzeit-Hausbesetzerin und danach ging es in ähnlich engagierter Manier weiter. Alsbald war ich im Vorstand jedes Vereins in der Umgebung, gründete selbst neue Initiativen, gab eine Zeitung heraus, veranstaltete große Feste, bestimmte mit über den weiteren Ablauf der Sanierung, war verstrickt in vielerlei Kämpfe – und merkte gar nicht, wie ich langsam aber sicher zur Funktionärin wurde, die auf ihre „Klientel“ im Grunde herab sieht. Ein Privatleben kannte ich nicht, war „immer an der Front“, natürlich auch in den Nächten, in denen man sich in der Kneipe traf und weiter „Politik machte“. Wer da fehlte, verlor an Einfluss – ich war überall dabei, schwamm im Lebensgefühl der 80ger wie ein Fisch im Wasser. Naja, eigentlich im Bier, doch sah ich das noch lange nicht als Problem.
Zwischen 23 Uhr und vier, fünf Uhr morgens schluckte ich bald locker acht bis zwölf große Bier. Sie kamen ja quasi automatisch auf den Tisch, wenn die Gläser leer waren. Ich tat das nicht bewusst, um mich zu betrinken: es gehörte dazu, alle Mit-Aktivisten hatten einen ordentlichen Zug, mir fiel gar nicht auf, dass sich mein Alkoholkonsum kontinuierlich steigerte. Bald war es mir zu mühsam, soviel Bier trinken zu müssen, bevor die wirklich „beschwingte“ Stimmung aufkam, also kamen Schnäpse dazu, auch das war durchaus üblich. Wir waren jung, waren voller Energie, und vertrugen noch eine Menge.
Richtung Abgrund
Mitte dreißig änderte sich auf einmal mein Lebensgefühl – es gab keine „Bewegung“ mehr, nur noch den zunehmend mühsamen Alltag in meinen vielfältigen Funktionen. Ich merkte, dass ich zwar Bewunderer, Neider und Genossen hatte, aber eigentlich keine Freunde, bei denen ich mal den Kopf anlehnen konnte, wenn ich mich mies fühlte. Ich war ja „die Starke“, die immer alles im Griff hat – doch jetzt realisierte ich, dass etwas nicht stimmte. Was tat ich da eigentlich? Was hatten all diese Kämpfchen und Intrigen, die mir früher Spass gemacht hatten, eigentlich mit MIR zu tun? Wer war ICH – jenseits meiner Funktionen? Es begann die Zeit meiner kleinen und großen Fluchten: Rückzug aus allerlei Ämtern, Aufenthalte in der Toskana, der Versuch, im „spirituellen Sektor“ an mir zu arbeiten: z.B. mal eine dreimonatige Massage-Ausbildung in einer Heilpraktikerschule mit viel Meditation, Gruppenarbeit, Selbsterfahrung.
Alles ganz toll und für kurze Zeit faszinierend – doch immer wieder landete ich in den heimischen Kneipen: das waren meine „Wohnzimmer“, wo sollte ich auch sonst hin? Relativ deprimiert erkannte ich, dass ich nicht im Stande war, diese Umgebung länger als zwei Tage zu meiden. Allein zuhause konnte ich ja nichts mit mir anfangen, persönliche Interessen hatte ich gar nicht entwickelt – und wenn ich dann doch gegen 23 Uhr über die Straße in die Kneipe ging, brauchte es nur ein Bier und einen Schnaps und ich fühlte mich wieder „normal“! DARAUF verzichten? Unmöglich!
Es dauerte, bis ich das Ausmaß meiner Sucht erkannte! Schließlich glaubte ich immer noch, Herrin meiner selbst zu sein und für jedes Problem eine Lösung „aus dem Kopf “ zu haben, wenn es wirklich drängend wurde. Diesen „Betonkopf“ hab ich lange an die Wände schlagen müssen, bevor mir endlich aufging, wie meine Lage tatsächlich war. Ich kämpfte immer wieder gegen den Alkohol, blieb mühsam ein paar Tage abstinent, versuchte, die Schnäpse wegzulassen, aber all das hielt nur kurze Zeit. Schließlich tat ich nichts mehr außer die Nächte durchtrinken, mich tagsüber erholen und abends wieder loslegen – ich war Alkoholikerin geworden, genau wie mein Vater!! Und genau wie er soff ich mich regelmäßig in den Filmriss, in unkontrollierte Zustände, in denen ich mich verschiedentlich furchtbar aufführte. Am Tag danach erinnerte ich mich an nichts, doch war das weit schlimmer, als genau zu wissen, was man angestellt hat. Ich bestand jetzt aus zwei Personen: die, die erkannte, dass sie ein Alkoholproblem hat, und die, die zum nächsten Glas greift, wohl wissend, dass es wieder im Filmriss enden wird – Prost! Jetzt ist jetzt, Probleme lösen wir morgen, was soll schon passieren?
Kontrollverlust
Es passierte eine Menge. Ich lief gegen ein Baustellenschild, kam Blut überströmt in die Kneipe und merkte es nicht einmal. Ich ließ mehrfach etwas auf der Herdplatte stehen, schlief betrunken ein und erwachte mit dickem Kopf, weil die Feuerwehr und der Hausmeister vor meinem Bett standen. Ich trat einem Freund die Türe ein, der mich besoffen nicht einlassen wollte, ich randalierte in Treppenhäusern – es war grauenhaft, doch schaffte ich es lange, mir einzureden, dies alles sei nicht weiter schlimm. Immer gab es ja Leute, die sich noch weit weniger im Griff hatten, die nicht nur nachts, sondern auch tagsüber tranken. Absurderweise fühlte ich mich noch lange als „etwas Besseres“.
Und doch dämmerte mir jetzt die unabweisbare Erkenntnis: Ich hab‘ ein ausgewachsenes Alkoholproblem und sollte das endlich in den Griff kriegen! Es brauchte viele viele demütigende Erlebnisse, bis ich die tatsächliche Lage wirklich ins Bewusstsein dringen ließ – aber die größte Demütigung kam erst jetzt: ich schaffte es nicht, irgend etwas dagegen zu tun. Immer wieder probierte ich „Rezepte“ aus, versuchte, nüchtern zu bleiben, saß in der Kneipe vor dem Mineralwasser, während die anderen sich betranken (und amüsierte ich mich dann gar nicht mehr!). Alles sinnlos, irgendwann kam der Moment, da ich mich endlich wieder „normal“ und entspannt fühlen wollte, koste es am nächsten Tag, was es wolle.
Am Tiefpunkt ankommen
Schrecklich dann das Erkennen: Mir fällt nichts mehr ein! Ich bin am Ende mit meinem Latein, ich bin auf der Straße in den Abgrund weit gekommen und kann NICHTS dagegen tun! Zum ersten Mal im Leben krachte mein Selbstbild von der kreativen, mächtigen Person, die immer eine Lösung weiß, zusammen. Den letzten Kick gab mir der selbst verordnete Versuch, „irgend einen Job“ anzunehmen. Ohne jeden Anspruch an die Arbeit oder die Bezahlung wollte ich mir beweisen, dass ich es noch KONNTE!
Jedoch: ICH KONNTE NICHT!
Es war ein Interviewerjob, doch brachte ich es nicht mehr fertig, an den Haustüren wildfremder Menschen zu klingeln und sie über ihre Lesegewohnheiten zu befragen. Früher hatte ich das locker hinbekommen, als Studentin immer mal wieder ein bisschen Geld mit solchen gar nicht schlecht bezahlten Jobs verdient. Jetzt stand ich vor den Türen in fremden Treppenhäusern und zitterte vor Angst und Unbehagen.
Ich gab es auf. Klingelte nicht, schickte die Fragebogen zurück, kündigte. Ich war am Ende und wusste nicht, wie es weiter gehen sollte. Wusste nur noch eines: dass ich gar nichts mehr tun konnte, dass nichts klappen würde, dass ich aus mir heraus nichts „Problem lösendes“ unternehmen konnte – oh, was für eine demütigende Einsicht!
Aber immerhin, die hatte ich jetzt. Und handelte sogar danach, suchte Hilfe, zum ersten Mal im Leben. Ich ging zur Ärztin, trat sogar in die evangelische Kirche ein – aber sie kannten nur die „fähige Person“ und wollten nicht sehen, dass ich völlig von der Rolle, kaputt und verzweifelt war. Ja, sie versuchten, mich wieder „ins Geschäft“ zu locken (komm doch in den Gemeindekrichenrat!), denn wenn ich wieder was Sinnvolles zu tun hätte, wäre doch alles gleich wieder im Lot. Sinnlose Versuche, ich wusste, dass das alles nichts bringt, hatte derlei Initiativen ja schon etliche hinter mir. Verzweifelt steuerte ich die Kneipe an und besänftigte meine deprimierte, beängstigte Stimmung wieder mit ein paar Whisky – mittlerweile war ich härtere Sachen gewöhnt, Bier reichte lange schon nicht mehr, mich zu „entspannen“.
Magische Worte
Eines Abends dann, in einer Stimmung völliger Ratlosigkeit und Verzweiflung, fuhr ich nach Wilmersdorf zur Adresse, die auf dem Zettel stand, den mir ein alter Bekannter immer mal wieder zusteckte, der kein Problem zu haben schien, in der Kneipe Wasser zu trinken,. Mein erstes Meeting bei den Anonymen Alkoholikern. Zitternd saß ich am Tisch, sprach zum ersten Mal die Begrüßungsformel:
„Ich bin Claudia, Alkoholikerin.“
Beim Griff nach der Kaffeetasse zitterte meine Hand. Ich hörte die Anwesenden von sich sprechen, niemand hier schien ein Alkoholproblem zu haben, außer mir. Ich meldete mich und erzählte, wie es mir in letzter Zeit ergangen war und wie ich mich fühlte. Kein Kommentar von irgend jemandem, nur „Danke, Claudia!“ – und der nächste begann, von sich zu erzählen. Die Art, wie sie von sich sprachen, beeindruckte mich: völlig offen, ohne jeden Versuch, ihre Probleme und Schwierigkeiten, ihre Gedanken, Gefühle und Charaktereigenschaften in einem guten Licht da stehen zu lassen. Ich war berührt, fragte mich aber, was dies alles nun für mich bedeuten würde, schließlich war ich noch voll „im Griff der Droge“.
Im Anschluss an das Meeting stand ich noch ein wenig am Büchertisch, wo mich eine alte Frau ansprach: „Kind, lassen Sie das mit dem Trinken! Das bringt ja doch nichts!“
Ich sah sie an, innerlich fiel ein letzter Groschen: Ja, das war es.
Warum hatte das eigentlich in all der Zeit niemand zu mir gesagt?
An diesem Abend ging ich nicht mehr in die Kneipe. Ich trank ab sofort keinen Alkohol mehr – mühelos!
(Teil 2 folgt in den nächstenTagen)
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49 Kommentare zu „König Alkohol: Der Kontrollversuch ist der Kontrollverlust“.