Hätte ich nicht viele Jahre Hatha-Yoga praktiziert, wäre ich gar nicht darauf gekommen, das Leben unter dem Blickwinkel von Spannung und Entspannung zu betrachten: In den einzelnen Übungen dieser Praxis kommt es darauf an, zunächst eine genau definierte Körperhaltung einzunehmen, dort alle unnötigen Anspannungen loszulassen, die Stellung ein paar ruhige Atemzüge lang zu halten – und dann wieder in die Ausgangsposition zurück zu gehen. Anders als im heutigen „Fitness-Center-Yoga“ üblich, folgt dann eine Zeitspanne des „Nachspürens“, etwa so lange wie die Übung gedauert hat, in der man genau beobachtet, welche Reaktionen in Körper und Geist durch die Haltung ausgelöst wurden. Erst wenn sich alles wieder beruhigt hat, geht man in die nächste „Asana“.
Anspannung, Entspannung – rechte Spannung
Anders als im Alltag werden hierbei die beiden Zustände „Spannung“ und „Entspannung“ ins Extrem getrieben, was auf die Dauer ein Bewusstsein dafür schafft, wie entspannt oder angespannt man gerade ist: körperlich, psychisch und geistig. Besonders lehrreich ist das Erlebnis, in der jeweiligen Haltung nur jene Muskeln anzuspannen, die tatsächlich für die Aufrechterhaltung der Stellung erforderlich sind. Anfänglich fällt das richtig schwer, denn wir sind es gewohnt, gleich alles Mögliche mit anzuspannen, wenn eine Anstrengung ansteht. Kann man es dann besser, ist es wirklich zum Staunen, wie wenig Anspannung (bezogen auf ALLE Muskeln) erforderlich ist, um zu leisten, was geleistet werden soll.
Yoga-Asanas vermitteln also ein Bewusstsein der „rechten Spannung“: soviel wie nötig, nicht mehr!
Körper und Geist
Überträgt man dieses Bewusstsein auf den Alltag, was im Lauf längeren Übens quasi automatisch geschieht, verändert sich die Art, wie man „das Leben lebt“ deutlich. Denn auch der Alltag mit all seinen Routinen und allen Tätigkeiten, die wir vollziehen, um irgend welche Ziele zu erreichen, ist ein ständiges Wechselspiel von Anspannung und Entspannung – mit genau derselben Tendenz zur unnötigen Gesamtverspannung, die ein Yoga-Anfänger während der Übungen bemerkt. Und das bezieht sich nicht allein auf den Körper. Geist und Gefühle sind mit der körperlichen Ebene unauflösbar verschränkt: Mache ich mir Sorgen, entspricht dies einer Anspannung im Brustbereich, manchmal auch im Nacken. Ärgere ich mich, spüre ich das im Bauch oder im Solar Plexus, bin ich traurig, fühle ich es rund ums Herz („Herzeleid“). Und wenn ich nicht damit einverstanden bin, das zu tun, was ich gerade tue, sondern lieber irgendwo anders wäre, zeigt sich diese Ungeduld und Unzufriedenheit in kaum merklichen Gesamtverspannungen der Muskulatur.
Indem diese Verspannungen bewusst werden, sobald sie auftreten, geschieht gleichzeitig auch schon ein Loslassen – und siehe da: auch die damit verbundene psychisch-geistige Anspannung (der Ärger, die Ungeduld, die Sorge…) löst sich auf! Dieses Loslassen ist nicht schwer, denn jede Anspannung braucht zu ihrer Aufrechterhaltung Energie, die nicht mehr aufgewendet werden muss, wenn sie gelöst wird.
Unter der Knute des Denkens
Es sollte also ganz einfach sein, mittels der „rechten Spannung“ durch die Tage zu kommen und ein harmonisches Lebensgefühl als Grundstimmung zu halten. Vom „psychophysischen Apparat“ her könnten wir das mit ein bisschen Übung leicht leisten, doch ist die Erkenntnis dieser Verspannungsmechanismen leider erst die halbe Miete: Wenn das Denken weiterhin „verspannt“ bleibt, setzen wir sofort den Grund zur nächstfolgenden Verspannung, auch wenn wir es im Grunde schon schaffen, Verspannungen zu lösen, sobald wir sie bemerken.
Der gewöhnliche Alltag findet nämlich in einer vom Denken strukturierten Art statt – und dieses Denken hat selber eine Struktur, aus der wir nicht so einfach heraus finden, denn es ist aufs Allerheftigste mit unserem Ich-Bewusstsein verbunden.
Kurz gesagt funktioniert das so: eine Unzufriedenheit bzw. ein Begehren nach Veränderung der Situation tritt auf. Der Verstand analysiert kurz die Ursachen und macht Vorschläge zur Behebung des „Problems“. Wir entscheiden uns für eine bestimmte Lösung und gehen nun an die Umsetzung. Haben wir, unter mehr oder weniger Mühen, das Ziel erreicht, empfinden wir Befriedigung. Diese hält allerdings nur sehr kurz an, dann meldet sich das nächste Verlangen und der Prozess beginnt von Neuem.
In der zweiten Variante können wir uns nicht für eine Lösung entscheiden, müssen also – warum auch immer – in der unbefriedigenden Situation länger verharren. Der Verstand kreist nun immer weiter um „Analyse“ und „Lösungsvorschläge“, genau wie ein Programm in der Endlosschleife. Und unser Befinden wird immer mieser (bzw. verspannter), je länger die Situation anhält.
Beiden Varianten ist gemeinsam, dass ab dem Auftauchen des Bedürfnisses nach Veränderung nur noch ein sehr reduziertes „Leben“ statt findet. Wir sind dann auf das Ziel, auf die „Lösung“ in der nahen Zukunft fixiert und empfinden den Weg dahin bzw. die Wartezeit als eigentlich überflüssig, bloß anstrengend, langweilig und lästig. Das „Ich“ ist denkerisch ja bereits am Ziel und möchte von dort aus in eine „offene Zukunft“ weiter machen – wie blöde, die Trägheit der Materie erleben zu müssen, die uns zum abarbeiten oder gar abwarten zwingt! Im „abarbeiten“ sind wir unaufmerksam, nehmen kaum mehr etwas von der Welt war, sind geistig bereits am Ziel – und im „abwarten müssen“ hadern wir mit der Welt ( diese elenden Sachzwänge!) oder mit uns selbst: Warum habe ICH mich in diese Situation begeben, obwohl ich mich da doch gar nicht wohl fühle? (und der Verstand bringt nun endlos Material zur Selbstgeißelung auf den Tisch des Bewusstseins!).
Das Denken begrenzen
Was aus dieser Situation heraus hilft, ist die Besinnung auf die „rechte Spannung“. Auch der Verstand ist nur ein „Organ“, ein nützliches Instrument, das uns zur Verfügung steht, um Probleme zu lösen und Ziele zu erreichen. Hat er seine Arbeit getan, muss er genauso „entspannt werden“ wie die Muskeln, wenn sie nicht gebraucht werden. Geschieht das nicht, begibt man sich in die Sklaverei und leidet dem entsprechend sinnlos vor sich hin, kreisend in nutzlosen Gedanken ans Ziel, bzw. an die Ursachen des „nicht-erreichens“.
Der Mensch ist an sich ein unglaublich anpassungsfähiges Wesen: aus misslichen Situationen „das Beste zu machen“ gehört zu unserer Grundausstattung. Doch im Alltag verzichten wir oft genug darauf, diese Fähigkeiten anzuwenden – und hadern zum Beispiel in der Schlange vor der Supermarkt-Kasse mit der Welt, dass wir nun gezwungen sind, hier dumm rum zu stehen: voll verspannt, unwillig, im Hier und Jetzt das Leben zu genießen.
Was durchaus möglich ist, wenn wir uns innerlich vom weiteren Nachdenken über die Situation lösen: dann haben wir wieder eine Menge Möglichkeiten, uns „gut zu unterhalten“! Entweder wir spüren in den Körper hinein, entspannen und genießen die sinnlichen Empfindungen, oder wir beobachten die Leute, die ebenfalls in der Schlange stehen: das sind ja interessante Individuen und zusammen mit dem Inhalt ihrer Warenkörbe kann man sich ganze Geschichten ausdenken, wie ihr Leben wohl sein mag. Dann ist da auch noch der Mensch an der Kasse, die Art, wie er arbeitet und mit den mehr oder weniger gereizten Kunden umgeht – oder der Supermarkt als Ganzes, die Beleuchtung, die Technik, die ganze wahnsinnige Warenwelt! Geistig sind wir im Stande, in sehr viele Welten einzusteigen und das interessant zu finden. Dass wir es nicht tun und nur miesepetrig innerlich schimpfen, dass das so lange dauert, ist unsere eigene Entscheidung. Wir sind ja nicht einmal verpflichtet, mit der Aufmerksamkeit im „Hier und Jetzt“ des Supermarkts zu verweilen, sondern können in Gedankenspiele, Erinnerungen, Träume und „geistige Arbeit“ aller Art einsteigen. Solange wir nicht am „Ziel erreichen“ bzw. „Verzögerung beklagen“ festkleben, stehen uns die unendlichen Weiten unserer geistigen Räume offen.
Das Supermarkt-Beispiel kann auf sämtliche anderen Bereiche übertragen werden, immer liegt die Lösung der so krass gefühlten Disharmonie im Begrenzen (nicht etwa Abschaffen!) der Tätigkeit des Verstandes: Hier ist also ein Problem? Gut, denken wir drüber nach! Analyse, Handlungsalternativen, immer her damit! Und dann die Entscheidung: Entweder ich WÄHLE eine der Möglichkeiten und setze sie um, ODER ich entscheide mich dazu, alles so zu lassen. In beiden Fällen hat der Verstand nun seine Aufgabe erfüllt und kann „frei gesetzt“ werden.
Ein Problem in der Beziehung? Gut, ich denke drüber nach, kommuniziere das Ergebnis dieses Nachdenkens meinem Partner oder entscheide mich dagegen. DANN ABER grüble ich NICHT weiter über diese Sache, sondern starte munter in die Erfordernisse des nächsten Augenblicks.
Politik? Finanzkrise? Bankendrama? Gut, ich denke drüber nach: kann ich daran etwas ändern? Wie schätze ich die Folgen für mich bzw. meine aktuelle Finanzlage ein? Ist es etwa angesagt, das Geld vom Konto zu holen und Vorräte im Garten zu vergraben? Nein, das denke ich nicht, es besteht also kein Handlungsbedarf. Und was das „ändern“ angeht, kann ich nur eine unter Millionen Stimmen sein, die in ihrem Blog „auch etwas dazu sagt“. Bleibt noch die Überlegung: in welchem Blog? Und dann ist das Thema vorerst abgehakt.
Um dem gewöhnlichen Kreisen des analytischen Denkens nach Belieben Einhalt zu gebieten, ist nur eines nötig: Dazu nicht mehr „ich“ zu sagen. Das Descartsche „Ich denke, also bin ich“ hatte zu einer anderen Zeit und in einem anderen Kontext seine Wahrheit. Im hier ausgeführten Sinn gilt geradezu das Gegenteil: Solange ich denke, bin ich nicht.
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Siehe auch: Vom Jenseits des Umzu und „Kleine Meditation für genervte Sinn-Sucher“.
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8 Kommentare zu „Lebenskunst: Von der rechten Spannung“.