Claudia am 27. November 2016 —

Digitale Klagemauer: Nur noch Gejammer?

Menachem beklagt eine Verwandlung in den Publikationen des Web:

„Aus einem ehemals inspirierenden, interessanten, respektvoll sprühenden Netz kommt derzeit nur noch eine „digitale Klagemauer“ bei mir an. Alles ist furchtbar und schlimm, was zurzeit auf und in der Welt schief läuft und geschieht. ….
… Hypothetisches Gegackere über AfD, Trump, Erdogan, Brexit…. Mann, ich fühl mich matt, ausgelaugt, gelangweilt. Genug der sich immer wiederholenden leeren Thesen, die so viele meinen an das Portal des Internets nageln zu müssen. Um die Welt zu retten. Um alle schlafenden Lämmer zu wecken. Erwachtet! (Lämmer). Ich bin müde.“

Kann ich teilweise nachfühlen, andrerseits auch nicht. Dass viele sich derzeit öffentlich Gedanken machen, was dies alles bedeutet und wie man damit umgehen soll, finde ich sinnvoll. Das vermittelt ja auch ein Gefühl der Gemeinsamkeit: Schön, dass die Ereignisse den Leuten nicht am Arsch vorbei gehen, schließlich sind es wirklich bedrückende, auch gefährliche Pfänomene. Es ist auch nicht nur „Gejammer“, was geschrieben (und gezeichnet) wird, es finden sich gute Analysen, streitbare Ansagen und gut kuratierte Lesetipps, die auch Hoffnung machen, wie Frau Meike schreibt:

„Ich habe immer noch ein mulmiges Gefühl, aber die Fülle an differenzierten und weitsichtigen Analysen lässt mich hoffen, dass es noch nicht zu spät ist – zumindest nicht für unsere Gesellschaft.“

Nervt die Realität oder die Rede über sie?

Trump, AFD, Erdogan, Syrien, die ungelöste Schuldenkrise und das wackelnde Italien, ein drohender Ausverkauf des Datenschutzes, kriminelle Autokonzerne und Politiker, die mit ihnen paktieren, das widerliche Sanktionsregime der Jobcenter – es gibt wahrlich viele Gründe, den Zustand der Welt zu beklagen. Wäre es nicht schlimmer, wenn sich kaum jemand zu alledem äußern würde?

In Zeiten der Filter-Bubbles kann dennoch jeder, der es wünscht, den Verlautbarungen zu „nervigen“ Themen aus dem Wege gehen. Ja, es ist sogar ein Zeichen selektiver Wahrnehmung, wenn man entsprechende Artikel als Mehrheit empfindet. Schaue ich nämlich auf meine insgesamt vier Blogrolls, so beschäftigt sich nur eine Minderheit der ca. 80 verlinkten Quellen in ihren letzten drei Postings mit diesen „leidvollen“ Themen. Ich könnte locker einen Feedreader füllen mit Blogs, in denen derlei gar keinen Platz findet. „Ich brauche Input“, schreibt Menachem, doch es fehlt ja nicht an Artikeln, die die Übel unserer Zeit links liegen lassen und über Selbermach-Senf, Genügsamkeit, sich was gönnen oder das Wetter schreiben.

Es sind nicht die Publikationen zu bedrückenden Themen, sondern die besprochenen Zustände und Vorgänge selbst, die Angst machen. Auswegslos immer wieder damit konfrontiert zu werden, wird dann als „Müdigkeit“ kommuniziert, denn wer mag schon sagen: All das macht mir Angst? Was fehlt, sind positive Visionen, mitreissende Vorschläge, glaubwürdige Institutionen, neue unverbrauchte Initiativen – leider sehe ich da derzeit auch nichts, was so richtig weiter bringen könnte.

Da bleibt dann halt nur, die Bandbreite des Lebens wieder zu entdecken. Noch haben wir die Wahl, mit was wir uns beschäftigen. Dauernd nur Katastrophen-News lesen ist kein MUSS. Hierzulande jedenfalls nicht, so satt, friedlich und wohl versorgt wie der persönliche Alltag für die meisten noch abläuft.

Mir fällt jetzt einfach kein fetziger Schluss ein. Tja, das passt.

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Diskussion

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15 Kommentare zu „Digitale Klagemauer: Nur noch Gejammer?“.

  1. Liebe Claudia, danke für deine Gedanken zu dem Thema. Und, es ist wahrscheinlich tatsächlich so wie ich es aus deinem Beitrag herauslese: Ich muss mir neue und andere Seiten suchen.
    Davor,- das gebe ich allerdings auch offen und als fauler Hund zu,- wollte ich mich bisher drücken. Aber jetzt, scheint der Leidensdruck wohl doch so groß geworden zu sein, dass, wenn ich weiterhin im Internet stöbern will um mir daraus meinen Input zu holen, ein wenig Arbeit investieren muss.

    Ich meine deinem Beitrag zu entnehmen, dass wir die Dinge unterschiedlich betrachten. Ein Hauptgrund mag darin liegen, dass ich niemals überproportional politisch/gesellschaftlich aktiv war, im Gegensatz zu Dir, weshalb ich vermute, dass wir unterschiedliche Herangehensweisen bei sich andeutenden politisch/gesellschaftlichen Veränderungen haben.

    Und so sehe ich deinen Gedanken:…
    „Es sind nicht die Publikationen zu bedrückenden Themen, sondern die besprochenen Zustände und Vorgänge selbst, die Angst machen.“,

    in einer anderer Reihenfolge:
    „Es sind nicht die Themen, sondern die bedrückenden Publikationen, die Angst machen“.

  2. Liebe Claudia,
    ich kann einerseirs Menachem verstehen, aber stimme auch dir absolut zu.
    Ich versuche zwischendrin ganz bewusst all die Negativ- und Gräuelberichte auszublenden, weil ich merke dass ich das nicht mehr bewältige.
    Ist allerdings evtl. auch dem Umstand geschuldet, dass ich sowohl beruflich wie privat ein sehr, sehr anstrengendes Jahr hinter mir habe, was mich an den Rand eines Nervenzusammenvruchs gebracht hat.
    DAS hat mir wirklich Angst gemacht!
    Das andere war dann einfach zu viel, aber nicht angsteinflössend.
    Aus diesem Grund fange ich gerade wieder an mehr Blogs zu lesen, die ich sehr vernachlässigt habe und weniger Facebook z.B..
    Nachdenkliche Grüße
    Angelika

  3. @Menachem: dir macht das alles überhaupt keine Angst? (Ein Egomane als USA-Präsident, Aufstieg der Rechten, Flüchtlingskrise, Brandanschläge, Zerfall Europas, Schulden-Dilemma) Ich staune – und wäre auch nicht auf die Idee gekommen, dass es damit zusammen hängt, ob man selbst in irgend einer Weise politisch aktiv war. Freunde von mir sind das auch nicht und dennoch besort, entsetzt, erschüttert angesichts dessen, was in unserem Land und weltweit so geschieht.

    @Angelika: schön, dich hier mal zu lesen! Deine Beiträge lese ich immer gern, sie wirken oft so entspannt und weise…

  4. „Besorgt, entsetzt, erschüttert angesichts dessen, was in unserem Land und weltweit so geschieht“ Nein, Claudia, da bin ich in Bezug auf deine Frage angstfrei und weit von weg.

  5. Wer die modernen Zeiten und ihre kommunizierte Präsenz für absurd, gräßlich, chaotisch sowie kaum mehr zu ertragen hält, dem empfehle ich, als eine Art paradoxer Therapie, Bill Bryson‘s „One Summer America 1927“. Eine detailreiche und angenehm salopp geschriebene Momentaufnahme eines Jahres, in dem, wie vielleicht jetzt gerade wieder, eine Menge Dinge sich änderten, von denen die Zeitzeugen meist gar nicht wußten, wie ihnen geschah. Und natürlich – meinem Hang zu einem profunden Pessimismus genügend, auch wegen solcher Sätze:

    „Neben allen labels, die den 20er Jahren verpaßt wurden – Jazz Age, Roaring Twenties, Age of Ballyhoo, Era of Wonderful Nonsense – gibt es eines, das man ausgespart hat, das vielleicht aber am besten gepaßt hätte: Hass-Zeitalter. Womöglich gab es in der US-amerikanischen Geschichte keine andere Periode, in der mehr Menschen andere Menschen in den verschiedensten Formen und aus den nichtigsten Gründen verachteten.“ [Übersetzung von mir]

    Ob die letzte These haltbar ist, wird die Zukunft zeigen, doch scheint mir der damalige Gehalt der US-amerikanischen Gesellschaft an Rassismus und Antisemitismus, die verbreitete Akzeptanz von eugenischen Theorien übelster Couleur, die isolationistische Wagenburgmentalität des ‚guten Amerikaners‘ und die Tendenz zu einem militanten Faschismus einer weißen Herrenrasse, gepaart mit einer anarchischen Nicht-Regulation, einer vielseitig instrumentalisierten Justiz und Politik und einer Ökonomie, die nach dem Prinzip der verbrannten Erde das große Schneeballsystem ins Leben rief, das wir bis heute nicht losgeworden sind, kaum weniger atemberaubend gewesen zu sein als heute.

    Das mag kein Ruhekissen für eine gemütliche Nachtruhe sein, aber in meinen Augen relativiert es die Aufregung, mit der aktuell clicks generiert und filter bubbles hermetisch ausgekleistert werden.

    Und wenn das nicht hilft, dann bleibt zum Glück immer noch eine Tasse lauwarmer Tee…

  6. Danke, Susanne! Tut einfach gut, deine wie immer wohl gesetzten Worte zu lesen – auch wenn ichs vermutlich nicht schaffe, das Buch zu lesen. ist aber interessant, dass auch damals weiträumige Veränderungen den Hass gesteigert haben – Mensch ist schon ein seltsames Tier!

  7. Wer will das schon lesen? Ich meine, es ist alles bekannt und offensichtlich und Rezepte scheint es obendrein auch nicht zu geben. Das reichlich Drin-baden verändert jedenfalls nichts. Auch das Wissen um das Meer an Fakten. Leider.

  8. @Gerhard: das war DIR wirklich so persönlich bekannt? Also so kulturgeschichtliche Betrachtungen dieser Zeit hab ich nicht präsent, aber das muss ja nix heißen! Die Rezis auf Amazon sind recht euphorisch.
    Und ganz ehrlich: Die Resonanz „Wer will das schon lesen?“ wäre für mich ein Grund, meine Zeit künftig anders zu verbringen als nochmal ein Buch in diesem Blog zu rühmen, um die depressive Stimmung zu heben!
    Ich hoffe, Susanne hat ein dickes Fell!

  9. Keine Bange, Claudia, ich bin nicht sooo übelnehmerisch (nur nachtragend und rachsüchtig), außerdem kenne ich Gerhard hier aus mancher fröhlichen Diskussion als angenehmen Gesprächspartner, und er hat sich ja womöglich meines alternativen Vorschlags angenommen und sich, statt tausend Seiten zu wälzen, eine Tasse warmen Tees zu Gemüte geführt.

    Mein Hinweis auf das Buch von Mr.Bryson zielte ohenhin nicht darauf, irgendwelche Rezepte aka ‚Was tun?‘ daraus zu gewinnen. Das Buch ist für mich eine gelungene, natürlich subjektiv gefärbte Sammlung von Quellenauswertungen (schon die Verwendung des ‚Amerika‘ für das Land USA im Titel hat mich vor dem ersten Lesen doch ein wenig gestört), welche die Leser zu eigenem Nachdenken (und Vergleichen) veranlassen kann, wie auch zum Schmunzeln, zum Stirnrunzeln und – sehr oft – zum Kopfschütteln. Und das schafft es ohne diese heuer in Mode gekommene, hyper-aufgeregte und widerlich dennunziatorisch gefärbte Weise, die mich immer häufiger von der Lektüre vieler mir wie Kampfschriften anmutender Texte abhält.

  10. Detailfrage @Susanne: warum eigenlich „warmer Tee“ – und zuvor sogar nur „lauwarmer“? Mir ist das sofort aufgefallen und hat Appetit auf HEISSEN Tee erzeugt… :-)
    Es gibt Leute, die kalten Tee trinken und der Mainstream mag es heiß – aber LAUWARM? Wirklich? (Gelobt seien die Abschweifungen, wir sollen ja „die Bandbreite des Lebens wieder entdecken“, wie Gilbert rät).

  11. @Claudia: Eine Tasse ‚warmer‘ oder ‚lauwarmer‘ Tee (und implizit damit auch ‚heißer‘, aber daß eine solche Tasse Tee gegen jede Unbill schützt, welche Menschengeist sich ausmalen kann, gilt als zu selbstverständlich, um es gesondert zu erwähnen) sind nur Chiffren, die ich von meine Mutter übernommen habe, und zwar für die Relation zwischen wenig erfreulichem, leider aber unabänderlichem Ungemach und den ungenügenden Mitteln, die dagegen zur Verfügung stehen.

    Der Unterschied liegt vielleicht in der mitgedachten Bewertung: wird das Ungemach ‚an sich‘ als irgendwie zu unbedeutend angesehen, um einen kultivierten Menschen aus der Ruhe zu bringen, tut es das dummerweise aber dennoch, so ist die ‚warme‘ Tasse angebracht – immerhin ist das eigene Unbehagen ja eine heimliche Anerkennung verborgener Qualitäten seiner Ursache.

    Ist aber das Ungemach schwierig zu beurteilen, so wird zum ‚lauwarmen‘ Tee gegriffen, um quasi mit der Herabsetzung des Mittels zugleich die Ursache, welche seine Anwendung notwendig machte, abzuwerten.

    Lustigerweise ist meine Mutter, wie ich, begeisterte Kaffeetrinkerin, obwohl ich einen (nach meiner Auffassung) ‚korrekt‘ gebrühten Tee nicht ablehnen würde. Ich habe jedoch meine Probleme mit all den wunderbaren Techniken und Geräten, welche die Zubereitung aromatischer Heißgetränke aus Wasser (in diversen Aggregatzuständen) und festen Zusatzstoffen (ob Teeblätter oder Kaffeemehl, bleibt sich gleich) zu einer abendfüllenden Veranstaltung gemacht haben – jedenfalls als Thema hitziger Debatten.

    Hier also zur Bandbreitenerweiterung mittels Abschweifung mein ganz privates Rezept für den einzig wahren, den korrekt gebrühten, schwarzen Tee:

    Teeblätter in eine ausreichend große Vorbrühkanne schütten (was heißt, daß die Teeblätter, wenn sie ausgequollen haben, im Wasser schwimmen können, statt heraus klettern zu müssen), vom sprudelnd heißen Wasser einen Teil drüber kippen und auf keinen Fall länger als 3 Minuten ziehen lassen, durch ein Sieb in die vorgewärmte Teekanne gießen und mit dem Rest des Wassers (das nicht noch einmal zum Kochen gebracht wurde) auf die gewünschte Menge bringen. Geringere Vorbrühzeiten und das genaue Verhältnis aus der Menge der Teeblätter zur Menge des Endproduktes sind experimentell je nach Teesorte und individuellem Geschmack zu bestimmen.

    So – wenn das keinen aufregenden Ausgangspunkt für eine die verlorene Lust am Leben zurück bringende Diskussion wahrhaft spannender Fragen abgibt, dann hilft wohl nur ein mittelprächtiger (‚lauwarmer‘) Weltuntergang.

  12. Ich wundere mich, so missverstanden worden zu sein. Was ich aber daraus schließen muss ist dass man seine Worte niet und nagelfest abzuklopfen hat, bevor man sie losschickt.
    Susanne schätze ich, wenn ich das so sagen darf (?!) ich weiss das schmeckt ihr nicht unbedingt.
    Das dunkle kann ich manchmal (!)nicht haben. Tut mir nicht immer gut.
    Ich mag bryson als Autor. Aber von Hass las ich in letzter zeit genug. That’s it.
    Ich würde im übrigen gerne wieder ihre Gedichte lesen. Da spricht eine feine liebe zur Sprache.

  13. Warum missverstanden? War doch eine ehrliche Aussage: „Wer will das schon lesen?“ Ich hatte mir nur Sorgen gemacht, dass Susanne vergrätzt sein könnte…
    Zum Glück zu Unrecht!

  14. Claudia, du kennst mich jetzt mindestens zehn Jahre. Ich glaube, es sind soviel.
    Gut, ich habe mich meist geziemt, habe nie vom Leder gezogen oder Verqueres geäußert. Schon fast langweilig, dieser Kerl! Jetzt äußerte ich mich etwas „frech“, schon ist es deplaziert und erzeugt postwendend Gegenwehr.
    Was zu meinem Lieblingsthema führt: Was erzählt Geschriebenes wirklich vom Gegenüber?

  15. @Susanne: 1000 Dank! Sowas hatte ich erhofft und auch erwartet: Wer seine Worte so punktgenau setzt wie du, spricht nicht „einfach so“ vom „lauwarmen Tee“! :-) Danke für die Erläuterung und das Tee-Rezept! Ist ja ähnlich der türkischen Zubereitung, die den Tee allerdings in der Erstkanne belässt und dann gläschenweise verdünnt.

    @Gerhard: na hey, ist doch alles gut, Susanne war gar nicht vergrätzt und ich hab mir zuviel Gedanken gemacht! (typisch Frau, siehe aktuelles Posting).