Claudia am 01. November 2008 —

Kleine Meditation über den Alltag – ein Blitzlicht

Alltag, alle Tage, alltäglich – in diesen Worten schwingt so etwas Abwertendes mit, das mir gleich auffällt, wenn ich es hinschreibe. Fehlt noch „grauer Alltag“, was immerhin für den Moment stimmt, wenn ich so aus dem Fenster sehe. Doch gehört der Moment ja nicht zum Alltag, jedenfalls dann nicht, wenn ich ihn wahrnehme, wie es sich für ein „Blitzlicht“ gehört. Und das Wetter ist ja niemals „alltäglich“, sondern immer anders, veränderlich eben.

Was ist also mein Alltag? Habe ich als Selbständige überhaupt so etwas, da ich doch von früh bis spät selber bestimme, was ich wann tue und wie? In meinen Online-Kursen lasse ich manchmal einen Text schreiben mit dem Titel „ein ganz normaler Tag“. Die Hälfte der Teilnehmer tut sich damit schwer und findet kreative Wege, die Aufgabe zu umschiffen, anstatt sie buchstabengetreu zu bearbeiten. Fast, als wäre es ein wenig ehrenrührig, einen „Alltag“ zu haben. Schließlich sollen wir flexibel sein, kreativ, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen, immer bereit, das Gewohnte auf dem Altar der Neuerungen zu opfern. Rasten heißt rosten, und wer will das schon?

Routine und Gewohnheit

Mein Alltag, um nun endlich mal konkret zu werden, ist äußerlich unglaublich monoton: Ich stehe morgens auf, mache mich frisch und bereite mit den immer gleichen Handbewegungen in einer italienischen Espressokanne den ersten Kaffee. Dazu gehört auch ein halber Liter H-Milch (1,5% Fett), die ich in einem Milchtopf erhitze. Wenn ich dann dabei bleibe und z.B. noch ein wenig Restgeschirr von gestern spüle, verpasse ich den Moment des Überkochens nicht, schütte den fertigen Espresso zur Milch und dann das Ganze in die Thermoskanne. Nun wechsle ich vor den PC, den ich meist schon auf dem Weg zur Küche einschalte und überlasse mich der „Anlaufphase“: E-Mails, Nachrichten-Seiten, ein paar Blogs, die ich regelmäßig lese – ich verschwende die morgendliche Geistesklarheit an Nichtigkeiten, tue nichts „Nützliches“ und bin mir dessen sogar bewusst. Egal, ist ja Alltag!

Irgendwann raffe ich mich auf, zur „richtigen Arbeit“ überzugehen: Honorartexte, Kursbetreuung, kleine Änderungen an dieser und jener Webseite, Organisatorisches – gelegentlich ziehe ich meinen Wochenplan zu Rate, der auch nur eine andere Form der alten ToDo-Liste ist. So gegen 14 Uhr fühle ich mich mangels ordentlichem Frühstück und durch das stundenlange Sitzen ein wenig erschöpft. Ich mache dann Pause, nehme einen Imbiss und lege mich ein wenig ab, um so gegen 16 Uhr weiter zu arbeiten. Abends koche ich mir was Einfaches oder mache mir Brote, schaue den Nachrichtenblock im TV und kehre dann zum PC zurück: nochmal ein Blick in den Kurs, doch jetzt habe ich „Freizeit“ und fühle mich berechtigt, einfach meinen Impulsen zu folgen: lesen, surfen, mailen, Artikel kommentieren… So gegen Mitternacht ist Schluss, ich wechsle ins Bett – und das war es dann mit meinem Alltag.

In Verzug mit dem richtigen Leben

Aus der Computerwelt stammt der Ausdruck „default“: das bedeutet so viel wie „voreingestellt“, „Werkseinstellung“ und bezieht sich auf den programmiertechnischen Grundzustand, in dem ein Programm geliefert wird. Was ich oben als Alltag beschreibe, erinnert mich an dieses „default“: wenn ich mich nicht aufraffe und irgend etwas anders mache, bleibe ich „automatisch“ in dieser Grundroutine meiner Tage hängen. Witzigerweise heißt default auch „in Verzug sein“, wie ich bei Wikipedia lese, und das trifft gut das schlechte Gewissen, das sich breit macht, wenn ich diesen immer gleichen Verlauf zu lange nicht durchbreche.

Natürlich mache ich das immer mal wieder: ein paar Yoga-Übungen (zu wenig!), ein Gang zum Lädchen oder in den Supermarkt, mit dem Fahrrad in den Garten (wetterbedingt nur noch selten), Treffen mit Freunden und Geschäftspartnern, Saunabesuche – mein Bedürfnis nach Abwechslung im realen Leben ist nicht wirklich groß. Was online auf mich einströmt und all die Möglichkeiten, damit umzugehen, deckt meinen Bedarf nach Neuem, nach Teilhabe und kreativer Selbstverwirklichung weitgehend ab. Dass dabei der Körper leidet, weil er, wie der Philosoph Virilio es nannte, eine allzu „satellitisierte“ Existenz führen muss, nehme ich mutwillig in Kauf. Und leide an den Folgen, nämlich einer Reihe von Sitzschäden, die mich im besten Fall zu Unterbrechungen motivieren, nicht aber zu grundsätzlichen Veränderungen – welche sollten das auch sein?

Werde ich gefragt, wie es mir geht, sage ich „gut!“ und meine das auch so. Ich lebe in der Anmutung, frei zu sein, obwohl ich täglich viele Stunden vor dem Monitor sitze, mit der Maus klicke, in die Tasten haue, Tag um Tag, Jahr um Jahr. Und meine größte Angst vor dem Alter ist, dass man mir diesen „Zugang“ einmal nehmen könnte.

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Diskussion

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12 Kommentare zu „Kleine Meditation über den Alltag – ein Blitzlicht“.

  1. Hallo Claudia, zur Zeit wühlen mich deine Beiträge etwas auf. Sie setzen etwas in mir in Bewegung, das geäußert werden will. Die letzten noch fehlenden Worte dazu finde ich hier, in deiner für mich empfunden leicht provokativen Art. Das ist gut so, sogar sehr gut.
    default = das ist es, Prima.
    Das muss ich mal erst leben können. Nicht fortrennen aus dem alltäglichen, Bilder suchen, die mir vorgaukeln, aus dem alltäglichen raus ist auch aus der Masse raus. Im alltäglichen gibt es von morgens bis abends so viel, dass doch die ganze Vielfaltigkeit zeigt. Die bunten Blätter, aus welchen Vorgängen und Zutaten sich ein Kaffee ergibt, was ein Lächeln für Kräfte hat.
    Wer das alltägliche vielleicht zu leben und zu schätzen weiß, den treibt es nicht nach mehr. Noch mehr Ansprüche an das Leben zu stellen – sind wir dann nicht schon wieder beim Thema der Gier(-igen Banker)?
    Das gute liegt oft so nah – das alltägliche. Bisher hatte es keine innige Verbindung zu mir geschaffen. Ich denke, wir kommen uns jetzt bewusst näher.

  2. tja, die liebe Angst.
    Wer die freigeben kann, mag ein wirkliches Gefühl dafür bekommen, was Freiheit tatsächlich bedeutet…
    yours, Hermann

  3. @Menachem: dass du diesen Text als „provokatorisch“ empfindest, finde ich interessant – denn die Schreibstimmung war für mich weit entfernt vom „provozieren wollen“! Dass sich da etwas in dir „in Bewegung versetzt“, freut mich – und ich lese gerne, wenn es zum Ausdruck kommt.

    „Aus der Masse raus“ wollen fast alle – wer dieses Streben aufgibt, ist draußen!

    @Hermann: die genannte Angst vor dem Verlust des Zugangs ist bisher allenfalls ein Gedanke, nicht wirklich ein Gefühl. Denn irgendwie vertraue ich darauf, dass ich immer gut genug vernetzt sein werde, dass man es nicht wagen wird, mir das zu nehmen. Weil es eben eine „Nachfrage“ gibt nach dem, was ich da mache – und schreiben ist ja etwas, was man recht lange machen kann, im Prinzip auch dann noch, wenn man schon an irgendwelchen Schläuchen hängt (die das Netzkabel ergänzen… :-)

  4. Bis auf den Espresso + Milch am Morgen (bei mir ist es stinknormaler Kaffee *g*) hätte ich zu MEINEM Alltag das Gleiche schreiben können.
    Bei mir kommt zwischendrin nur noch ein bissel Spielerei hinzu – Patiencen, Mahjong und solche Sachen. Mit sowas kann ich mich an manchen Tagen – wenn sonst nicht viel zu erledigen ist – stundenlang verlustieren. ;-)
    Und was deine Alters-Angst anbetrifft: Ich hab mich auch schon gefragt, was ich wohl machen würde, falls ich mal ins Krankenhaus müsste. Kann in meinem Alter – inzwischen mit dieser grausamen „6“ vorn – ja durchaus schon mal sein. Ich glaube, eine Klinik ohne Internetanschluss und WLAN, in die ich mein Notebook nicht mitnehmen könnte, wäre der Horror für mich (und wohl auch für meine WebSite-Kunden, die sich komplett auf meine Verfügbarkeit verlassen) …
    Ach je, WIR haben Sorgen … ;-)

  5. Liebe Claudia
    Der so genannte Alltag,ist ja eigentlich nur die tägliche Routine sprich Hamsterrad das wir alle täglich treten. Das können wir aber ändern und zwar täglich, indem wir einfach mal was anderes machen. Indem Du ganz bewusst Deine Yoga-Übungen machst und erst nach einem richtigen Frühstück, auch ganz bewusst, an Deinen Computer gehst und diese Arbeit, auch ganz Bewusst ausführst. Sobald Du nicht mehr Bewusst bist, könntest Du nochmals eine Runde Yoga inklusive Meditation machen. Dass es nicht mehr Alltag wird, änderst Du die Reihenfolge jeden Tag. Was noch wichtig ist das wir uns nicht abschotten, wir brauchen Menschen und zwar reale mit Fleisch und Blut, wir müssen uns austauschen im Lädchen und den Nachbarn, da ist das Leben, nicht im Computer, auch wenn Du Dein Geld damit verdienst, vergiss das richtige Leben nicht.
    Liebe Grüsse zentao

  6. @zentao: sei versichert, ich tue sehr GERN, was ich tue! Würde ich etwas anderes wollen, wäre ich längst dabei – wie ich immer schon dem nachging, was mich lockte und beglückte. Wenn ich morgens keine Lust zum Frühstücken habe, dann lasse ich das eben: für wen oder was soll ich mir denn andere Ryhtmen aufzwingen?  Yoga-Übungen mache ich, wenn mein Körper sich danach sehnt (und gewiss nicht mit vollem Magen!), und wenn ich Lust habe, ins Web zu schreiben, mache ich eben DAS. Dieser Eintrag ist beileibe keine KLAGE, tut mir leid, wenn es bei dir so angekommen ist!

    @Ulinne: das Thema „wo / wie/ zu welchen Kosten können Patienten im Krankenhaus online“ wär doch mal was für FOCUS! :-)
     

  7. Stimmt, Claudia.
    Eine Untersuchung, inwieweit Kliniken in Deutschland diese Techniken den Patienten mittlerweile zur Verfügung stellen, wäre durchaus mal angebracht und die Ergebnisse entsprechend zu veröffentlichen. Dann hätte man die Möglichkeit, sich die „richtige“ Klinik auszusuchen … *grins*

  8. Liebe Claudia
    es tut mir Leid, dass ich dich offensichtlich falsch verstanden habe, es tönte auf jedenfalls nicht nach Lebenslust. Sollte ich Dir Ratschläge gegeben haben die nicht angepasst waren , dann bitte ich Dich um Entschuldigung.
    Liebe Grüsse zentao

  9. @zentao:  na, das ist mal ein gutes Beispiel dafür, dass der Text erst im Kopf des Lesers entsteht.. :-)  Aber auch eines, das zeigt, dass es kaum möglich ist, „negative“ Aspekte des täglichen Lebens einfach so zu beschreiben, ohne dass das als Klage, Beschwerde, Problemlösungsverlangen interpretiert wird.

    Dabei hat JEDE Lebensweise ihre Einseitigkeiten – wer seinen Alltag weitestmöglich nach den Vorgaben der zur Zeit herrschenden Gesundheitsreligion gestaltet, hat die Defizite dann eben nicht auf der körperlichen, sondern auf einer anderen Ebene. Das „Böse“ ist der Welt nicht auszutreiben, denn es ist nun mal die Rückseite der Medaille. So zumindest empfinde ich das: auch die allerschrecklichsten und ungesündesten Phasen meines Lebens hatten derart beglückende und „gesunde“ Folgen, dass ich sie nicht missen möchte! Und würde ich mich heute von früh bis spät mit gesunder Ernährung, Fitness und Wellness befassen, würde auf anderen Gebieten einiges mangeln, was mir lieb und wert ist…

  10. Hallo Claudia,

    nun, die von Dir erarbeitete Routine, die Du beschreibst, ist sicherlich Dein Weg zum Ziel. Klar, der selbständige Alltag ist schön lang, aber wenn man dann doch wieder an das Ziel denkt …

  11. @Andreas: was meinst du mit ZIEL? (Dein Ziel scheint  grade zu sein, hier eine Unternehmens-Seite zu verlinken, die weder Bezug zum Thema noch zu DIR hat – das lösch ich mal eben weg).

  12. Man muss in jedem Tag was Schoenes finden und jeden Tag als letzter erleben. Wir brauchen Meditation fuer Entspannung, die Dynamik der zeitgenoesischen Welt ist grausam.