Alltag, alle Tage, alltäglich – in diesen Worten schwingt so etwas Abwertendes mit, das mir gleich auffällt, wenn ich es hinschreibe. Fehlt noch „grauer Alltag“, was immerhin für den Moment stimmt, wenn ich so aus dem Fenster sehe. Doch gehört der Moment ja nicht zum Alltag, jedenfalls dann nicht, wenn ich ihn wahrnehme, wie es sich für ein „Blitzlicht“ gehört. Und das Wetter ist ja niemals „alltäglich“, sondern immer anders, veränderlich eben.
Was ist also mein Alltag? Habe ich als Selbständige überhaupt so etwas, da ich doch von früh bis spät selber bestimme, was ich wann tue und wie? In meinen Online-Kursen lasse ich manchmal einen Text schreiben mit dem Titel „ein ganz normaler Tag“. Die Hälfte der Teilnehmer tut sich damit schwer und findet kreative Wege, die Aufgabe zu umschiffen, anstatt sie buchstabengetreu zu bearbeiten. Fast, als wäre es ein wenig ehrenrührig, einen „Alltag“ zu haben. Schließlich sollen wir flexibel sein, kreativ, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen, immer bereit, das Gewohnte auf dem Altar der Neuerungen zu opfern. Rasten heißt rosten, und wer will das schon?
Routine und Gewohnheit
Mein Alltag, um nun endlich mal konkret zu werden, ist äußerlich unglaublich monoton: Ich stehe morgens auf, mache mich frisch und bereite mit den immer gleichen Handbewegungen in einer italienischen Espressokanne den ersten Kaffee. Dazu gehört auch ein halber Liter H-Milch (1,5% Fett), die ich in einem Milchtopf erhitze. Wenn ich dann dabei bleibe und z.B. noch ein wenig Restgeschirr von gestern spüle, verpasse ich den Moment des Überkochens nicht, schütte den fertigen Espresso zur Milch und dann das Ganze in die Thermoskanne. Nun wechsle ich vor den PC, den ich meist schon auf dem Weg zur Küche einschalte und überlasse mich der „Anlaufphase“: E-Mails, Nachrichten-Seiten, ein paar Blogs, die ich regelmäßig lese – ich verschwende die morgendliche Geistesklarheit an Nichtigkeiten, tue nichts „Nützliches“ und bin mir dessen sogar bewusst. Egal, ist ja Alltag!
Irgendwann raffe ich mich auf, zur „richtigen Arbeit“ überzugehen: Honorartexte, Kursbetreuung, kleine Änderungen an dieser und jener Webseite, Organisatorisches – gelegentlich ziehe ich meinen Wochenplan zu Rate, der auch nur eine andere Form der alten ToDo-Liste ist. So gegen 14 Uhr fühle ich mich mangels ordentlichem Frühstück und durch das stundenlange Sitzen ein wenig erschöpft. Ich mache dann Pause, nehme einen Imbiss und lege mich ein wenig ab, um so gegen 16 Uhr weiter zu arbeiten. Abends koche ich mir was Einfaches oder mache mir Brote, schaue den Nachrichtenblock im TV und kehre dann zum PC zurück: nochmal ein Blick in den Kurs, doch jetzt habe ich „Freizeit“ und fühle mich berechtigt, einfach meinen Impulsen zu folgen: lesen, surfen, mailen, Artikel kommentieren… So gegen Mitternacht ist Schluss, ich wechsle ins Bett – und das war es dann mit meinem Alltag.
In Verzug mit dem richtigen Leben
Aus der Computerwelt stammt der Ausdruck „default“: das bedeutet so viel wie „voreingestellt“, „Werkseinstellung“ und bezieht sich auf den programmiertechnischen Grundzustand, in dem ein Programm geliefert wird. Was ich oben als Alltag beschreibe, erinnert mich an dieses „default“: wenn ich mich nicht aufraffe und irgend etwas anders mache, bleibe ich „automatisch“ in dieser Grundroutine meiner Tage hängen. Witzigerweise heißt default auch „in Verzug sein“, wie ich bei Wikipedia lese, und das trifft gut das schlechte Gewissen, das sich breit macht, wenn ich diesen immer gleichen Verlauf zu lange nicht durchbreche.
Natürlich mache ich das immer mal wieder: ein paar Yoga-Übungen (zu wenig!), ein Gang zum Lädchen oder in den Supermarkt, mit dem Fahrrad in den Garten (wetterbedingt nur noch selten), Treffen mit Freunden und Geschäftspartnern, Saunabesuche – mein Bedürfnis nach Abwechslung im realen Leben ist nicht wirklich groß. Was online auf mich einströmt und all die Möglichkeiten, damit umzugehen, deckt meinen Bedarf nach Neuem, nach Teilhabe und kreativer Selbstverwirklichung weitgehend ab. Dass dabei der Körper leidet, weil er, wie der Philosoph Virilio es nannte, eine allzu „satellitisierte“ Existenz führen muss, nehme ich mutwillig in Kauf. Und leide an den Folgen, nämlich einer Reihe von Sitzschäden, die mich im besten Fall zu Unterbrechungen motivieren, nicht aber zu grundsätzlichen Veränderungen – welche sollten das auch sein?
Werde ich gefragt, wie es mir geht, sage ich „gut!“ und meine das auch so. Ich lebe in der Anmutung, frei zu sein, obwohl ich täglich viele Stunden vor dem Monitor sitze, mit der Maus klicke, in die Tasten haue, Tag um Tag, Jahr um Jahr. Und meine größte Angst vor dem Alter ist, dass man mir diesen „Zugang“ einmal nehmen könnte.
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12 Kommentare zu „Kleine Meditation über den Alltag – ein Blitzlicht“.