Diese Frage stellte ich 1996 den Leserinnen und Lesern meines „Cyberzines Missing Link“. Es ist noch heute im Archiv zu besichtigen. Die per Email zugesendeten Antworten brachte ich in Teil 1 und Teil 2 zur Ansicht. (Ganz im urzeitlichen Webdesign-Stil „optimiert für Bildschirme mit 640 x 480 Pixel“. Das war damals Standard, die große Umstellung auf 800 x 600 kam erst später).
Der zwangsentschleunigten Herangehensweise verdankt sich die durchweg hohe Qualität der Einsendungen. Hier z.B. eine Antwort von Reiner Reiche:
„Philosophie ist meine individuelle Religion.
Sie ist der Repräsentant meines beständigen Kampfes zwischen der Bequemlichkeit, dogmatischer Erstarrung und der permanenten Unruhe der Wahrheits- und Wirklichkeitssuche.
Sie ist mein Protest gegen die widerwärtige Banalität der Alltäglichkeit.
Sie gibt mir die Illusion der Annäherung an eine, in ihrer Komplexität nicht erfassbare Wirklichkeit, in dem Bewusstsein, mich selbst nur als Zerrbild in dem Fragment eines zerschlagenen Spiegels zu erblicken.
Sie gibt mir die Kraft, die Bedeutungslosigkeit meiner Existenz zu ertragen und von einer zentralistischen in eine relativistische Denkweise überzugehen.
Sie gibt mir den Inhalt des Spieles zwischen Analyse und Synthese, mit dem Ziel der maximalen Integration.
Sie ist für mich die wirksamste Waffe der Menschheit, den, nach meiner Meinung, unvermeidlichen Sieg der Entropie zu verzögern.“
Es gab aber auch kurze Antworten, die heute in einen Tweet passen würden, etwa von Max Lamento:
„Philosophie ist die Kunst, mit beiden Beinen FEST über den Dingen zu stehen.“
Auch Zitate wurden eingesendet, etwa das Folgende von Vilém Flusser. Der „Medienphilosoph“ war eine Art Säulenheiliger meiner damaligen Publikationen, dem ich auch eine Fan-Page widmete. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei den Verwaltern der Rechte: dafür, dass sie mir niemals Schwierigkeiten wegen zu langer Zitate oder deren mangelnde Einbettung in eine „eigene geistige Auseinandersetzung“ machten!
Hier ist eine solche immerhin gegeben, denn das Bedürfnis, mal wieder die Grundlagen des Interesses an Philosophie zu betrachten, entstand direkt hier in den Kommentargesprächen. Dieser Beitrag ist also der Wiedereinstieg in ein Thema, das lange meins war, das ich aber sehr lange kaum mehr behandelte. Zwischen den Jahren, in der „magischen Zeit“ finde ich dahin zurück und werde es hoffentlich fortsetzen können.
Aber nun endlich Flusser:
„Unvoreingenommen und ohne jede Absicht, irgendwo anzukommen, folgt sie (die Seele) dem philosophischen Geist und läßt sich von ihm überraschen. Diese Absichtslosigkeit und ehrliche Unkenntnis des Ziels, das unterscheidet die Philosophie von allen anderen menschlichen Tätigkeiten, darum ist sie so erhaben und edel. Alles, was Menschen sonst machen, ist irgendwie immer noch mit der Wirklichkeit verbunden, es hat darum ein Ziel und ein Motiv, das Ziel zu erreichen. Die Philosophie ist von dieser Utilitarität befreit, sie beschmutzt nicht ihre Hände mit Arbeit, sie ist der Aristokrat unter den menschlichen Disziplinen. Darum erscheint, von der Philosophie aus gesehen, alles menschliche Tun verkrampft und vom Willen verzeichnet. Alles , außer der Philosophie, trägt das Stigma des Gewollten und darum des Verstellten.
Alles, nicht nur das tägliche Leben, auch die Wissenschaft und die Religion, die Kunst und die östliche Sucht nach Erkenntnis, ist hypokritisch, weil gewollt und dem Willen untergeordnet. Es gibt vor, Selbstzweck zu sein, und ist alles doch nur Werkzeug des Willens zum Dienste des Willens. Alles, außer der reinen Philosophie, ist verkleidete Hoffart. Die Philosophie allein ist bescheiden und ehrlich. Sie allein hat den Willen verwunden und das Ich gebrochen. Sie allein ist vollkommen ehrlich, obwohl sie sich bewußt ist, Theater zu spielen, während alles andere meint, ehrlich zu handeln. Eben darin liegt die Ehrlichkeit der Philosophie, daß sie nicht Ehrlichkeit heuchelt, sondern zugibt, scheinbar zu sein, während alles andere seine Scheinbarkeit leugnet. Und das ist vielleicht die letzte philosophische Weisheit: Sie erkennt, daß alles, auch sie, ein Schattenspiel des Willens ist, aber sie als einzige erkennt auch die Schattenhaftigkeit des Willens.“
aus: Vilem Flusser: „Die Geschichte des Teufels“
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Und jetzt muss ich erstmal kochen…
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Ein Kommentar zu „Was ist sie, die Philosophie?“.