Die Frage bewegt nicht wirklich die Welt, dort geht es eher um Trump, Terrorismus, Handel, Brexit und sowas. All das wird jedoch von Menschen ins Werk gesetzt, die auch ganz normale Individuen sind wie Du und ich: letztlich mit sich allein, weil wir alle notgedrungen für uns „selbst“ der Mittelpunkt der Welt sind. Nicht aus Größenwahn, sondern weil wir intelligent gewordene Tiere sind, die wie alles, was lebt, das eigene Überleben und – wenn das nicht mehr in Gefahr zu sein scheint – das „gute Leben“ ganz oben auf der ToDo-Liste stehen haben. Wir alle, ohne Ausnahme.
Das Blog von Angelika Wende handelt vom individuellen Dasein. Mit all den Tiefen und Höhen, dem Scheitern, der Angst, der Verletztheit, der Verzweiflung, und was die „Condition humaine“ nun mal so alles mit sich bringt. Was ich an ihr so schätze, dass ich alles mitlese und in meine Blogroll aufgenommen habe, ist, dass sie sich nicht zum Ich-weiß-bescheid-Guru aufschwingt, der ständig „10 Tipps, die dich glücklicher machen“ raushaut, sondern spürbar entlang an ihren eigenen Leiderfahrungen schreibt. Suchend, tastend, durch Berührung der eigenen Abgründe wahrhaft weise.
Ihr letzter Blogpost trägt den Titel „Wer vor sich flieht, kann sich nicht berühren„. Ich hoffe mal, sie ist mir nicht böse, wenn ich das als „Großzitat“ hier wiedergebe:
„Viele denken, dass das Drama des Narziss die Selbstverliebtheit ist.
Das ist aber nicht richtig. Das Drama des Narziss, damals und heute, ist die Überzeugung: In dem Moment, in dem ich mit mir selbst in Berührung komme, zerfalle ich und bin nichts. Wer das Gefühl hat, im Inneren nichts zu sein, der muss im Außen alles sein.
Ist es nicht immer schwieriger, der zu sein, der man ist?
In einer Welt, die immer größeren Wert auf das Unwesentliche legt, die den Superlativ fördert und in der Authentizität zunehmend verloren geht, wird es für jeden Einzelnen zum Kampf bei sich selbst anzukommen. Nicht wenige ergreifen die Flucht vor sich selbst und verbringen ihr Leben im Außen. Dieses Außen wird immer schneller, will immer mehr, immer höher, immer perfekter sein, es fordert laut ein „du musst dich optimieren“um mithalten zu können und nicht herauszufallen aus der Welt, sprich dem Bild von Welt, das man uns Tag für Tag in der multimedialen Welt als Wirklichkeit malt.“
Ich verstehe sehr wohl, was sie hier anprangert. Das unterschreibe ich, auch weil ich weiß, wie leicht und lockend es immer wieder sein kann, sich „im außen zu verlieren“. Und wie sehr unsere aktuelle Gesellschaft mit ihrem jeweils angesagten Lifestyle das uns allen vorgeben will: Vogel, friss oder finde dich bei den Loosern wieder…
Dennoch hab ich mir fürs Kommentieren einen weniger prägnanten Aspekt rausgesucht. Auch deshalb, weil ich ein paar vorherige Artikel gesichtet hatte, in denen auch dieser Bezug zum „eigentlichen Ich“, zum „wahren Selbst“ etc. immer wieder durchscheint. Natürlich ist es – auch für mich – wichtig, „zu sich zu kommen“, aber ZU WEM KOMME ICH DA?
Hier meine Einlassung dazu:
Gibt es denn überhaupt JEMANDEN? Im Sinne von „der, der man ist“?
Mein langjähriger Yogalehrer hat gerne das Beispiel von der Zwiebel verwendet: Yoga (inkl. andere spirituelle Wege) ist die Methode, die verschiedenen Schichten des falschen Selbsts zu entlarven. Wir schälen sie ab wie die Schalen und Schichten einer Zwiebel. Darunter kommt immer eine neue Schicht, die es wieder abzuschälen gilt… und am Ende? Was bleibt? Nichts!
Ich verstehe, dass diese Sicht der Dinge für viele recht negativ klingt, die bisher mit der Vorstellung eines „wahren Selbst“ umgehen, zu dem man zurück finden, „zu sich kommen“ müsste.
M.E. ist das zwar eine schöne Vorstellung, doch meine Erfahrung entspricht eher dem Zwiebelbeispiel. Was man findet, ist nie das wahre letzte eigentliche Selbst, sondern einfach die nächste, frischere Version, entlastet vom Ballast nicht mehr funktionierender Vorstellungen, Haltungen und Handlungsgewohnheiten.
Man fühlt sich zwar wie „neu geboren“, aber fünf, sieben oder 10 Jahre später ist auch dieses Ich 2.0 wieder zu einseitig, zu etabliert, zu eingeschliffen und unflexibel – eine weitere Häutung steht an, wobei es wenns gut läuft nicht wieder ein totales Tief sein muss, das dazu zwingt. Wir lernen ja durchaus aus gemachten Erfahrungen und können nun besser sehen, wenn Änderungsbedarf und Loslassen angesagt ist.
Ich finde die Vorstellung, dass da NICHTS, bzw. „im Grunde nichts Festes“ ist, schön und befreiend. Denn das bedeutet ja auch: ich kann „im Prinzip“ ALLES sein. Das Nichts schlägt nahtlos ins Potenzial von Allem um, was menschenmöglich ist.
Diese Vorstellung hat auch den Vorteil, nichts Trennendes zwischen den Menschen anzunehmen: Dein wahres Selbst ist anders als meins… etc. usw.
Es geht mir nicht ums Herumrechten, was nun „die Wahrheit“ sei. Es gibt auf diesen Ebenen der Selbsterfahrung keine allgemeingültige Wahrheit. Sondern immer nur individuelle Vorstellungen, die wir dann in größeren Kollektiven teilen, die sich im schlechten Fall miteinander streiten bis hin zu Religionskriegen und Ketzerverbrennung. Wie überflüssig! Wir sollten lieber darüber reden, welche Variante der Interpretation uns förderlicher erscheint, jeweils fürs individuelle Glück, aber auch fürs friedliche Zusammenleben. Nicht mit dem Ziel, die Anderen zu bekehren, sondern einfach so: um die Basis der eigenen Befindlichkeit in diesem krassen Universum allen anderen zu zeigen.
Mir persönlich – ich hab das echt nicht selbst erdacht! – erschien die über Jahre in tausend Varianten vorgetragenen Geschichte von der Zwiebel, in deren Innerem NICHTS ist, als die letztlich befriedigendste Variante. Weil sie mir alle Optionen offen lässt und alle Ideen im Sinne einer grundsätzlichen zwingenden Verschiedenheit der Menschen nimmt.
Wie seht Ihr das – so ganz persönlich?
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19 Kommentare zu „Gibt es das „wahre Selbst“?“.