Claudia am 04. Juni 2017 —

Was wirklich zählt: 10 Lesetipps zu Pfingsten

An Pfingsten soll der Geist auf die Jünger herab gekommen sein, worauf sie „in Zungen redeten“ und Beobachter sie deshalb für ziemlich irre hielten. Meine Lesetipps zu Pfingsten folgen einem prosaischeren Begriff von „Geist“. Um geistreich zu sein, brauchen wir Muße, Geduld und Lesestoff, der mehr vermittelt als „das Wichtigste in Kürze“.

  1. Willkommen im Club„Optimierung: Politik und Konzerne definieren soziale Kontakte neu. Freundschaften sollen nun bestimmten Zwecken dienen.“
    Der Titel klingt viel eindimensionaler als der Text, der interessante Ergebnisse der Verhaltensökonomie und Neurowissenschaften aufzeigt, sowie deren – mögliche und tatsächliche – Anwendungen dank sozialer Netzwerke.
  2. Eine folgenreiche Publikation – Vorabdruck. „Vor 150 Jahren erschien »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie« von Karl Marx – ein Jahrhundertwerk, das kaum an Aktualität verloren hat“.
    Ein zunächst etwas ermüdender, im Lauf des Lesens aber immer spannender und aktueller werdender Text, der als Zusammenfassung der gesamten 3-bändigen Kapital-Ausgabe gelesen werden kann. Kompakter kann Bildung kaum rüber kommen!
  3. Die Starre vor dem Fall„Wie ein junger Mensch vom Jobcenter unter das Existenzminimum gedrückt wird – und wie er aus dem System fällt“.
    Dabei hatte er einen konkreten Berufswunsch, für den er bereit war, 12 Stunden am Tag zu arbeiten!
  4. Die post-utopische RevolteDie Erben von ’68 und der neue Marsch durch die Institutionen.
    Eine weiträumige Betrachtung der Zeitläufte im Blick auf die rebellische und nicht mehr so rebellische Jugend.
  5. Die bitteren Früchte eines langen Friedens oder vom vergifteten Frieden.
    Liisas Text auf Charming Quark fängt sehr persönlich, alltäglich und harmlos an. Der Bericht eines „ganz normalen Tags“ kulminiert in einem Moment wahrhaftigen Glücks – und nimmmt dann eine Wendung, die gleichermaßen nachvollziehbar wie beunruhigend ist. Auch ich hab‘ öfter schon gedacht: Es war wohl schon zu lange kein Krieg, die Leute werden immer frecher. Aber Liisas Worte sind kein bloß zynisches Spötteln zur Abwehr berechtigter Angst, sondern eindringlich, berührend und wahr!
  6. Genosse Big Brother„China bastelt mithilfe von Big Data an einem besseren Menschen.“
    Gute Menschen belohnen, schlechte Menschen betrafen: die Bewertung nimmt ein Algorithmus vor, der mit allen Daten aus sämtlichen Ämtern und Behörden angefüttert wird. Das Tool kann man sich als App herunter laden, doch ist sein Wirken nicht auf die – bisher freiwilligen – Teilnehmer beschränkt. Das Ziel: Jeder Bürger Chinas bekommt einen Bewertungsstempel, der über seine Teilhabe am Alltagsleben und seinen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen entscheidet. Derzeit laufen 30 Pilotprojekte, letztendlich soll der Mensch so „zivilisiert werden“. Wahnsinn!
  7. Wenn ich dich nehme, dann nehme ich dich so wie du bist.
    „Wir alle belegen den anderen mit dem Eigenen, mit Erfahrungen und Erinnerungen, mit Wünschen, Vorstellungen, Erwartungen oder was auch immer. Vor allem belegen wir einander mit Projektionen und Übertragungen. Und ja, auch ich bin nicht frei davon. Aber, so hart es klingt: damit ist der Käse schon gegessen. Futsch die Illusion, so gesehen, so genommen zu werden, wie wir nun einmal sind.“
    Angelika Wende, wieder einmal kurz, prägnant und auf den Punkt!
  8. Die Aufklärung des Islam„Der Essayist und langjährige Korrespondent Christopher de Bellaigue stellt das 19. Jahrhundert in der muslimischen Welt in ein neues Licht. Er beleuchtet die Islamische Aufklärung….“…und wie und warum sie wieder vor die Hunde ging.
  9. Fingerphilosoph: Geist-Materie-Dualismus„These: der Geist-Materie-Dualismus begleitet den Menschen durch seine ganze Entwicklung hindurch und ist bis heute nicht aufgelöst. Es gibt nach wie vor zwei unterschiedliche Weltsichten.“
    Keine Pfingst-Leseliste ohne „was mit Geist“! Die Betrachtungen des Fingerphilosophen regen zum Nach- und Mitdenken an, sind originell, aber auch in den Ergebnissen provozierend.
  10. Kann man Leben künstlich erzeugen?„Wenn das Leben als Designobjekt neu definiert wird, ist es nicht mehr etwas Vorgegebenes, es ist kein Schicksal mehr, es wird zum Artefakt.“
    Wie weit man in diesem Prozess gekommen ist, berichtet dieser Artikel im Philosophie-Magazin und reflektiert die philosophischen Implikationen für unser Verständnis von „Leben“. Im Unterschied zur Definition des Fingerphilosophen (Leben als „untrennbare Einheit von Geist und Materie“) reaktiviert die synthetische Biologie ein jahrtausendealtes Lied: das Lebendige entmystifizieren, indem man es herstellt. Was natürlich nur gelingen kann, wenn es sich um ein rein materiell-mechanisches Phänomen handelt. So ganz scheint das „Herstellen“ zwar (noch?) nicht zu funktionieren, wohl aber das Quasi-Erschaffen neuer Lebewesen und biologischer Maschinen.

Einen schönen Pfingst-Sonntag und Montag wünsch ich!

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Diskussion

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14 Kommentare zu „Was wirklich zählt: 10 Lesetipps zu Pfingsten“.

  1. Danke für das Zukommenlassen von Artikel 10.
    Ich bemerkte unlängst, daß Du auch auf Deinem Twitteraccount Beiträge biologischer Forschung benannt hast.
    Ich denke, so manches, was Forschung umtreibt, kommt erst mit erheblicher Verspätung zu Allgemeinkenntnis.
    Zu dem Thema „Synthetische Biologie“, genauso wie zu anderen Feldern der Wissenschaft, muß man einiges im Vorfeld wissen, um es einordnen zu können.
    Nur z.b. der Begriff „Holobiont“: Es gibt ja kein isoliertes Leben. Leben findet immer im Verbund statt. Ein heranreifender Fötus wird durch die Mutter schon mit den meisten Bakterien versorgt, ohne das es schlicht nicht lebensfähig wäre. Diese Alliance eines Individuums mit anderen Organismen ist natürlich in ihrer Dimension nicht völlig ausgeschöpft. Man weiß aber, daß jedwede Funktion des Menschen ohne diese Partnerwelt nicht denkbar ist.
    Von daher weiß ich nicht, wieweit man überhaupt im Design von neuartigen Lebewesen kommen kann.
    Die Gefahr und die Gefährdung wurde im Artikel auch etwas angerissen. Ich denke, es ist wichtig, hier zu kontrollieren! Denn der Eifer und der Ehrgeiz, als erster etwas Epochales zuwege zu bringen, könnte durchaus zu Problemen führen.

    Ich würde mich freuen, wenn Du mehr solcher wissenschaftsbezogenen Artikel anführen würdest.
    Auf meiner Seite tue ich das auch ab und an.

  2. Ich habe auch Artikel 5 gelesen.
    Hatte ihn schon mal am 31.5. angelesen, jetzt aber deutlicher angesehen.
    Ich habe einen Kommentar auf der Seite von „Charming Quark“ hinterlassen und meine Auffassung zum Thema wiedergegeben.

  3. Artikel 9 kannte ich schon. Und hatte da auch kommentiert, weil ich ihn sehr anregend fand.

  4. Artikel 7
    Ich lese Angelika Wendes Beiträge auch immer wieder mal.
    Mir fällt dabei auf, daß die Weise, wie sie ihre Weisheiten oder sagen wir besser: Gedanken vorbringt, von sich aus Zustimmung einholen.
    Man tut gut daran, die Texte vielleicht mehrmals zu lesen, gerade weil sie so selbstverständlich klingen. Das Selbstverständliche ist die Gefahr!

  5. Was gut wäre, wäre auch ein Logo zu Deinen Lesetips.
    „Was wirklich zählt“ .
    Das könnte auch eine wechselnde Grafik sein, aber immer im Bezug zu „“Was wirklich zählt“ .

    :-)

  6. @Gerhard: deine Anteilnahme an meinen Lesetipps freut mich! Ja, zu einem Bildelement bin ich leider noch nicht gekommen…
    Art.9 hat keine Kommentarfunktion, da musst du was verwechselt haben!

  7. ok, dann meinte ich Fingerphilosophs neuen Artikel.

  8. Es war Absicht, dass ich nicht den aktuellen, sondern den „zeitlosen“ Artikel in die Tipps aufgenommen habe. Davon gibt es mehrere, alle interessant zu lesen – dieser hier erschien mir am passendsten für Pfingsten, bzw, mein Bedürfnis nach „was mit Geist“. Lies doch mal seine persönliche Lösung, die ich ja nicht grundlos „provozierend“ nannte. (Leider kann man ja dort nicht kommentieren).

  9. Ja, @Claudia, habe ich gelesen. Ein guter „Essay“, wenn man das so salopp sagen darf :-)
    Der Autor hat Kommentare nicht zugelassen, daher möchte ich hier nicht weiter kommentieren, das hiesse, seinem Wunsch nicht zu entsprechen.
    Du hast es ja ebenfalls nicht getan.
    Grüsse!

  10. @Gerhard: in Zeiten sozialer Netze ist eine fehlende Kommentarfunktion doch kein Wunsch mehr nach „nicht kommentieren“ – sondern z.B. eine Verteidigungsmaßnahme ODER (insbesondere bei „Seiten“ statt „Artikeln“, diese Unterscheidung macht WordPress ja) eine besondere Hervorhebung als zeitloser Beitrag / Grundtext einer Webseite.
    So sehe ich mal wieder, wie die unterschiedlichen Nutzungsgewohnheiten auf die Sicht des „vermuteten Autorenwillens“ durchschlagen!

  11. „Seit meiner Kindheit hatte ich es verlernt, die Dinge mit meinen eigenen Augen zu sehen, und ich hatte vergessen, dass die Welt einmal jung, unberührt, sehr schön und schrecklich gewesen war. Ich konnte nicht mehr zurückfinden, ich war ja kein Kind mehr und nicht mehr fähig zu erleben wie ein Kind, aber die Einsamkeit brachte mich dazu, für Augenblicke ohne Erinnerung und Bewusstsein noch einmal den großen Glanz des Lebens zu sehen. Vielleicht leben die Tiere bis zu ihrem Tod in einer Welt des Schreckens und Entzückens. Sie können nicht fliehen und müssen die Wirklichkeit bis zu ihrem Ende ertragen. Ich weiß nicht, ob ich es ertragen werde, nur noch mit der Wirklichkeit zu leben … “

    Das ist ein Zitat aus einem meiner Lieblingsbücher:
    Marlen Haushofer: Die Wand. 1968

    Worüber ich theoretisierend und fachsimpelnd unterwegs bin, beschreibt Haushofer in diesem Roman mit sehr einfachen, sehr eindringlichen Worten. Deshalb von mir noch diese Leseempfehlung als Ergänzung.

  12. @Fingerphilosoph: Ich bin literarisch nicht bewandert, daher weiß ich nicht, welche Intention der sehr bekannte Roman von Marlen Haushofer hatte. Vielleicht verhält es sich wie bei Kafka, „Das Schloß“. Man kann den Kafka-Roman schaudernd lesen oder philosophisch, je nach „Gusto“.
    @Claudia: Ich bin NICHT bewandert mit den Bloggepflogenheiten, jetzt, da ich selbst Blogger bin, merke ich das deutlich. Ich weiß im einzelnen nicht genau, was bestimmte Phänomene bedeuten – und – ob sie überhaupt was bedeuten.

  13. Die neueren Artikel, die sich oben als Seiten finden, stehen auch unten im Blog und können dort kommentiert werden. Es ist blöd, wenn dasselbe an zwei verschiedenen Stellen kommentiert wird. Das oben als Seiten ist eine Art Quintessenz aus dem unten.

    Die Seiten sind nochmal überarbeitet, haben teilweise auch eine andere Überschrift. Am Anfang habe ich für die Seiten ein paar Artikel aus einem anderen Projekt übernommen, wie die Sparte mit dem Feuer und noch ein paar andere, aber ich weiß nicht mehr, welche.

  14. @Fingerphilosoph: Danke für die Klarstellung.
    „Kommentieren“ ist so eine Sache, generell. Gerade wenn es um Subtiles geht. Da möchte man nicht missverstanden werden, auch weil man zudem Gedankenarbeit reingesteckt hat.
    Philosophische Themen sind für mich Neuland. Aber auch das ist falsch.
    Mir wurde der Mut fürs Philosophieren genommen – oder – ich nahm ihn mir selber – was aufs Gleiche herauskommt.
    Das Philosophieren ist eine zarte Pflanze, aber ich habe Spaß daran.
    Obwohl sie zart ist, glaube ich mitreden zu können. Doch der andere sollte wissen, daß ich nicht mit 14, wie ein Freund von mir, schon philosophische Werke gelesen habe. Es gibt da also keine Tradition des Gelesenen. Kein Plato, kein Aristoteles, kein Kant, kein Schopenhauer ect.
    Das nur mal dazu – falls es gelesen wird.