Habt Ihr schon mal einen Artikel angetroffen, der alles auf den Punkt bringt, was Ihr schon länger bloggen wolltet – aber viel besser, als Ihr es je hinbekommen hättet? Einen Text, der verschiedene irritierende Phänomene unserer Zeit zusammen fasst, nachvollziebar beschreibt und sich nicht scheut, deutlich Stellung zu beziehen?
Der Essay „Im Zeitalter der (zu) vielen Wahrheiten“ von Kenan Malik (britischer Publizist, Universitätsdozent und Rundfunkjournalist) nimmt es mir ab, weiter darüber nachzudenken, wie ich all das in Worte fassen könnte, was mich an vermeintlich „linkem“ Denken länger schon massiv stört, ja beängstigt.
Das Intro reisst das Themenspektrum an, um das es geht:
Zerfall des Universalismus, Aufstieg der Identitätspolitik und die Fragmentierung der Gesellschaft haben zu einer Krise der Wahrheit geführt.
Der Einstieg wirkt zunächst wie eine der gängigen Klagen über „Fake News“. In aller Kürze zeigt Malik auf, dass es sie schon immer gegeben hat, lediglich die Verbreiter seien heute andere:
„In der Vergangenheit waren es Regierungen, große Institutionen und Zeitungen, die Informationen und Nachrichten manipulierten. Heute kann das jeder, der ein Facebook-Profil hat. Anstelle der sorgfältig gestalteten Fake News der Vergangenheit sehen wir uns heute einer anarchischen Schwemme an Lügen gegenüber. So wie die Eliten die Kontrolle über die Wählerschaft verloren, verloren sie auch ihre Fähigkeit, die Verbreitung von Nachrichten zu steuern und zu definieren, was wahr und was falsch ist.“
Soweit, so gewohnt. Dann aber kommt er zu den „Alternativen Fakten“, die Trump für sich in Anspruch nimmt:
„Donald Trumps Behauptung, an seiner Vereidigung hätten mehr Menschen teilgenommen als an irgendeiner früheren Vereidigung, ist offensichtlich falsch. Aufschlussreich ist aber nicht nur die Lüge, sondern auch die Art, wie sie verteidigt wurde: Mit ihrem Vorschlag, die Falschbehauptung sei eine „alternative“ Wahrheit, die auf „alternativen“ Fakten beruhe, stützte sich Kellyanne Conway auf Konzepte, die in den vergangenen Jahrzehnten von radikalen Bewegungen nicht für Lügen genutzt worden waren, sondern um die Macht etablierter Wahrheiten herauszufordern, indem man darauf bestand, dass „Fakten“ oder „Wissen“ immer relativ zum jeweiligen Kontext oder zur jeweiligen Gruppe zu sehen seien.“
Damit ist das Hauptthema eröffnet: Postmoderner Relativismus kennt keine Wahrheiten mehr, sondern nur mehr relative, kulturell bedingte Blickwinkel. Dankenswerter Weise referiert der Autor die Denkweisen, gegen die er antritt:
„Postmoderne“ ist ein Konzept, das sich nur sehr schwer definieren lässt, letztlich kennzeichnend ist jedoch die Feindschaft gegenüber dem Projekt der Aufklärung, aus fragmentierten Erfahrungen universelle Erkenntnisse abzuleiten und unseren Beobachtungen der sozialen und natürlichen Welt Stimmigkeit zu verleihen. Da kein Mensch die Realität „aus der Gottesperspektive“ betrachten kann, schlussfolgern Postmodernisten, kann jeder von uns nur aus seiner jeweiligen Perspektive heraus sprechen – eine Perspektive, die auf spezifischen Erfahrungen, der jeweiligen Kultur und Identität beruht. „Wahrheit“ ist so notwendigerweise lokal und nur für spezifische Gemeinschaften oder Kulturen gültig.“
Womit er bei der antiuniversalistischen Linken unserer Tage angekommen ist:
„Einst vertrat die Linke die universalistische Vision der Aufklärung – eine Vision, die die großen radikalen Bewegungen antrieb, die die moderne Welt schufen, von den antikolonialen Kämpfen über die Frauenwahlrechtsbewegung bis hin zum Kampf für die Rechte von Schwulen.
Die Radikalen von heute verunglimpfen Universalismus meist als „eurozentrisches“ Projekt. Die Idee der Aufklärung, so argumentieren viele, sei aus einer bestimmten Kultur und Geschichte hervorgegangen. Sie entspreche besonderen Bedürfnissen, Wünschen und Neigungen. Menschen außerhalb des Westens müssten demzufolge ihren eigenen Ideen und Werten aus ihren jeweiligen Kulturen, Traditionen und Bedürfnissen heraus folgen – und dies gilt nicht nur für Nicht-Westler, sondern auch für verschiedene soziale Gruppen innerhalb der westlichen Nationen, etwa Schwarze, Frauen oder Schwule….Die Akzeptanz solcher Sichtweisen ging in den letzten Jahren Hand in Hand mit dem Aufstieg der Identitätspolitik und einem generell subjektiveren Blick auf die Welt, der sich parallel entwickelte: Es breitete sich der Glaube aus, unsere Wahrnehmung der Welt oder wie wir uns bei ihrer Betrachtung fühlen, sei genauso wichtig wie ihre tatsächliche Beschaffenheit.“
Wie mir das aus der Seele spricht! Und ich muss zugeben: Auch ich war einige Jahre der Überzeugung, diese „Denke“ sei ungemein progressiv und fortschrittlich. Bis ich mehr und mehr bemerkte, dass sie die Möglichkeiten des gemeinsamen Politik-Machens zerbröselt und es am Ende keinen gemeinsamen Werte-Anker mehr gibt, auf den man sich beziehen kann. Sondern nur noch den Kampf immer verschiedenerer Kleingruppen gegeneinander: um die „Definitionsmacht“ und letztlich die Macht, andere zu beherrschen. Was das glatte Gegenteil früherer linker Werte, denen ich mich immer schon verbunden fühlte und noch immer fühle.
Lest bitte selbst bei NOVO weiter, wie das neolinke Denken der Differenz die Widerstandskraft gegenüber den Identitären und anderen reaktionären Rechten untergraben hat – und welche Folgen das hat. Gänsehaut!
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21 Kommentare zu „Vom Verlust der Wahrheit und linken Verirrungen in rechtes Denken“.