Diesen Titel trägt eine Doku, die vor drei Tagen im ARD lief und in der Mediathek noch zu sehen ist. Eine recht erschütternde Doku, die berichtet, wie Feuerwehrleute, Ärzte und Pflegende in der Notaufnahme, Polizisten, Zugbegleiter, Bürgermeister und viele andere gewaltätig angegriffen werden. Sowohl von Einzelnen als auch angefeuert durch eine Menge „ganz normaler Menschen“. Übelste Beschimpfungen der Sachbearbeiter in Behörden (Zulassungsstelle, Jugendamt..) sind mittlerweile normal, man wappnet sich mit Sicherheitsglas, Taschenkontrollen, Workshops zur Selbstverteidigung. Selbst in der Fußball-Kreisklasse gibt es Ausschreitungen, auch beim Kinderfußball müssen getrennte Zonen für die Eltern der jeweiligen Mannschaften eingerichtet werden. Und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit 1000fache Mails an Kommunalpolitiker mit wüsten Drohungen und übelsten Tötungsfantasien.
„Wird Gewalt zu einem Kulturevent?“ fragt ein Sprecher. Der ganzen Doku fehlt die Analyse der Ursachen, die Ratlosigkeit ist greifbar. Auch abseits konkreter Gewalt nimmt die Ignoranz zu: Bei Unfällen scheren sich immer weniger um die Rettungsgasse, die Leute filmen mit Handys die Toten und Verletzten. Was ist nur los in diesem Land?
Der Lack der Zivilisation ist dünn, heißt es. Und derzeit kann man sehen, wie er zügig abblättert. Woran liegt das? Ich weiß es nicht, kann auch nur spekulieren, wobei mir ein Ereignis aus der Doku symptomatisch für viele zu sein scheint: in einem Döner-Imbiss griff ein Bürger den Bürgermeister von Altena (Sauerland) mit einem Küchenmesser an: „Ich stech dich ab! Mich lässt du verdursten, holst aber 200 Ausländer in die Stadt!“ Der Angreifer hatte seine Wasserrechnung nicht zahlen können, woraufhin ihm das Wasser abgestellt wurde.
Uns geht es doch gut?
Niemandem geht es schlechter, keiner bekommt weniger, weil der Staat Flüchtlinge versorgt. Das stimmt, es reicht den Leuten aber nicht, die zu den vielen Armen und Marginalisierten gehören. Es reicht auch Anderen nicht, die auf die vielen Missstände hinweisen, die uns der entgrenzte Kapitalismus der letzten Jahrzehnte eingebrockt hat. Schulen verwahrlosen, die Infrastruktur bröckelt, auf dem Land sterben die Dörfer, das Arbeitsrecht lässt immer nervigere, prekärere Jobs zu, die eine Lebensplanung unmöglich machen. Dass die Arbeitslosigkeit sinkt, tröstet wenig angesichts der vielen Aufstocker und angesichts eines Mindestlohns, der in die Altersarmut führt. Wer heute noch „Mittelstand“ ist, weiß, wie schnell man ganz unten ankommen kann. Und zu alledem tönt forwährend der Singsang der Bessergestellten: Uns geht es doch gut! Deutschland ist ein Land, in dem wir gut und gerne leben….
Die Durchkommerzialisierung aller Lebensbereiche, das Verschwinden öffentlicher Räume der Begegnung, die extreme Vereinzelung und eine Ideologie, die jegliches Leiden an den strukturellen Bedingungen als individuelles Problem und eigene Lebensentscheidung diskreditiert, ergeben zunehmenden Hass all jener, die nicht zu den Gewinnern der Verhältnisse gehören. Wachsender Konkurrenzdruck, Arbeitsverdichtung, Beschleunigung, Digitalisierung – all das produziert Verlierer, führt zu inneren Kündigungen und Burnout.
Selbst die Besserverdiener in den klassischen deutschen Industrien sind nicht gefeit: Sie mussten erleben, wie die Macht in den Unternehmen von den Experten und Fachkräften an Finanzleute und Marketingtypen überging: Manager, die „von der Sache keine Ahnung haben“, sich aber profilieren müssen und nun die hoch qualifizierten und spezialisierten (!) Fachkräfte mit den immer neuesten Unternehmensideologien nerven wie etwa „jeder muss hier alles können“. Sinnvolle Arbeit für konkrete Kunden ist dann oft nurmehr mit Tricks und quasi „unter dem Radar“ möglich. Ein absurdes Theater, das nicht gerade zur Identifikation mit der Firma beiträgt. Übrigens auch nicht zum langfristigen Erhalt des internationalen Stellenwerts dieser wichtigen Firmen, aber was schert das so einen Kurzzeit-Manager?
Es gibt also viele Gründe für Hass: ganz unten, in der Mitte und sogar recht weit oben. Alle zusammen erleben den Staat nicht mehr als „fürsorglich“, darum bemüht, das Leben der Individuen zu erleichtern und vor Abstürzen zu schützen. Ganz im Gegenteil scheint sich die Politik um all das nicht zu kümmern, die Verhältnisse wurden und werden als „alternativlos“ dargestellt.
Da wirkt es dann als Provokation, dass der verlorene „Kümmerer-Staat“ plötzlich wieder zur Hochform aufläuft, wenn viele Flüchtlinge kommen. Soviel Fürsorge – und was ist mit uns? Auch während der Finanzkrise bemerkte man auf einmal eine staatliche Beweglichkeit, die niemand mehr erwartet hatte. Ja, ich weiß, das war nötig, denn niemand kann sich einen Zusammenbruch wünschen. Aber gefühlt war das der erste Streich, die „Flüchtlingskrise“ der zweite: Für Banker und Flüchtlinge ist genug da, aber mit den Widrigkeiten des für viele verschlechterten Lebens und Arbeitens in Deutschland sollen alle ohne Murren allein zurecht kommen!
Der aufgestaute Hass richtet sich traurigerweise gegen Menschen, die wahrlich nichts für die Zustände können. Sündenböcke werden gesucht und – gestützt von einem Teil der Politik und vielen Medien – auch gefunden. Wenn es so weiter geht, haben wir bald wieder Faschismus, weil eine „kritische Masse“ bereitwillig falschen Führern folgt, die nicht etwa echte Alternativen bieten, sondern nur noch mehr Verrohung, Ausgrenzung, Abschottung, Abbau sozialer Errungenschaften und immer mehr Hass.
Deutschland, mir graut vor der Zukunft!
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Ein Werbelink zum Thema:
Und ein lesenwerter Rant von Sascha Lobo über das Schweigen der Anständigen:
Rassismus und Integration: Wir schweigen Extremisten an die Macht
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7 Kommentare zu „Das verrohte Land – ein Kommentar“.