Achtzig Kilometer sind es von Berlin bis zur Oder. Der Kontrast zur Stadt könnte nicht größer sein: eine kilometerbreite Auenlandschaft, aus dem Wasser ragende Weidenwäldchen und Gebüsche, mäandernde Nebenarme, Tümpel, Weiher, Sümpfe und fette Wiesen, alles blüht, summt, duftet und wiegt sich tänzerisch im Wind. Drüben auf der polnischen Seite ein breiter Gürtel wegloses Schilf, dahinter Wälder. Der Blick sucht ganz aus alter Gewohnheit die üblichen Wunden und Schründe megalomaner Menschenarbeit – nichts!
Seeadler kreisen hoch über dem Fluss, elegante Graureiher strecken ihre schmalen Schnäbel in die Luft, Störche stolzieren gemütlich durch den Überfluss, der sich ihnen in den stehenden Wassern anstrengungslos darbietet: Hunderttausende Frösche und Kröten konzertieren lautstark ihre Erregungszustände. Kaum verebbt das Geckern und Quaken in dem einen Weiher, hebt es umso beeindruckender in einem anderen wieder an. Ich muss an Nachrichten denken, wie sie sich wellenförmig über verschiedene Medienkonglomerate immer wieder hochschaukeln – den Fröschen nehme ich die Geilheit nicht übel, die aus ihnen schreit.
Ich spaziere auf dem Damm entlang – ach ja der Damm, das große Werk. Wäre er nicht errichtet worden, würde sich diese Wildnis zwanzig Kilometer in Richtung Berlin erstrecken, den „Oderbruch“ gäbe es nicht. Ein flacher, tief liegender Streifen fetter Erde, für Brandenburg eine Seltenheit. In Abständen hingeduckt altertümliche bäuerliche Anwesen, teils verlassen und verfallen, aber auch lebendige darunter. Wahre Idyllen für das Auge des Städters, Fachwerkhäuser in beige und braun, marode Schuppen, nicht ganz ernst gemeinte Zäune um blühende Gärten – RICHTIGE Gärten, nicht so etwas Aufgeräumtes, Rasenmäher-gepflegtes wie in den stadtnahen Einfamilienhäusern der Pendler.
Und sonst? Nichts. Das hat mich schon immer gewundert, seit ich die Oder das erste Mal sah. Keine Yachten und Tretboote, kein Kanu-Sport, kein Wasserwandern, man muss schon ein paar Stunden warten, bevor mal ein Schiff vorbei kommt – und das ist dann ein kleiner Transporter, keinesfalls ein Ausflugsschiff. Auch kein „Strandleben“ an den Ufern, keine Cafés, nirgends Restaurants oder gar musikbeschallte Biergärten – und, das wundert fast noch mehr – auch kein „Ökotourismus“. Kein Naturlehrpfad ruft mir Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Erinnerung, kein Infocenter belehrt über die hier noch erhaltene Tier- und Pflanzenwelt und legt rote Listen aus. Mein Gott, wo bin ich hier? Eine richtige Wildnis mit allem Drum und dran eine gute Stunde vor Berlin – und völlig ignoriert!
Der Rhein, dieser voll-betonierte Abwasserkanal, wird immer noch heftig besungen, Elbe, Donau und Spree sind dichterisch und touristisch in aller Munde, die letzten paar Meter ihrer ursprünglichen Auenlandschaften werden mit Klauen und Zähnen als letzte Refugien der Natur geschützt und gepriesen – hier an der Oder erstrecken sich wild-belassene Weiten von Küstrin/Kostrzyn bis ins vielfach verzweigte Mündungsdelta, man könnte tagelang auf dem Damm wandern. Warum tut „man“ es nicht?
Deutsche Geschichte. Oder-Neisse-Grenze. Drüben der Feind – ist es das? Immerhin waren Polen und die DDR „befreundet“ – warum ist dieser Grenzfluss dennoch so sehr Grenze geblieben? Eine Grenze, von der man sich abwendet, als wolle man vergessen, dass es ein „drüben“ gibt?
Ich stehe am äußersten Rand der EU und schaue nach „drüben“. Der Fluss fließt ruhig aber geschwind, hier ist gewiss keine Stelle, an der nachts die Illegalen herüber kommen. Weit und breit kein Bundesgrenzschutz, vielleicht ist es ja nachts anders. „Wenn sie beigetreten sind, schauen wir mal, was auf der anderen Seite ist“, sagt mein Lebensgefährte. Warum eigentlich erst dann? Der Personalausweis reicht, „sie“ nehmen sogar Euro. Was hindert uns, mal eben ‚rüber“ zu gehen?
Ich weiß es nicht, aber ich fühle es auch.
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