Alles blüht, auch die Bäume direkt unter meinem Fenster im zweiten Stock. Der Duft der vielen Blüten, der unscheinbaren genauso wie der der in Schönheit auffälligen, hat etwas Verstörendes, Aufrührendes. Er trifft mich in einer Tiefe, die vom Denken nichts weiß. Die unermüdliche Großhirnrinde, die es einfach nicht schafft, sich heraus zu halten, versucht trotzdem, die Botschaft zu übersetzen: Hey, es gibt ein anderes Leben! Das RICHTIGE Leben, von dem das deine nur ein schwacher Abklatsch ist. Der Regenwurm, der sich genießerisch durch die feuchte Erde wühlt – welche Intensität mag er als reines Freß- und Ausscheidungswesen spüren, ungetrübt von Gedanken und Aufgaben, ohne Zukunft? Oder die Krähe, die mit elegantem Schwung auf der Laterne landet und die Passanten beobachtet, ob sie nicht etwas fallen lassen – sie kennt keine Zweifel, keine Bedenken, keine Langeweile, sie weiß, was sie tun muss und es macht ihr sichtlich Spaß.
Die Düfte des Frühlings lassen mich ahnen, wie es wäre, kein Mensch zu sein. Oder ein Meister des DAO, der tut, was kommt, und gewiss nicht frühmorgens die innere To-Do-Liste abklappert, alles „in Erwägung zieht“, nach Dringlichkeit einstuft und Gründe sucht, dies alles noch ein bisschen weg zu schieben – weg? Wohin? Vor allem: wofür?
In diesen Frühlingstagen fühle ich die Absurdität meines Verhaltens mehr als sonst. Freiheit – so scheine ich es mit der Muttermilch eingesogen zu haben – ist die Abwesenheit von Zwang. Zwang ist alles, was man tun MUSS, und letztlich ist fast alles Tun darauf gerichtet, diese Zwänge zu „erledigen“. Dabei ist es letztlich egal, ob ich die einzelnen Aufgaben gerne tue oder nicht. Oft genug ist es mir gelungen, genau das zu „verkaufen“, was mir – als reines Tun betrachtet – die größte Freude macht. Und jedes Mal kann ich sehen, dass die Verbindlichkeit selbst, das Versprechen „Ja, ich werde das tun“ diese seltsame Haltung aufruft, die sich wie eine Hürde vor die Dinge stellt, mich vom Leben „im Fluss“ trennt.
Was ist das? Kann ich irgend etwas tun, um es zu verändern? Bis jetzt sieht es nicht so aus, ja, es wird immer weniger wahrscheinlich, je mehr ich mich in das Geschehen versenke. Ich lerne von den Erfolgen, die mein Herangehen zeitigt, lerne, dass es SO nicht geht. Immer wieder erreiche ich nämlich den „Freiraum“: alles Wichtige ist abgearbeitet, nichts drängt mich – und dann? Dann kann ich zusehen, wie mein innerer Arbeiter sich neue Aufgaben ausdenkt, wunderbare Vorhaben und Projekte, die sogar echte Chancen auf Verwirklichung hätten, wenn… ja, wenn ich nicht erkennen würde, dass hier gerade neues Material für die To-Do-Liste entsteht, das morgen ganz genauso, wie das eben erst „erledigte“, etwas sein wird, das ich ganz gerne noch ein wenig vor mir her schiebe.
Also sitze ich es aus, verharre in der langen Weile, öffne vielleicht mal die Balkontür und schaue in die Welt „da draußen“: Hm, naja, nichts lockt, nichts fordert, nichts ängstigt, ich stehe da, erlebe das Wetter, höre die Geräusche der Stadt – und bald schon sagt eine innere Stimme: Und was jetzt? Ich schließe die Tür also wieder, setze mich vor den Monitor, ein Doppelklick auf die „Netzwerkverbindung“ öffnet das Tor zur virtuellen Welt. E-Mails rieseln herein, Werbung und Viren fallen der Entfernen-Taste zum Opfer, die verbliebenen Nachrichten überfliege ich – da schreibt mir jemand, den ich nicht kenne, etwas, das ich nicht verstehe. Warum sagt er mir das? Was will er? Warum meint er, mir das berichten zu müssen? Ich klicke auf „Antworten“ und beginne, eine halbwegs freundliche Nachfrage zu formulieren – mitten drin erinnere ich mich, dass ich BIN, und dass ich gerade wieder eingeschlafen war. Warum um Himmels Willen tippe ich Mails an unbekannte Menschen, die mir unverständliche Dinge mitteilen? Klick und weg, meine angefangene Botschaft verschwindet im Nichts – und ich sitze ebenfalls wieder in einer Art „Nichts“ fest, in dieser seltsamen Ratlosigkeit, die mir dennoch als persönlich wachste Wachheit erscheint. Unangenehm, ohne „Linie“, das dräuende „ES GIBT“ des Seins, das Gewahrsein der schieren Eksistenz – ach, es in philosophische Worte zu packen ist auch nur ein kurzes Amüsement, das mich keinesfalls rettet.
Also wieder aufgestanden, ein wenig gehe ich im Zimmer umher, schau mal rüber, was mein Lebensgefährte gerade tut. Er liest und hat offensichtlich in der nächsten Zeit auch nichts anderes vor. Oh ja, Bücher sind die schönste Form der „Rettung“. Mangels einer irgend wie gearteten „Lösung“ des zwanglosen Daseins im Nichts verabschiedet man die Aktualität zugunsten einer guten Geschichte, in der man sich ganz verliert. Zumindest das verliert, was sich langweilt, das immer fragt „und jetzt?“ Um aber lesen zu können, bedarf es physischer Ruhe und guten Lesestoffs, durch dessen Zeilen und Seiten der Charakter des „Nur-Zeit-Totschlagens“ nicht allzu deutlich hervorschimmert. Also vielleicht mal ein Spaziergang um den Block – oder das Fitnetss-Center, das Laufband, das mir „Bewegung“ vermittelt, und danach die Sauna, die durch die schiere Hitze den Körper derart belastet, dass ich endlich in der Lage bin, für kurze Zeit am „reinen Gewahrsein“ Genüge zu finden.
Mein Gott, was für ein absurdes Theater! Manchmal nehmen die Gedanken dann den Weg des schlechten Gewissens. Lebe ich hier nicht wie die Made im Speck? Mit Zentralheizung, großen Zimmern, Kachelbad, heißem Wasser aus der Wand und freier Auswahl an guten und sogar gesunden Lebensmitteln? Wieviele Milliarden Menschen auf der Welt würden mich beneiden? Strampeln sich lebenslang ab, ohne auch nur das Nötigste zu haben, kämpfen in den Kriegen und Gulags dieser Welt ums tägliche Überleben? Bin ich nicht der Gipfel der Bosheit und Ignoranz, hier auch nur für Minuten in der Betrachtung der Langeweile zu verharren, anstatt irgend einen Weg zu finden, ihnen zu helfen?
Aber wie? Kann ich mir ein soziales oder politisches Engagement wählen wie einen Song in der Musicbox? Leider nicht, ich kann’s nicht zwingen. Diese Gedanken und Gewissensbisse kulminieren genauso in Ideen und Vorhaben, die mich für dieselbe kurze Zeit aus meinem seltsamen Zustand reißen wie die eher eigennützigen Initiativen. Binnen kurzem verlieren sie ihre Leuchtkraft, ihren schwachen Draht zur Motivation, wenn nämlich offensichtlich wird, dass auch das nur Methoden sind, aus der langen Weile zu entfliehen. Diesmal auf dem Vehikel der Moral.
Was ist schlecht daran, zu flüchten? Kann man das überhaupt „Flucht“ nennen, ist das nicht eher das ganz normale Leben? Schließlich sind wir nicht auf der Welt, um still an die Wand zu starren und zu schauen, wie der Geist damit zu Recht kommt oder auch nicht!
Das ist der letzte Gedanke, der mir dann immer kommt. Agressivität, ein Grundimpuls des Überlebens, Trotzreaktion, Rechtfertigung dessen, was offenbar nicht geändert werden kann, Umdefiniton einer gefühlten Frage in eine schnelle, nach allen Seiten leicht abzusichernde „sinnvolle“ Antwort.
Und dann wende ich mich der To-Do-Liste zu. Wie jetzt.
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