Es wundert niemanden wirklich, dass auch dieser 1.Mai in Berlin „wie immer“ verlief: Randale in Kreuzberg, kaputte Scheiben, brennende Autos, ein geplünderter Supermarkt und von Stein- und Flaschenwürfen Verletzte auf beiden Seiten. Und: tolle Bilder in der Abendschau: Wie sie auf den Straßen tanzten vor brennender Barrikade, artistische Kleinkünstler, die den Handstand rückwärts im Feuerschein eines „abgefackelten“ Autos vollführen – wow! Die Ästhetik des Ausnahmezustands wird in den Medien genussvoll zelebriert, wie an jedem 1.Mai.
Die Polizei übte sich dieses Jahr in „Deeskalation“. Nur kein martialisches Auftreten, niemanden provozieren, sogar die Veranstalter der „Revolutionären 1.Mai-Demo“ bemerkten anerkennend, dass „es den Bullen diesmal nicht darauf angekommen ist, hier hunderte schwer Verletzter zu haben“. Immerhin verliefen die Demonstrationen selber friedlich, das Konzept war teilweise erfolgreich – auch die Randale im Anschluss ging schneller zu Ende als in anderen Jahren. Trotzdem darf sich die Polizei nun die üblichen Vorwürfe anhören: das Konzept „Deeskalation“ sei gescheitert, von einem „Rückzug des Rechtsstaats“ ist die Rede – als könne irgend eine Strategie, sei sie nun martialisch oder eher zurückhaltend, die Gewaltausbrüche zur Gänze verhindern. ALLE wissen das, aber anstatt dazu etwas zu sagen, erfolgt der übliche politische Schlagabtausch: Ihr seid schuld….
Wer ist denn nun schuld? Oder ist das eine falsche Frage? Heut‘ morgen hat mich mal interessiert, wie eigentlich die Aktivisten von links außen die Ereignisse bewerten. Mal kurz gegoogelt (Autonome + Berlin) und schon der zweite Klick brachte zu Tage, was ich suchte. Das Webzine „Autonome Antifa Berlin“ meldet unter dem Banner „Danach“ nur einen einzigen Satz:
„Wir danke den viele besoffenen, gröhlenden, sinnloskleineAutoszerstörenden, sexistischen, unverantwortlichen, partyeventmachenden, unpolitischen , eigeneLeuteverletzenden Pseudohooligans und Radalekiddies …. für diesen schönen 1.Mai.“
Klare Worte und kein Grund, ihnen nicht zu glauben. Wer die Geschichte gewaltätiger Ausschreitungen in Berlin seit 1968 rekapituliert, wird die Entmischung von Geist und Gewalt bemerken: die Theorie- und Utopie-Lastigkeit der 68er und Spontis vermochte es noch, Gewalt aus der „Systemopposition“ hochintellektuell zu rechtfertigen. Die später sich entwickelnde Anti-Atom und Umweltbewegung hatte schon weit handlichere Gründe für Gewalt „am Rande“ von Demonstrationen, der Kampf gegen die Nato-Nachrüstung basierte gar auf echter existenzieller Panik: Man glaubte allen Ernstes, wenn jetzt die Pershing 2 stationiert werde, gehe sofort der 3.Weltkrieg los. Also: Wo Recht zu Unrecht wird, wird Wiederstand zur Pflicht. Die Hausbesetzerbewegung Anfang der 80ger konnte ebenso auf das Wohlwollen fast der ganzen Stadt setzen, denn die Skandale von Entmietung, Leerstand und Kahlschlagsanierung waren allen sicht- und erlebbar – und doch wurde hier schon sehr deutlich, dass immer auch ein gewisses „Gewaltpotential“ existiert, dass sich hinter Gründen nur verbirgt, sie aber nicht wirklich braucht.
Und heute? Im Vorfeld der Mai-Randale fahndet die Berliner Abendschau offenbar immer nach jemandem, der noch etwas „Rechtfertigendes“ zu den mit Sicherheit kommenden Ereignissen sagt, aber man merkt, dass das immer schwerer wird. Allenfalls finden sich noch Leute, die auf die „Provokationen der Bullen“ verweisen – insofern ist die „Deeskalation“ die einzig wahre Strategie: Nicht, dass sie Gewalt wirklich verhindern könnte, aber sie zerstört die letzten Illusionen über einen vermuteten „Sinn“ dieses Geschehens.
Sinnlose Gewalt also – warum findet sie statt? Und – mangels erkennbarem Sinn ist das fast noch interessanter: warum immer zu einem festen Termin?
Der Innensenator sagte im TV: Wenn man diese Gewalt verhindern will, kann man das nicht allein der Polizei überlassen. Ich weiß nicht, was er konkret meint, aber für mich ist ganz klar: diese Gewalt ist ein Auswuchs unseres gesellschaftlichen Unbewussten. Kaum jemand ist nämlich wirklich entrüstet, auch nicht ein paar Tage nach Erfurt, wo doch so viel von „Innehalten“ die Rede war, von der Notwendigkeit, die Akkzepanz von Gewalt als Teil der Normalität zu bekämpfen.
Während der Randale sind immer viele Schaulustige unterwegs. Erwachsene stehen am Straßenrand und applaudieren den jugendlichen Steinewerfern. Der Apotheker, dem man die Scheibe eingeschmissen hat, meint, er nehme das nicht persönlich. Und wer in der Walpurgisnacht oder am ersten Mai sein Auto in der Kampfzone parkt, muß sowieso unendlich blöde oder arrogant sein, heißt es in der Sendung „Kontraste“. Der weißhaarige Sprecher der Abendschau berichtet vom Verlauf der Ereignisse mit belustigtem Unterton – überhaupt ist der „Programmpunkt Mai-Randale“ ab Januar ein zunehmend häufiges Thema. Die „Unausweichlichkeit“ der sinnleeren Veranstaltung wird zwar beflissen bedauert, aber es gibt interessante Strategiediskussionen und am Tag der Tage natürlich Sondersendungen – und immer wieder Witze über die punktgenaue „Revolution nach Terminkalender“.
Ein lieber Freund, dem das ganze Geschehen wirklich in der Seele weh tut, fragt, warum eigentlich die Justiz nicht schärfer reagiert, z.B. gegenüber den Verhafteten den möglichen Strafrahmen stärker ausschöpft. Auch das ist ein Teil der allgemeinen Akzeptanz dessen, was da so sinnlos sich vollzieht – und ich finde es eigentlich einsichtig, dass nicht versucht wird, mit juristischen Mitteln, mit langen Gefängnisstrafen und all ihren lebenszerstörenden Folgen hier „Prävention“ zu betreiben. Ein bisschen käme mir das vor, als würde das Publikum im Theater die Schauspieler für die Verbrechen in einem Shakespeare-Drama zur Verantwortung ziehen. Das ist vielleicht ein bisschen überspitzt gesagt, aber mein Gefühl geht in die Richtung: diese Randale ist kein Privatzoff einiger Irrer, sondern Ritual einer ganzen Gesellschaft. Ein Ausbruch des Irrationalen, der umso weniger „ausfallen“ kann, je weniger uns rational zur „Lage der Welt“ noch einfällt.
Muss ich das ausführen? Die üblichen Schlagworte ein weiteres Mal aneinander reihen? Ich glaube nicht. Jede Leserin und jeder Leser weiß, was ich meine, wenn es auch jeder für sich etwas anders formulieren würde. Mit Vernunft allein scheint man nirgends mehr viel ausrichten zu können, egal, welches Problemfeld man in den Blick nimmt. Und so sehr wir uns auch dagegen wehren mögen: der Kampf aller gegen alle wird härter, sowohl im Bereich des individuellen Berufslebens als auch im politischen Großraum, wo der Krieg als Mittel der Politik wieder möglich ist.
Das rechtfertigt nicht die rituelle Gewalt auf den Straßen in Kreuzberg. Aber es macht die Wurzeln der Gefühle verständlicher, aus denen die gar nicht so heimliche Akzeptanz der „Mai-Festspiele“ erwächst – die dieses Mal übrigens unter das Motto „Macht verrückt, was Euch verrückt macht!“ gestellt waren.
Etwas Positives zum Schluss? Berlin hat ja nicht nur den Mai-Zoff im Terminkalender: Demnächst findet der „Karneval der Kulturen“ statt, ein wunderbar buntes Multi-Kulti-Festival im Geiste von Frieden und Völkerfreundschaft. Ebenso schön der schwul-lesbische Christopher-Street-Day und im Juli dann der berühmte Mega-Event, die Love-Parade. Das Irrationale hat auch seine hellen Seiten, sogar mit deutlich mehr Terminen. Hoffen wir also auf gutes Wetter!
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