„Wissen, Wollen, Wagen, Schweigen“ – der uralte Merkspruch aus der abendländischen Magie kommt mir gelegentlich in den Sinn, wenn ich darüber nachdenke, wieviele Vorhaben und kreative Ideen einfach versacken, anstatt realisiert zu werden. Das liegt nicht allein an Trägheit, mangelnder Energie oder an den Schwierigkeiten, die plötzlich auftreten. Das letzte Stündlein einer angedachten Veränderung schlägt oft schon dann, wenn man darüber redet, gar darüber schreibt und das veröffentlicht.
Ich liebe Fernsehdokumentationen über naturnah lebende Völker, zum Beispiel über die Nomaden in Kasachstan und Sibirien. Der Kontrast zu unserem Leben könnte nicht größer sein, und immer wieder wundere ich mich, wie sie es aushalten, von morgens bis abends für das bloße überleben hart zu arbeiten – allenfalls noch für ein einziges großes Fest im Jahr. So etwas wie „Freizeit“ ist ihnen unbekannt und mir scheint, deshalb reden sie kaum darüber, was sie jetzt tun sollten, warum sie es tun und was daran anders vielleicht besser wäre. Veränderungen entstehen – wenn überhaupt – aus Notwendigkeit, nicht aus endlosen „Besprechungen“.
Freie Zeit – zwanghaft folgenlos?
Die „Freizeitkultur“ ist ein schwarzes Loch, ein als luxuriöse Errungenschaft gepflegtes Grab sämtlicher Veränderungsimpulse. Klar, in der Freizeit führt man zweckfreie Gespräche, erhält Anstöße für manches umdenken, es entstehen neue Wünsche und Meinungen – aber dann ist sie wieder ‚rum, die Freizeit, und der arbeitsalltag hat seine eigenen Gesetze. Es ist unendlich mühsam, eine erwünschte und rundum „besprochene“ Veränderung tatsächlich im Leben zu verwirklichen. Das geht mir immer wieder so, in kleinen und größeren Dingen. als ob ein Tabu über der freien Zeit läge: hier hat alles Platz, die Welt der Möglichkeiten kann sich schrankenlos entfalten, nur folgenlos muss es bleiben, sonst wär‘ es doch keine FREI-Zeit!
Ich treffe einen Bekannten, wir erzählen, was wir so machen und was wir von der Welt in diesem und jenem Punkt denken. Schon bald sind wir dabei angekommen, über Ideen, Vorhaben und „Probleme“ zu sprechen, die Gedanken fliegen, die Stimmung ist gut, ein Gefühl von aufbruch mag sich einstellen. Dann ist die Zeit vorbei, man verabschiedet sich und widmet sich wieder dem alltag, ganz wie gehabt. Wer kennt das nicht?
Oder ich hab‘ gerade ein Stück notwendige Arbeit hinter mich gebracht, nichts Zwingendes liegt an – was jetzt? Eine innere Stimme sagt: Jetzt hast du so anstrengend gearbeitet, du kannst doch nicht einfach so weiter machen! Abspannen ist angesagt – ich leg mich dann aufs Bett und lese einen literarischen Krimi, blättere in der ZEIT, guck mir Weltspiegel und Nachrichtensendungen an – und meine innere To-Do-Liste bleibt unabgearbeitet.
Die innere Liste
Diese To-Do-Liste füllt sich von ganz alleine und bildet sozusagen einen Arbeitsplan für die freie Zeit: Ich sollte 5 Kilo abnehmen, sollte öfter ins Fitness-Center gehen, endlich wieder aufhören zu rauchen und weit mehr trinken (Wasser!). Ich sollte mir ein Ehrenamt suchen und einen neuen Draht finden, aktiv am politischen Leben teil zu nehmen. Ich sollte meditieren, mir wieder mal ein anderes Sitzmöbel zulegen, mich mehr weiter bilden und meine diversen Projekt-Ideen konsequent umsetzen… ich sollte, ja. aber ich machs nicht, bzw. nur gelegentlich und mit Mühe, nicht „im Fluß“ des ganz normalen Lebens.
„Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen!“, wird gerade hier überall plakatiert. Mir scheint, nicht nur ich kämpfe mit seltsamen Formen von Stagnation. Ein Mehr an Kommunikation ist dabei vielleicht gerade kontraproduktiv. Wir können uns nicht von oben oder außen sagen lassen, wie wir „rucken“ sollen! Gerade diese innere Ausrichtung auf die Stimmungen eines „man“, seien es plakatierende Verbände, die Beschwörungen der Obrigkeit, die in den Medien veröffentlichten Meinungen oder die Bedenken und Interessen konkreter Gruppen und Individuen, mit denen wir interagieren: es lähmt eher. Es füllt vielleicht die innere To-Do-Liste weiter auf, doch die ist letztlich nur eine Bürde, die mich behindert, das zu tun, was NOT-wendig ist, und das zu sehen, was WIRKLICH ist.
Die Liste zusammenstreichen
Vor etwa einem Jahr hab ich es gewagt, das „Du solltest meditieren!“ von meiner inneren Liste ersatzlos zu streichen. Natürlich hat mir das niemand aufzwingen wollen, die innere Liste ist ja eine Sammlung ureigenster Ansprüche, Vorstellungen und Wünsche. Wie viele meiner Generation las ich lebenslang immer wieder Bücher über Meditation, kam gelegentlich in Kontakt mit Gruppen, die Meditation üben, hatte faszinierte Phasen, in denen ich ernsthaft versuchte, täglich zu „sitzen“ – und nicht zuletzt gehört es untrennbar zum Yoga, den ich seit mehr als 10 Jahren praktiziere, in unterschiedlicher Intensität. Die letzen 20 Minuten einer Yogastunde sitzen wir still in der Runde – und das ist gut so, der Körper ist durch die übungen ruhig geworden, ein schönes Loslassen, kein Problem.
Anders das „engagierte Meditieren“, diese fruchtlosen Versuche, durch Selbstdisziplin im rituellen „Sitzen“ irgend etwas zu erreichen. Immer wieder andere Meditationsweisen: den Gedankenfluß beobachten, Bilder imaginieren, Worte, Sprüche, Töne, Empfindungen als Focus benutzen, es gibt ja so vieles! Sich dabei immer ein bißchen komisch vorkommen: Meditation ist das Gegenteil von „etwas erreichen wollen“ – warum um Himmels Willen mach‘ ich das also?
Genug davon, das liegt weit hinter mir. Nur stand es noch ziemlich lange auf der inneren To-Do-Liste: „Du sollst meditieren, vielleicht nicht jetzt, vielleicht später, aber irgendwann ganz bestimmt!“ Immer wollte ich jedoch andere Dinge lieber tun, und eines schönen Tages kam mir der Gedanke: Sitzen? Den Teufel werd‘ ich tun! Ich werde mich setzen, wenn alles getan ist, was ich lieber tue, keine Sekunde vorher!
Ich vergaß Meditation. Sogar wenn sie mir in einem Buch begegnete oder in einem Gespräch, kam der Ich-sollte-Gedanke nicht mehr auf. Schließlich denke ich auch sonst nicht bei allem, was ich sehe, dass ich das auch brauche.
Tatsächlich interessiere ich mich für ganz andere Dinge. Zum Beispiel ist es ungeheuer spannend, zu beobachten, wie während des Sitzens vor dem Monitor unzählige Impulse von außen und innen um meine Aufmerksamkeit kämpfen. Ich arbeite mit ca. acht offenen Programmen, zappe vom Schreiben eines Textes zum Bearbeiten eines Bildes hin zum Coding einer Website – alles immer wieder unterbrochen vom Lesen der hereinkommenden E-Mails. Ich „besuche“ 12 verschiedene Mailinglisten, zwar nur punktuell, aber wenn ich in eine „reinlese“, dann entführt das meinen Geist wieder in eine ganz neue Richtung. Im Laufe eines Tages bin ich bestimmt mit 50 verschiedenen Themen befaßt und arbeite an fünf bis zehn aufgaben, unterbrochen von unüberschaubar vielen freiwilligen und unfreiwilligen Ablenkungen. Die Zerstreuungsmaschinerie, der ich mich so fortlaufend aussetze, ist beispiellos, nie da gewesen und es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch irgend etwas zustande bringe.
Und wie das dann weiterläuft, wenn ich den Monitor mal verlasse! Viele Themen hallen nach, der Geist ist noch immer „im Summs“, aber es entspannt sich ein klein wenig, man spürt den Versuch, eine Ordnung hinein zu bringen, etwas will neue Prioritäten setzen. Wer? Was? Ich schau doch nur zu! Die innere To-Do-Liste bringt sich in Erinnerung, andrerseits ist da auch diese geistige Müdigkeit, die mich dazu veranlasst – einfach mal so zum abspannen – die Aufmerksamkeit auf eine Körperempfindung zu focussieren, den Atem zum Beispiel. auf dem Laufband im Fitnesscenter geht das recht gut, im Liegen ziehe ich das Strömen und Gribbeln in den Muskeln vor. Oh, wie entpannend! als würde man das Hirn in klares Quellwasser und reine Luft tauchen! Doch gleich sind sie wieder da, die planenden und berechnenden Gedanken, ein Stück weit folge ich ihnen, dann fällt mir wieder ein: Ich MUSS ja nicht, gönne mir ja gerade eine PAUSE, – kehre also zum Atem zurück, genieße die zunehmende Verlangsamung dieses hektischen Hin und Hers. Und plötzlich: ein Augenblick ohne Denken, ohne alles, ohne MICH. Eine Lücke in alledem – was war das? Wie könnte ich diese Lücke nochmal erzeugen, wieder erleben, genauer betrachten? Aber WER sollte da WAS betrachten, wenn da doch „gar nichts“ war???
Sehr seltsam, aber doch interessant. Was so alles vorkommt in einer kleinen Pause! Jetzt liege ich manchmal ein wenig länger, bevor ich zur Zeitung greife – und nach diesem Artikel geh ich aufs Laufband. Gottlob muß ich ja nicht „sitzen“, brauch‘ nicht zu meditieren…
Vielleicht wär‘ es eine gute Idee, auch den anderen Kram von der Liste zu streichen?
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