In Berlin wurde gestern ein Mann zu 16 Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Er hatte seine Frau auf deren Verlangen erdrosselt, weil sie ihr Luxusleben nicht gegen ein Dasein in Armut tauschen wollte. Beide konnten den Niedergang ihres dereinst florierenden Textilgroßhandels nicht aufhalten und standen vor dem Nichts – so die Berliner Abendschau.
Das ist mal ein verständnisvolles Urteil, milde gesagt. Soviel Mitgefühl und Nachsicht wird dem gemeinen Ladendieb nicht entgegen gebracht. Ob das ein Hinweis sein soll, eine Art guter Rat, wie mensch mit dem sozialen Abstieg umgehen soll?
Demnächst werden – egal, wer die Wahl gewinnt – etwa 250.000 Leute von der Arbeitslosenhilfe in die Sozialhilfe verschoben. „ALHI“ soll nämlich abgeschafft, bzw. „mit der Sozialhilfe zusammengelegt“ werden. Ein Thema, das derzeit kaum jemanden bewegt, lieber entrüstet sich die Welt über die „inszenierte Entrüstung“ der CDU im Bundesrat. Wenn es aber dem lieben Vieh an den Kragen geht, dann kocht der Volkszorn: der Berliner Finanzsenator hat angedacht, einen der beiden Zoos zu schließen, die Reaktionen sind heftig! Ich vermute mal, an der Stelle wird der Sparwille keinen Schritt weiter kommen, nicht, solange nicht mindestens eine der drei (!) hochsubventionierten Opern geschlossen wird.
Im Forum schreibt Wodile zum Thema „Sumpf“:
„Im Grunde genommen durchzieht unsere Gesellschaft inzwischen nur noch ein einiziges „hau jedem eins auf die Fresse, bevor er Dir eine reinhauen könnte“.
Das hat zwar ein paar individuelle Vorteile, bringt das Gesamtgebilde derzeit aber spürbar zum Einknicken. Ohne zumindest einen grundsätzlichen Solidargedanken funktioniert nämlich auf Dauer keine Gesellschaft. Es gibt dann keine wirkliche Entwicklung mehr, sondern nur noch Stagnation und läppische Verteidiung jedes noch so kleinen Status Quo. Bildlich ausgedrückt: es werden keine neuen Kuchen mehr gebacken, sondern nur noch die alten Kuchenstücke von gestern mit allen Mitteln verteidigt. Essen kann man die irgendwann aber auch nicht mehr.
Im Grunde genommen ist daher das derzeit fehlende „qualitative Wachstum“ gar nicht die Schuld der Politik, sondern der herrschenden Lebensphilosophie. Mit der kann es nämlich gar nicht mehr entstehen.“
Bin mal gespannt, ob der Appetit auf die „Kuchen von gestern“ nicht irgendwann in Übelkeit umschlägt. Aber vermutlich geschieht das eher nicht, Veränderungen kommen praktisch nie von denjenigen, denen es (noch) gut geht, sondern erst, wenn für relevante Minderheiten die Karre so richtig im Dreck steckt. Traurig, aber wahr. Trotzdem kann man sich das nicht etwa deshalb wünschen (der alte RAF-Standpunkt: Verschärfung der Widersprüche), denn aus Unglück, Wut und Angst entsteht nicht zwangsläufig kreatives Engagement und neues Miteinander, sondern vor allem Verzeiflung, Haß und Gewalt, mehr, nicht etwa weniger Hauen & Stechen.
Ich und die Anderen
So manchem ist in diesem Diary derzeit zuviel von Politik die Rede. Das langweilt, turnt ab, und überhaupt: Was soll denn ein Einzelner da machen! Schon der Gedanke, dass man hier persönlich gefragt wäre, ist irgendwie unangenehm, nicht? Ich wenigstens empfinde das so – im Moment, solange die Dinge noch so festgefahren wirken, daß man nur in uralte Schubladen (Parteipolitik z.B.) einsteigen und dort scheitern könnte (oder ein Teil des Problems werden).
Es ist allerdings eine Illusion, zu glauben, man könne seine Haltung zur Gesellschaft frei wählen, etwa einfach umsteigen vom zynisch-ignoranten „jedes Volk hat die Regierung, die es verdient“ zur großen Anklage „der Kapitalismus ist an allem schuld“ – oder gar von diesen beiden Sichtweisen zur reinen „Selbstbeobachtung“ wechseln, für die eine Welt da draußen – sofern sie überhaupt existiert – ohne Bedeutung ist (…solange die Kohle reicht…). Die einen vergesellschaften ihr persönliches, selber angerichtetes Elend, indem sie es der Gesellschaft zurechnen und diese dann bekämpfen, anstatt mal in den Spiegel zu sehen. Die anderen beziehen ihre Sicht der Welt aus persönlichen Erfolgen, aus zufälligem Glück und freundlichen Umständen: Wenn es mir so gut geht, dann muß es doch an jedem einzelnen selber liegen, daß die nicht alle auf ähnlich grünen Zweigen hocken und den Tag loben! Ab ins Motivations-Seminar: Tschekkaaaaaaaaaahhhhh!
Nö, ich mach mich hier nicht über andere lustig. All diese Haltungen hab‘ ich schon mal ganz persönlich ausgelebt und für die einzige Wahrheit gehalten. Und das sagt mir vor allem eines: Ich bin nicht autonom, nicht die objektive Beobachterin dessen, was geschieht, sondern in hohem Maße ein Teil von allem, sowohl Ursache als auch Ergebnis, Opfer und Täterin – immer gleichzeitig.
Was der Einzelne machen kann? Eine falsche Frage, es muss heißen „was kann ich machen?“, bzw. besser noch „was will ich machen?“ Nicht aus einem „grundsätzlichen Solidargedanken“ heraus, der ist viel zu abstrakt und moralisch. Sondern aus dem Leiden heraus: Was stinkt mir wirklich? Was vermisse ich so sehr, dass es schmerzt?
Das ist nicht schwer heraus zu finden: Mir fehlen Zusammenhänge, in denen sich Menschen außerhalb des Marktes begegnen, gemeinsame Aktivitäten, die nicht so organisiert sind, daß einer der Anbieter und die anderen die Konsumenten sind. Ich will nicht mehr Eintritt bezahlen, um Gemeinschaft zu erleben, mich „weiter zu entwickeln“ oder gar, um meinen Seelenfrieden zu finden. (Deshalb zur Kirchgängerin zu werden, ist irgendwie nicht die richtige Lösung.) Vielleicht tun sich ja Möglichkeiten bzw. Notwendigkeiten auf, wenn der Staat jetzt seine Aktivitäten zurückfährt und große Lücken aufreißen, die nicht mehr mit Geld gestopft werden können. Wenn das „Soziale“ und Kulturelle nicht mehr nur mit Staat, sondern wieder mehr mit uns zu tun hat…
Diesem Blog per E-Mail folgen…