Eigentlich will ich gar nicht schreiben, denn damit werde ich zum Teil der medialen Verarbeitungsmaschine, die „Amok-Läufe“ gierig aufsaugt wie Manna, das vom Himmel fällt. Doch Schweigen geht auch nicht, denn die Überschrift des letzten Beitrags („Magazin für Lebenslust“) wirkt angesichts der Ereignisse höhnisch und ignorant, ich kann’s gar nicht ansehen!
Erst ab dem späten Nachmittag hatte ich gestern mitbekommen, was die Stunde in Winnenden geschlagen hatte. Ich verfolgte die Berichte, die Nachrichtensendungen, die „Specials“ und abends dann die Sendung „Hart aber fair“, in der sich die üblichen Experten zur Sache und möglichen Ursachen äußerten. Anders als sonst zeigte der Sender (weil es ja schon entsprechend spät war) so manche Gewaltszene aus Computerspielen, dazu das „Amok-Video“ eines Rappers und verherrlichende Videos über die Täter der Vergangenheit: Erfurt, Columbine….
Es gruselte mich immer mehr. Die mediale Verarbeitung und der Amoklauf erschienen mir so überdeutlich als zusammengehörig: die Zelebration des Ausnahmezustands auf allen Kanälen, die schnellen und „angemessenen“ Reaktionen der Politiker (Merkel, Köhler, Europaparlament), all die Interviews mit Beteiligten, Zuschauern und Funktionsträgern, die ihre Fassungslosigkeit dem Mikrofon anvertrauten – und immer wieder das Unverständnis, die vielen Fragen, dieses „ich verstehe die Welt nicht mehr!“, das viele da äußerten – mein Gott, ich fühlte mich plötzlich als Alien, denn solche Fragen kamen mir gar nicht in den Sinn!
Mir erschien im Gegenteil recht klar, was da abgegangen war: wieder einmal ein „unauffälliger Jugendlicher“, der die Demütigungen, die er im Leben erfuhr, in sich hinein fraß und in Hass verwandelte. Bis er zu einer tickenden Bombe geworden war und anhand der „Vorbilder“ aus dem Internet seinen spektakulären Abgang als Rache-Akt an der Welt plante – und durchführte. Genau wie er es sich vermutlich ausgerechnet hat, wird er als „dunkler Held“ in die Geschichte der Amokläufe der letzten 15 Jahre eingehen. Andere Jugendliche werden ihn posthum verehren als einen, der Nägel mit Köpfen gemacht hat. Nicht im Leben, aber doch im Tod hat er so geschafft, was ihm sonst nicht gelungen ist: JEMAND sein, den man bemerkt, über den man nicht hinwegsehen kann, einer, der nicht mehr Opfer, sondern Täter ist, der die Welt bewegt und mediale Unsterblichkeit erlangt.
Gruslig fand ich auch das mittlerweile offenbar zur Katastrophennormalität gehörende Verweisen auf die Psychologen, die „bereit stehen“, sich um die Betroffenen zu kümmern. Ja, das ist gewiss gut gemeint und nützt vermutlich auch dem einen oder anderen – und doch: ist es nicht seltsam, in was für einer „therapeutischen Gesellschaft“ wir uns bereits befinden? Es wird von den Institutionen verlangt, „die Menschen in ihrer Betroffenheit nicht alleine zu lassen“, also stellt man ihnen Psychologen und Seelsorger „aus allen Bundesländern“ zur Seite. Und die Reporter ergehen sich in Spekulationen, wie groß die Traumatisierungen nun sein werden und wie lange so etwas andauern kann – irgendwie könnte ich kotzen!
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Dazu gibts einen „ähnlichen Artikel“ vom 28.4.2002:
Amoklauf in Erfurt – der Tunnelblick verengt sich
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22 Kommentare zu „Und Psychologen stehen bereit“.