In den letzten Tagen, die ich wegen der technischen Erneuerung des Diarys mehr oder weniger im Code versackt zubrachte, ist mir aufgefallen, was für ein „stilles Glück“ diese Reduzierung des Bewusstseins auf einen kleinen Teilaspekt der Welt doch mit sich bringt. Weniger ist tatsächlich mehr, Beschränkung tut gut, ist das nicht seltsam?
Man bewegt sich in einem Raum aus Vorschriften und Methoden, der – zwar weitläufig und in Teilen unbekannt – erst erforscht und erlernt werden muss, aber doch insgesamt ein Gefühl der Sicherheit und Übersichtlichkeit vermittelt: Das Ziel ist klar, alles, was mir auf dem Weg begegnet, ist von Menschen geschaffen, die sich etwas dabei gedacht haben. Nicht das große Unbekannte, „ganz Andere“, nicht Natur, Gott oder gar Mitmensch lauern in den Weiten der Details, sondern die Gesetze der Logik, umgesetzt in lernbare Algorithmen, ergeben ein Gefühl der Sicherheit und Berechenbarkeit, das im „realen Leben“ immer mehr im Schwinden begriffen ist.
Auch wenn ich mich gewöhnlich als durchaus weltkompatibel einschätze, fähig, auf den Wellen der Existenz „surfend“ zumindest den Kopf oben zu behalten und das Herz nicht zu vergessen, stelle ich doch fest, wie GUT das tut. Alles ausblenden, was nicht zur „einen Aufgabe“ gehört, sich ganz auf das „Wie“ konzentrieren und keine Was-, Warum- oder Wer-Fragen zuzulassen: Wow, das ist Urlaub von den vielen Fronten des Daseins! Und so wird es möglich, sich an die Zeichenketten eines Codes wohlig anzuschmiegen wie an den warmen Sand eines Sonnenstrands im Süden.
…und noch mehr:
Diese vermeintliche Geborgenheit in einer, verglichen mit dem Weltganzen lächerlich unwichtigen Detailwelt, ist noch nicht einmal der ganze Spaß. Man wird auch von der Langeweile befreit, diesem wabernden Nichts, das sich in jeder Lücke zwischen den einzelnen Akten des Handelns, Denkens, Genießens und Leidens ausbreitet – immer dann eben, wenn die Frage „Was jetzt?“ nicht zwingend und unausweichlich zur einzigen lebensrettenden Antwort führt. Und wann ist das heute schon noch?
Das Wesen der Langeweile ist das Leiden, vom Dasein als Ganzem nicht angesprochen zu sein. Dieser Gedanke Heideggers ist die beste, mir bekannte Beschreibung des Phänomens. Langeweile durchdringt und erfüllt die Leerräume des Daseins, leer in dem Sinne, dass sie uns nichts sagen, uns nicht fordern, nicht einmal mehr beängstigen. Was soll ich hier? Was liegt an? Warum dieses tun und nicht jenes? Wenn ich im Augenblick nichts Konkretes tun muss, sondern auch anders kann, hat Langeweile ihre Chance.
Ich weigere mich, die beliebte Rede vom „Auf-sich-selbst-zurückgeworfen sein“ zu übernehmen, weil ich nicht behaupten will, zu wissen, was ein „Selbst“ ist. Auf jeden Fall ist da etwas, das die Welt beständig auf Chancen und Gefahren hin durchcheckt – der Scannerblick eines Wesens, das Überleben und Genießen will, und deshalb sämtliche Eindrücke und Informationen durch seine „Nützt-mir/schadet-mir-Filter jagt, alles andere gar nicht erst wahrnehmend.. Sobald sich dabei ein Leerlauf ergibt, weil zum Beispiel Sattheit und Sicherheit zumindest für den Augenblick und die überschaubare Zukunft erreicht sind, verliert dieses Wesen seinen Sinn. Man könnte auch dramatisieren und sagen, es drohe ihm der Tod – eine pathetische Formulierung, die ich aus der Erfahrung der Langeweile nicht wirklich herausfühlen kann. (Nicht umsonst gibt es ja verschiedene Worte für Langeweile und Angst.)
Langeweile nervt! Bis zum Schrecken, der vielleicht doch hinter ihr noch lauert, lasse ich es ja gar nicht erst kommen. Ausweichen scheint so leicht, wenn es auch mit zunehmendem Alter schwieriger wird, auf „Neues“ abzufahren. Das „Neue“ erweist sich nämlich immer öfter als das Altbekannte in neuem Outfit, und um der Langeweile weiterhin zu entgehen, müsste man die Geschwindigkeit des Reality-Zappings ständig erhöhen, damit dieser Erkenntnis und der ihr folgenden Ernüchterung keine Zeit bleibt, sich zu ereignen – wir sind ja dann schon „fort“ geschritten…
Leider ist Beschleunigung nun nicht gerade das, wonach man sich in der zweiten Lebenshälfte sehnt. Also findet sich der alternde Mensch – hängend zwischen Scylla und Charybdis -psychophysisch zu anderen Verhaltensweisen genötigt. Die Hoffnung, dass, wo „neu“ drauf steht, auch neu drin ist, nimmt immer mehr ab, und man wird bereit, immer länger in der Langeweile zu verharren. Beobachten, was ist, bzw. was fehlt; ausprobieren, wie man es trotzdem ganz gut aushält; über all das nachdenken – was will man sonst auch machen?
Dabei gewinnt die Frage, was es denn bedeuten mag, „vom Dasein als Ganzem angesprochen“ zu sein, immer größere Kraft. Gerade die Schmalspurigkeit der allzeit und überall aufgedrängten Zerstreuungen und Erregungen ist es ja, die die Leere immer besser durchscheinen lässt. Was also wäre ihr Gegenteil? Kann man es finden, besitzen, anwenden, und ist man dann auch wirklich gerettet?
Donnerworte des Daseins
Wenn ich innerlich aufliste, was mir zum numinosen „Angesprochen-Sein vom Ganzen“ so alles einfällt, sind es durchgängig intensive Breitband-Erfahrungen von einiger Wucht, die alle Ebenen des Daseins in Beschlag nehmen. Denken, Fühlen, Empfinden, Wahrnehmen – alles muss sich an der Antwort beteiligen, kein Teilaspekt kann sich irgendwie heraushalten und „business as usual“ praktizieren. Kein „Alltag“ mehr, keine Masken und Rollenspiele, kein modulhaftes Leben als „verteiltes System“. Ausnahmezustand.
Ausnahmezustand? Krieg, Todesgefahr, Stahlgewitter, Erdbeben, Ernstfall, 11.September, die Assoziationskette des großen Schreckens drängt sich bei diesem Begriff geradezu auf. Im „realen Leben“ dagegen steht eher das Wunderbare und Freudige, oft auch Abenteuerliche im Focus der Betrachtung, wenn man sich danach sehnt, vom Ganzen erfasst zu werden: Frühlingserwachen, heftige Verliebtheit („falling“ in Love), physische Extremerfahrungen, Euphorie, Orgasmus, Ekstase und Erschöpfung, mystische Verzückungen, eine neue, hochwichtige Lebensaufgabe – es kann gern auch mal eine politisch-soziale Bewegung, Revolte oder Revolution sein. (Der nationalsozialistischen Revolution hat Heidegger es immerhin eine Zeit lang ernsthaft zugetraut, das „sprechende Ganze“ in der Welt zur Wirkung zu bringen).
All diese Ausnahmezustände stehen mir nicht zur beliebigen Verfügung, sonst wären es ja keine. Von der Machbarkeit her gesehen, ist es also sinnlos, weiter über ihr Fehlen nachzudenken. Darüber hinaus fallen sie in ihrer Mehrheit noch nicht einmal ins Reich der Wünschbarkeiten, das tröstet über die mangelnde Machbarkeit doch einigermaßen hinweg. Wenn ich mir dazu noch die kleinen Paradiese genauer ansehe, in die ich mangels Alternative gelegentlich doch gelange – zum Beispiel ein paar Tage im Web-Coding versacken – dann frag ich mich, was eigentlich der wesentliche Unterschied ist zwischen den „Donnerworten des Daseins“ und dem lockeren Geplauder meines Alltags at its best. Ist da wirklich ein qualitativer Unterschied und nicht nur ein quantitativer?
Immer handelt es sich doch um eine REDUZIERUNG von Bewusstsein. Im Augenblick einer Todesgefahr werde ich zwar all meine Wesensbestandteile aufbieten, um auf die Gefahr zu reagieren (und sie dann vielleicht zum ersten Mal in dieser Gänze wahrnehmen) – aber doch unter dem einzigen Zweck, das persönliche Überleben zu gewährleisten. Also in der schärfstmöglichen Verdunkelung, in der man sich angesichts der Fülle des Seins befinden kann: Schotten dicht, Alarmstufe Rot, Überlebensalgorithmen „on“.
Die anderen genannten Erfahrungen funktionieren ähnlich: Wenn es wirklich zum „Vom Ganzen erfasst -Gefühl“ kommt, dann nur deshalb, weil ein Teilbereich des Daseins kurzzeitig den gesamten Platz im Bewusstsein einzunehmen in der Lage ist. So kulminiert zum Beispiel sexuelle Erregung im Orgasmus, indem vornehmlich physisch wahrnehmbare Empfindungen sich ausweiten und andere Prozesse still stellen. Aber auch wenn „nur“ der erste Tropfen eines süßen Likörs auf die Zunge trifft und unverhofft den „einen Geschmack“ entfaltet, geschieht dieselbe Verengung. Es ist nur weit schwieriger, sich auf den kleineren Reiz einzulassen und die Reduzierung als Tor zur Fülle zu nutzen.
Für jetzt will ich diesen ins Nirgendwo führenden Überlegungen nicht weiter folgen. Ausweichen ist angesagt, ich sitze hier schon viel zu lange still! Für jetzt muss es mir reichen, festzustellen: Ausnahmezustände führen in die Illusion, sie unterscheiden sich nur in der Intensität von „normalen“ Erfahrungen und gehen wie diese vorüber. Was bleibt, ist die Langeweile – doch sie wird zunehmend interessanter.
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