Bloß jetzt nicht ausrasten, ganz ruhig bleiben, keine Versuche, irgendwelche Bäume auszureißen – auch bitte kein feuchtfröhlicher Abend, keine Ausflüge in ungewohnte Fernen oder andere grundstürzende Aufbrüche! Ich rede mir gut zu, trete trotzdem alle paar Minuten auf den Balkon, es ist einfach ungeheuer: der Himmel maximalblau, keine Wolke nirgends, die Sonne tut so, als wäre es ganz selbstverständlich, jetzt schon einen auf Frühling zu machen – ja, die Welt ist verrückt geworden, sie paßt sich uns an.
Klar, ich genieße es, freu‘ mich über das Verschwinden des Winters und möchte am liebsten alles feiern und umarmen. Wenn ich mich aber von den Energien mitreißen ließe – das kenn‘ ich einfach schon zu gut – würde ich an meinen eigenen Übertreibungen scheitern, das Aufbruchgefühl würde in Erschöpfungen münden, und meine gute Laune beim nächsten Kälteeinbruch in Enttäuschung und Überdruß versanden – schlimmer, als wenn gar nichts gewesen wäre außer grauem Himmel und februartypischer Kälte.
Jedes Jahr spüre ich die Veränderungen durch die Jahreszeiten deutlicher – ich kann mir mittlerweile vorstellen, dass diese Wahrnehmungen mit 80 ein Vollprogramm sein können. Als würden all meine Zellen von innen nach außen gestülpt, jede Nervenfaser unter einen neuen Strom gesetzt, fühl‘ ich mich einerseits wie neu geboren, andrerseits auch schnell ausgelaugt; eine Müdigkeit auf der Zellebene, die nichts mit dem bekannten Müde-Sein zu tun hat, das etwa nach einem intensiv gelebten Arbeitstag aufkommt.
„Im Frühling sterben ist nicht leicht, du weißt…“, sang Klaus Hoffmann mal in einer wundervollen Interpretation eines Jaques Brel-Songs. Einerseits ist das einleuchtend: Was uns jetzt so aufregt, wach macht, in Bewegung versetzt, ist die gute alte Natur, die mit schier unwiderstehlichen Mitteln alles Lebendige – von der hinterletzten Bakterie bis hin zum emeritierten Philosophieprofessor – zum Neuanfang motivieren will: Mach’s nochmal, Sam! Und wenn dann alle grad‘ ansetzen, es nochmal zu machen, ist es sicher doppelt schmerzhaft, ausgerechnet dann abtreten zu müssen.
Ist das schon die ganze, die letzte Wahrheit ? Werde ich wirklich bis ans Ende meiner Tage nichts anderes wünschen und wollen als dieses »und nochmal« ? (…the same procedere as every year.)
Ich hoffe nicht. Schon jetzt erlebe ich eine innere Distanz, indem ich das Geschehen, das mich mit aller Macht „ins Spiel bringen“ will, mit einer gewissen Verwunderung beobachte. Ich glaub‘ nämlich nicht mehr dran, dass da vorne oder da draußen, hinter der nächsten Ecke oder Hürde etwas wirklich Neues, Großartiges, außergewöhnlich Wunderbares auf mich wartet. Klar, der „Ruf“ lockt mich, treibt und verführt mich, aber ob ich nun folge oder nicht, ich kann nicht mehr davon absehen, WAS es ist: Frühling eben, wie immer, ganz unvergleichlich und doch nichts besonderes. Schon gar nicht das GANZ ANDERE.
Vom Ende
Und nun stelle ich mir vor, ich bin am Ende meiner Tage. Der Körper ist verbraucht, das physische Dasein macht immer mehr Mühe. Es gibt nichts mehr zu tun, denn alles ist getan, wozu ich jemals Lust hatte – nicht nur einmal, sondern immer wieder. Nichts regt mich mehr richtig auf, ich weiß um die Bedingtheit aller Dinge. Niemandem werfe ich mehr etwas vor, denn jeder tut sowieso immer, was er kann. Seit Jahren ist mir kein neuer Gedanke mehr gekommen, denn die bereits gedachten reichen völlig aus, um die Welt zu „bedenken“ – etwas, wozu ich auch keine rechte Lust mehr habe. Es gibt ja nichts wirklich Neues unter der Sonne, nur wechselnde Moden, und das Große-und-Ganze ist schon lang nicht mehr mein Problem.
Eines Tages dann öffne ich die Balkontür meines Zimmers im grad noch rechtzeitig selbst organisierten menschenfreundlichen Altenheim, in dem ich nun schon zehn Jahre lebe. Die ersten warmen Sonnenstrahlen verzaubern die Atmosphäre, es riecht unverwechselbar nach Frühling – Anfang Februar! Die Luft ist wie elektrisch geladen, eine neue, gewaltige Energie will von mir Besitz ergreifen, mein ganzes Dasein durchzittern, mir Lust auf Lust machen – ja, ich höre den Ruf, höre das gebieterische „Mach’s nochmal!!!“
Aber meine müden Zellen winken diesmal dankend ab: bitte nicht schon wieder, es reicht! Und ich bemerke das, ohne den geringsten Impuls zu verspüren, daran herumzukritteln. Kein Widerstand: es stimmt ja, ich will nicht MEHR. Und auch nicht dasselbe NOCHMAL. Ich schließe das Fenster und eine süße, lang nicht mehr verspürte Freude breitet sich in mir aus. Das Ende ist in Sicht! Noch ein bichen Zeit wird verstreichen für den einen oder andern Abschied, aber bald schon gehe ich, Frühling hin, Frühling her. Wohin? Ins Nichts, ins Unbekannte, ins GANZ ANDERE? Keine Ahnung, aber auf einmal ist es wieder spannend.
So könnte es doch auch sein. Warum denn nicht ?
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