Eine ARTE-Reportage berichtete gestern von den Argentiniern. Viele von ihnen bemühen sich derzeit um einen Paß, um nach vielen Jahrzehnten in die Länder ihrer Vorfahren Italien und Spanien zurückzukehren. Während vor und nach dem Krieg AMERIKA der große Traum war, ist es heute EUROPA, die extreme Wirtschaftskrise treibt die Menschen in die Auswanderung.
Wie man sehen konnte, kümmern sich die Mutterländer gut um die „Ehemaligen“, bieten Beratung und sogar Arbeitsstellen an. Allerdings Arbeit, wen wundert’s, die ansonsten niemand mehr so gerne macht: Schreiner, Maurer und andere körperliche Tätigkeiten, oft auf dem Land. Die Heimkehrer sind dagegen Großstädter, durch die Bank „überqualifiziert“ und haben so ihre Probleme, sich an diesen neue Leben, z.B. in spanischen Dörfern, zu gewöhnen. Sobald die Lage in Argentienien sich wieder bessert, sagen sie, wollen sie wieder zurück.
Körperliche Arbeit verschwindet mehr und mehr, wird von Maschinen und Programmen erledigt und läßt uns vor einem Terminal sitzen. Was nicht verschwinden kann – Bau- und Putzarbeiten, Handwerk, Pflegedienste etc. – hat den niedersten sozialen Status, den man sich nur denken kann. Ein nach dem Langzeit-Studium für Jahre arbeitslos bleibender „Philosoph“ gilt in der Welt weit mehr als jemand, der seit seinem 16. Lebensjahr so richtig Hand anlegen mußte.
Im Radio hörte ich kürzlich einen Appell der Handwerkskammer an die Jugendlichen, doch auch an eine Lehre zu denken: heute seien das interessante Berufe, in denen man durchaus in vielfältigen Kontakt mit High-Tech komme. Und gleich danach ein Bericht, dass in einigen Bundesländern nun per Ausnahmegenehmigung der Einsatz von Polinnen in der Pflege abgesegnet ist: zu für die Betroffenen bezahlbaren Bedingungen finden sich einfach keine deutschen Pflegekräfte mehr.
Kurzum: alle wollen am liebsten so leben, wie ICH lebe: Morgens mach‘ ich mir einen Kaffee, bring‘ mein Bett in Ordnung und schalte dann gleich den Computer ein. Ich rufe Mails ab, schau‘ kurz ins Diary-Forum und suche noch ein paar andere Websites auf: schließlich muß ich mich in-formieren, in Form bringen für das Leben am Gerät. Wieder ausgeschaltet wird der PC erst kurz vor dem Einschlafen, der größte anzunehmende Unfall meines Monitorlebens ist ein Festplattencrash.
Natürlich sitz‘ ich nicht ganztags vor der Glotze, nein, ich trotze mir Pausen ab: essen, einkaufen, mal eben um den Block gehen, gelegentlich ins Fitness-Center, damit der Körper noch mitbekommt, dass er lebt. In den Lücken lese ich gerne Zeitung – nur ein Medienwechsel also, doch treibe ich es immerhin nicht ganz so weit wie diejenigen, die nicht mal beim „Cardio-Training“ ohne den Blick in ein Magazin auskommen wollen. Da strampeln sie auf den angeschraubten Fahrrädern und lesen BZ oder Fit for Fun – es muß schon schier unerträglich sein, diese Leere im Kopf, wenn der Strom des Inputs mal für ein paar Minuten aussetzen würde! Ja, ich kann das nachfühlen – beim Frühstück neige ich schließlich auch zur Berliner Zeitung und konzentriere mich keinesfalls spirituell korrekt im Sinne von „Wenn ich esse, dann esse ich“ auf das, was gerade geschieht.
Das „Tor zur Welt“, der mit dem Netz verbundene PC ist Dreh- und Angelpunkt meiner gesellschaftlichen Existenz. Der Umstieg auf ein schönes Buch am Abend, oder gar der Blick ins TV bedeuten keine qualitätive Änderung: es ist ein Leben zweiter Ordnung, ein medial vermitteltes Leben, denn man hält sich im Reich der Zeichen und Bilder, der Welt der Bedeutungen auf, nicht etwa da, wo „wirklich“ etwas geschieht. Existiert denn dieses „richtige Leben“ überhaupt noch irgendwo? Oder wird es uns nur in den Texten, Bildern und Filmen vorgegaukelt?
Welche Realität?
Keine Sorge, ich bin nicht dem Wahnsinn nahe! Mir geht es sogar richtig gut heute morgen, wie ich da in die Tasten tippe und mir ohne großes Zögern jede Menge einfällt. Ich bin auch keinesfalls sozial vereinsamt oder “ psychisch belastet“. Nein, ich spreche von einer Normalität, die mir einfach immer verrückter vorkommt, wenn ich sie mal so „von außen“ betrachte, wie es zumindest scheinbar möglich ist, wenn man „über“ etwas nachdenkt.
Die Frage nach dem „Verschwinden der Wirklichkeit“ wurde lange schon auch von Philosophen – z.B. von Baudrillard – aufgegriffen, der gleich nach dem Golfkrieg fragte, ob dieser nicht vielleicht nur auf den Bildschirmen stattgefunden habe. Viele Intellektuelle reagierten empört, da sie das „wortwörtlich“ und damit als Nichtachtung der Kriegsopfer verstanden hatten. Dabei wollte B. einfach nur diesen seltsamen Prozess zu Bewusstsein bringen, dieses Fading Out der Realität, das sich fortschreitend ereignet, während alle nur mehr Freiheit, mehr Wahlmöglichkeiten, mehr Virtualität kommen sehen.
Ist „das Virtuelle“, der Aufenthalt in einer „zweiten Welt“ aus Informationen und Bedeutungen, nun ein zwangsläufiges Stadium entwickelten In-der-Welt-Seins? Oder ist es ein erschreckender Fehlweg, eine Abirrung, die in der Gutenberggalaxis begonnen hat und eines Tages im vervollständigten Cyberspace (wie etwa im Film „Matrix“ gezeigt) endet?
Klar, wir leben alle noch. Wir treffen Freunde und beruflich haben wir „Besprechungen“, wir verlieben uns und fahren in den Urlaub, wo das Virtuelle für ein paar Wochen die zweite Geige spielt. Was aber tun wir tatsächlich im gelobten Ursprungsland des Menschseins, also dann, wenn wir mit anderen zusammen kommen und mal nicht an Geräten hängen oder mit Medien beschäftigt sind? Wir reden d’rüber! Über das, was wir aus Medien entnommen haben, und über die eigene Arbeit an immer neuen Medien, sei es nun beruflich oder in der Freizeit (die sowieso immer mehr zusammen wachsen): Berichte, Artikel, Gedichte, Webseiten, Bilder – Werke und Kunstwerke, die alle eines gemeinsam haben: eine „abgeleitete“ Wirklichkeit zweiten Grades.
Der 11.September bedeutete für viele Menschen den „Einbruch des Realen“. Für die Newyorker hat das sogar gestimmt. Dass aber auch für den Rest der Welt (womit wir immer nur uns meinen) alles nun „ganz anders“ werde, hat sich nicht bewahrheitet. Zu sehr hängen wir in der Matrix fest und entscheiden uns immer wieder neu dafür, sie auszubauen anstatt sie zu verlassen.
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