Es ist halb vier. Die Ziffern der Uhr leuchten hämisch herüber, ich kann nicht schlafen. Fließe hin und her zwischen Wachen und Dösen, nicht auf der linken noch auf der rechten Seite halte ich es lange aus, auf dem Rücken schon gar nicht. Nein, ich rege mich nicht auf, wirklich nicht, das nützt nichts sondern macht es nur schlimmer. Das Jucken an der Rippe unter der linken Brust, das mich seit Jahren begleitet, nervig, aber nicht wirklich beängstigend, hält mich wach. „Tietze-Syndrom – möglicherweise“, sagte mal ein Arzt vor ein paar Jahren, „leider nicht erforscht, ich kann Ihnen nur eine Cortison-Depotspritze anbieten. Das ist gar nicht so schlimm, wie man meint“. Hab‘ ich abgelehnt, damals, wie kann er mir nur sowas anbieten, wenn er gar nicht weiß, was ich habe? Keine Arztbesuche mehr seither, ein paar Recherchen im Netz auf eigene Faust, ohne Ergebnis.
Heute Nacht würde ich die Spritze nehmen, keine Frage. Gottlob hab‘ ich morgen keinen festen Termin, könnte ausschlafen solange ich will. Aber ich mag den „Spätrhythmus“ nicht mehr: gegen Mittag aufstehen, weit nach Mitternacht einschlafen. Bis Mitte dreißig hat das einen herrlichen Protestgeschmack. „Ich bin eben ein Nachtmensch“, sagt man stolz und fühlt sich besser als alle, die zwischen 7 und 10 ein Büro ansteuern müssen. Heute liebe ich das Gegenteil, morgens um fünf oder sechs ist eine tolle Zeit, so ruhig und klar, vielleicht, weil die versammelten Psychen der Menschen die Welt noch nicht durchwabern wie dicker dunkler Nebel.
Nebel, Rauch, ich wandere durch Gestrüpp, am Horizont lodern Flammen. Keine Ahnung, wo es hingeht und warum ich hier bin, aber es ist spannend. Ist vielleicht gerade Weltuntergang? Es fühlt sich nicht so an, bei Weltuntergang müsste man doch Angst haben. Ich frage nicht, gehe weiter, durchquere buschbestandene Vorgärten von Einfamilienhäusern, steige über niedrige Zäune. In einem Hof treffe ich zwei Männer in grauen Anzügen. Es gibt etwas sehr Wichtiges, das uns verbindet, bald schon wird etwas geschehen, aber wir müssen warten – auf was? Wir rauchen Haschisch – mein Gott, das passt gar nicht zu den Anzügen, aber Träume halten sich halt nicht an meine Vorstellungen von Normalität.
Bildwechsel, ich sitze plaudernd neben einem alten Freund, mit dem ich mal viel zu tun hatte, lange ist’s her. Auf einmal wirft er einen feinen Schleier über mich, der mich vom „Außen“ trennt. Nur noch verschwommen sehe ich die Umgebung und verliere blitzschnell jedes Interesse am Leben „da draußen“. Es ist wie eine Befreiung, nicht mehr dorthin zu streben, ich höre seine flüsternde Stimme: „Genau!“ Trotzdem will ich weg von ihm, bin verärgert, dass er mich hier einschließen will und fliehe nach innen. Die Wahrnehmungen verschwimmen zu bewegter Schwärze, ich verliere mein Körpergefühl und falle in einen Tunnel, der mich fort reißt. Fort von allen menschlichen Empfindungen, es ist wunderbar und schrecklich zugleich. Ich kenne diesen Tunnel, schon ein paar mal bin ich da eingetaucht und immer schnell wieder umgekehrt. Auch jetzt sage ich „Stopp!“ – und finde mich im Bett, es ist kurz vor vier, muß mich wieder umdrehen, dringend.
Vielleicht hätte ich doch den Tunnel nehmen sollen? Das Gefühl, das mich im Griff hat, wenn ich in den nach außenOrkus falle, ist unvergleichlich. Als würde sich jede einzelne Zelle von innen nach außen stülpen, alle Schwere und Langeweile fällt ab, eine schier unbeschreibliche Ekstase beginnt, mich zu verschlingen. Nirgends ein Halt, nicht für Gedanken, nicht für Hände – und dann schrecke ich zurück. Schade eigentlich, aber mit dem Willen kann ich es nicht ändern.
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