Jeden Morgen öffne ich die Espressokanne, indem ich die obere Hälfte aus dem Gewinde drehe. Der Alu-Einsatz mit dem feuchten Kaffeesatz von gestern wird über dem Mülleimer ausgeklopft, dann ausgespült. Nun kommt Wasser in die untere Hälfte, dann mahle ich den Kaffe, fülle den Einsatz mit dem duftenden Pulver, streiche die Oberfläche glatt und schließe die Kanne wieder. Die Milch kommt in einen extra Topf, dann entzünde ich die Gasflammen. Gute fünf Minuten werden verstreichen, bis der Kaffe durch den entstehenden Dampfdruck in die obere Hälfte der Kanne gepresst wird und mittels eines röchelnden Geräusches signalisiert, dass er fertig ist. Wenn ich in dieser Zeit an den PC gehe und mich in die ersten Mails des Tages vertiefe, kann es gut sein, dass ich es überhöre, bzw. vergesse. Dann erinnert mich irgendwann der Kaffeeduft, ich springe auf und rette, was zu retten ist – die Milch ist schon mal übergekocht, hat sich aber auch wieder „beruhigt“. Nun gieße ich den Espresso aus der Kanne in den Milchtopf und dann in eine Tasse – der Tag kann starten!
Seit Jahren beginnen meine Tage mit diesem immer gleichen Ablauf. Es ist eine Routine, die mir „wie im Schlaf“ von der Hand geht, einschließlich der offenbar nicht ausrottbaren Fehler. Dass etwa jedes fünfte mal die Milch überkocht zeigt mir, wie unvollkommen ich bin, zeigt mir meine fehlende Wachheit und das Aufmerksamkeitsdefizit, dass ich bezüglich solch vermeintlich unwichtiger physischer Prozesse an den Tag lege. Längst könnte ich eine automatische Espressomaschine benutzen, könnte die Milch gefahrlos aufschäumen, doch zu einer solchen Veränderung hab‘ ich keine Lust: die Einfachheit der traditionellen Kanne gefällt mir und ich finde es in Ordnung, dass der Verlauf des Prozesses „Kaffee kochen“ mir etwas über mich, über mein aktuelles „in-der-Welt-sein“ zeigt – auch wenn das nicht gerade schmeichelhaft ist. Die derzeitige Kanne hat mal wieder keinen Henkel, der ist weggeschmolzen, als ich sie mal zu lange auf dem Herd stehen ließ. Also fasse ich sie mit einem nassen Lappen an und muss aufpassen, mir dabei nicht die Finger zu verbrennen. Vielleicht gönne ich mir zum Geburtstag eine neue und hoffe, dass ihr nicht das gleiche Schicksal wiederfahren möge – garantieren kann ich es nicht.
Routine und Gewohnheit
Mein Alltag funktioniert mittels Routine und Gewohnheit. Kaffee kochen, Emails lesen, den Kunden zuarbeiten, telefonieren, ins Web schreiben, ein kleiner Imbiss zwischendurch und alle zwei Tage mal einkaufen gehen. Zwar hab‘ ich ein recht kreatives Berufsleben, in dem ich oft etwas Neues mache, doch bei genauerem Hinsehen ist zumindest der Umgang mit den vielerlei Aufgaben eingefahrene Routine: die Art, wie ich die Arbeit in der endlos fortgeschriebenen To-Do-Liste erfasse, die mir niemals das Gefühl gibt, fertig zu sein; das lange Sitzen vor dem Monitor ohne gesundheitsfördernde Gymnastikpause; das Aufschieben eigener Projekte, weil immer etwas anderes wichtiger ist; die Trotzhaltung, die gelegentlich aufkommt, wenn der Berg vor mir schreit: „Arbeite! Konzentriere dich!“ und ich dann doch erst noch ein bisschen privat maile oder in einer Community schreibe. Auch die Haltung zum großen Thema „Geld verdienen“ ist ein Konglomerat aus inneren Gewohnheiten, aus eingefleischten Urteilen und Vorurteilen, die mein Verhalten bestimmen und dazu führen, dass ich immer mal wieder ins Minus rutsche. Dann werde ich unruhig, unternehme „dies und das“, um die Lage wieder zu wenden, doch sobald das gelungen ist, versacke ich wieder im üblichen Trott, mit dem ich gerade soviel Einkommen erziele, dass ich über die Runden komme: ohne Rücklagen, ohne Urlaub, ohne die Möglichkeit, wenigstens bei Krankheit einfach alle Viere grade sein zu lassen.
Dies ist beileibe KEINE Klage! Mir ist wohl bewusst, dass ich mit meinem Verhalten genau die Realität erzeuge, in der ich dann lebe – und dieses Leben ohne Sicherheiten und Luxus hat mich lange nicht gestört, im Gegenteil! Ich fühlte mich frei und ungebunden, legte auf Luxus keinen Wert und sehnte mich nicht nach Auszeiten, denn meine Arbeit befriedigte und erfüllte mich. Warum Urlaub, wenn ich doch da lebe, wo es mir gefällt? Warum Freizeit, gar Auszeit, wenn ich doch nichts lieber tue, als eine Website gestalten, einen Text schreiben, einen Schreibkurs leiten, ein neues Projekt voran treiben?
Wünsche – Wurzeln der Veränderung?
Nicht ohne Grund kippt diese Rede neuerdings tendenziell in die Vergangenheitsform. Dabei stimmt noch immer alles: die Arbeit macht Freude, immer wieder, immer neu. In meiner Wohnung in Berlin Friedrichshain fühl‘ ich mich sauwohl und wollte nirgendwo anders hin. Nach 18 Uhr hab‘ ich seit einigen Jahren eine Art „Feierabendgefühl“ und von Samstag Mittag bis Montag früh ist mir das freie Wochenende zur Gewohnheit geworden.
Und doch: es sollte sich etwas ändern! ICH möchte mich ändern, spüre deutlich, dass mir das, was ist, nicht mehr reicht. Es sollte mehr Leben geben neben der Arbeit, nicht bloße Erholung der Arbeitskraft im Rahmen des Nötigsten. Den Hauch von Freiheit und Abenteuer, der mich bei neuen Projekten inspiriert, will ich auch jenseits der Arbeit spüren. Die Reise nach Kambodscha im Februar, zu der mich ein besser verdienender Freund einlud, hat mir gezeigt, wie spannend die Welt „da draußen“ ist – gerne hätte ich MEHR davon! Aber mit meinem derzeitigen Einkommen ist an Rumreisen nicht zu denken! Es müsste um 50 bis 100 Prozent steigen, damit ich guten Gewissens mal ein paar Wochen aussteigen könnte.
Und neulich war ich krank: eine Zahngeschichte mit Fieber und heftigen Schmerzen, die mich so mitnahm, dass ich zum ersten Mal erlebte, wie es ist, weitgehend arbeitsunfähig zu sein – und dennoch weiter zu arbeiten, weil der Kunde ruft. Am Sonntag werde ich 52 und hab‘ in einem langen und nicht immer gesunden Leben allerlei „Gründe zum krank sein“ gesetzt, deren Wirkungen vermutlich nicht ausbleiben werden – was wird sein, wenn ich mal ernsthaft ausfalle? Mein finanzieller Horizont reicht immer gerade mal sechs bis acht Wochen, dann ist auch der Dispo ausgeschöpft – und dann? Dann muss mein Pfleger auch Sozialarbeiter sein und mich behördlich „verhartzen“ – was für eine ungute Perspektive!
Luxus? Brauch‘ ich immer noch nicht, aber ich sehne mich nach wirklich erholenden Aktivitäten: mal eine Woche Kur für den geplagten Bewegungsapparat, ein Yoga- oder TaiChi-Wochenende irgendwo im Grünen, ein Meditations-Retreat in der Stille. Eine Jahreskarte fürs Kieser-Training bei mir um die Ecke würde mich in Bewegung versetzen, mich kräftigen und das viele Sitzen ausgleichen, ohne dass ich gleich zwei drei Stunden unterbrechen muss. 30 Minuten Krafttraining morgens und abends – hey, das würde mein Leben gewaltig verbessern und mich vor allerlei Zipperlein bewahren, die in meinem Alter üblicherweise aufkommen! Und auch der Geist wäre beglückt, wenn ich mir ein paar Mal im Jahr eine heraus ragende Kulturveranstaltung gönnen könnte, auch wenn der Eintritt 20 bis 50 Euro kostet.
„Hier und jetzt“ ist nicht mehr ALLES
All das wird nur möglich werden, wenn mein Einkommen steigt, wenn ich mich also entsprechend verändere: Weniger „im Augenblick vegetieren“, um mich punktuell der Arbeit zu entziehen, sondern konsequenter und mit eingeplanten Pausen an konkreten Vorhaben arbeiten; mehr eigene Projekte entwickeln, die über das hinaus gehen, womit ich bisher mein Geld verdiene. Mit „Schreibimpulse.de“ hat das schließlich schon einmal geklappt: vier Kurse im Jahr würden dieses „Standbein“ verstetigen und ich könnte – daran angelagert – noch andere Dienste und Produkte rund ums Thema Schreiben & Selbsterfahrung anbieten. Und das ist nur eine Idee unter mehreren, die mir dazu einfallen.
An Ideen hat es mir allerdings noch nie gemangelt, auch nicht am Wissen oder den erforderlichen Fähigkeiten für deren Umsetzung. Das „Problem“ ist die Veränderung im Alltag, das Einüben neuer Gewohnheiten und Routinen, die zu einem auch finanziell erfolgreicheren Arbeiten gehören. Es gibt da ja eine ganze Palette bekannter Ratschläge, die allen Existenzgründern und expansionswilligen Selbständigen gerne gegeben werden: werde dir klar, was du erreichen willst! Formuliere deine Ziele und am besten auch gleich Zeiträume, in denen du sie erreichen willst! Finde Wege und Methoden und teile sie in einzelne Schritte auf, plane deine Arbeit entsprechend und kontrolliere stets, ob du dich mit dem, was du tust, dem Ziel annäherst!
Mir war das alles immer zu aufgesetzt, zu entlegen, zu sehr orientiert an einer abstrakten Zukunft, während wir doch stets in der Gegenwart leben. JETZT wollte ich glücklich sein und genießen, nicht irgendwann später. Wünsche hatte ich kaum je welche und wollte auch keine „entwickeln“, bloß um meine Arbeit zu effektivieren. Ja warum denn? Ist es nicht viel schöner, ganz entspannt im hier und jetzt spontanen Impulsen zu folgen?
Genau das hab‘ ich nun in einem Jahrzehnt Selbständigkeit ausgiebig getan und es lief nicht schlecht, gab mir genau das, was ich immer gewollt hatte: Freiheit in Form von Ungebundenheit, kein Besitz und damit kein Ballast, keine teuren Versicherungen, keine langfristigen Verbindlichkeiten, kein Korsett aus Pflichten und Erwartungen, die unter allen Umständen eingehalten werden müssen. Statt dessen kurzfristige Werkaufträge und Schreibkurse, immer wieder etwas Neues, dessen Aufbau mich reizt, wogegen die Mühen der Ebene, der Pflege des Bestehenden eher nicht mein Ding waren.
Wechselzeit
Mir scheint jetzt, dieses Leben wird sich noch einmal verändern bevor Schluss ist (toi toi toi!). Und zwar nicht allein wegen der oben genannten Sicherheits- und Luxusbedürfnisse, die mit 50plus naturgemäß wichtiger werden, sondern auch, weil sich meine Wünsche in Bezug auf die Arbeit verändern. Ich möchte den Wirkungsgrad meines Tuns erhöhen, nicht nur finanziell, möchte auch mal jemanden fördern und bleibende Projekte etablieren, die auch für andere Arbeit schaffen. Es würde mir gefallen, schöne Dinge zu produzieren und zu vermarkten, die man anfassen kann und nicht nur am Monitor wahrnehmen – und auch mal wieder etwas mit „sozialem Sinn“ unternehmen: aus der Fülle heraus, nicht aus Ressentiment, Kritik und Mangelgefühl!
Was ist es, das uns die Kraft gibt, uns wirklich zu verändern?? Alleine aus dem Kopf heraus funktioniert es nicht, das hab‘ ich oft genug erfahren und versuche es erst gar nicht mehr.
Gerade ist ein lieber Mensch dabei, eine neue Software für die Schreibimpulse-Kurse zu programmieren. Den ersten Kurs, der Ende September in der neuen „Umgebung“ stattfindet, werde ich dieser Frage widmen (mehr in den nächsten Tagen auf Schreibimpulse.de). Irgendwo muss ich ja anfangen! Warum nicht im Reich des kreativen Schreibens der Frage nachspüren, was es ist, das uns verändert? In dieser Zeit vieler „zugemuteter“ Veränderungen ist das sowieso ein gutes Thema!
Jetzt ist die nächste Kanne Kaffee fällig – ich werde eine Pause machen, dann kocht auch bestimmt die Milch nicht über.
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22 Kommentare zu „Kraft zur Veränderung ?“.