Auf dem differenzfeministischen Blog „Beziehungsweise weiter denken“ fasst Lisa Schmuckli im Artikel Eine Politik aus der Fülle der Geschlechterdifferenz zunächst die Ansätze des Differenzfeminismus zusammen. Lest selbst, es ist bereits eine sehr komprimierte Darstellung, die ich hier nicht zur Gänze wiedergeben kann! Im wesentlichen sind es zwei grundlegende Erfahrungen, auf denen dieses Denken basiert:
- Dass sich einerseits jedes Individuum mit der Erfahrung konfrontiert sieht, nur zu einem Geschlecht zu gehören – also „unvollständig“ zu sein und sich nicht selbst zu genügen.
- Und dass zweitens die Welt, in die wir hinein geboren werden, bereits etablierte Strukturen, Regeln und Vorstellungen aufweist, wie Frauen zu sein haben und welcher soziale Platz ihnen gesellschaftlich vorbehalten ist.
Beides gilt natürlich auch für Männer, doch bezieht sich der Differenzfeminismus explizit auf Frauen:
Das italienische Philosophinnen-Kollektiv Diotima entwarf vor dreißig Jahren – aufgrund der faktischen Misserfolge der Gleichstellungspolitik – einen eigenständigen Differenz-Feminismus, basierend auf der Geschlechterdifferenz. Sie stellten lakonisch fest, dass „die Politik der Frauen nicht zum Ziel [hat], die Gesellschaft zu verbessern, sondern die Frauen zu befreien und ihnen freie Entscheidungen zu ermöglichen.“
Die praktische Umsetzung und die Mühen der Ebene
Unter der Überschrift „Der Welt zugewandt: politische Praxis“ geht es dann um grundsätzlich andere Herangehensweisen, die sich Differenzfeministinnen auf die Fahne geschrieben haben. Die vorhandenen Strukturen verstehen sie offenbar als rein patriarchalisch begründet. Sie seien aus der Geschlechterdifferenz abgeleitet, aber grundlegend, wenn auch mühselig, veränderbar. Wie es anders gehen kann, erläutert Lisa zunächst abstrakt:
„Das andere Politikverständnis, das sich vom Denken der Geschlechterdifferenz affizieren lässt und sich als Engagement für das gute Zusammenleben aller versteht, hat mindestens noch drei weitere Ingredienzien: das Begehren einer Frau, die sich im Wissen um Differenzen anderen Frauen anvertraut; gegenseitige Autorisierungen unter Frauen; und ein gemeinsames Intervenieren. Intervenieren hier verstanden als ein Dazwischen-Kommen: Wir funken den politisch konventionellen Abläufen und Machenschaften dazwischen, so dass sich politische Prioritäten und Themen verschieben.“
Anhand einer eigenen Erfahrung in der Zusammenarbeit mit zwei anderen, ebenfalls differenzfeministisch inspirierten Frauen berichtet sie dann von der konkreten Umsetzung. Die inhaltliche Projektidee war, verlassene Klöster vor der kapitalistischen Verwertung zu retten und für soziale Nutzungen (Frauen, Flüchtlinge, Bedürftige) zu erhalten – ein tolles Vorhaben!
Alles läuft auch zunächst gut an, sie diskutieren die Hintergründe ihres persönlichen Engagements, es findet ein Wissenstransfer statt in gegenseitige Anerkennung und es stellt sich „eine quirlige, lebendige, fiebrige Stimmung des Aufbruchs“ ein, die in konkrete Arbeit transformiert wird. Aufgaben werden verteilt und nach einigen Wochen treffen sich die Frauen wieder, um alles zusammen zu tragen und das weitere Vorgehen auszuhandeln.
Dann aber bricht die anfängliche Harmonie zusammen:
„Es gab vorab einen Streit zu klären, bei dem sich die Initiatorin und die jüngere Kollegin gegenseitig missverstanden fühlten. Im Verlaufe des harzigen, fragilen Gesprächs mit vielen Gefahren von Verletzt-Werden entdeckten wir, dass der Kern dieses Streits – aus unserer nachträglichen Sicht – ein ‚typisch weiblicher‘ Perfektionsanspruch war: die gemeinsame Kampagne sollte tadellos sein und die Macherinnen als Profis auszeichnen. Wir erkannten, dass die Beurteilung der Kampagne nicht mehr in der eigenen (durchaus kritischen) Einschätzung und Bewertung lag, sondern an die Fremdwahrnehmung und Aussenkritik delegiert worden ist. Die Klärung hat die Verbindung zwar verstärkt, zugleich aber auch Energie gekostet.“
Lisa bewertet das so:
„Nachträglich lässt sich folgendes erkennen: Ein Streit ist unmittelbarer Ausdruck von gelebten Differenzen zwischen den subjektiven Frauen, die auseinanderdriften und zugleich hierarchisiert werden. Und im Streit neigt frau* zur Verharmlosung, um die Harmonie des „Wir-Frauen“ auf Kosten der eigenen Autorität wieder herzustellen. Indem wir den Streit aufgegriffen und hartnäckig nach dem Streitpunkt fragten, hielten wir die Unterschiede aufrecht, ohne die Beziehung zu unterbrechen, und wollten wir verstehen, was schmerzhaft trennte, so dass wir den (erwartenden, nagenden) Abbruch (des Teile-und-Herrsche) nicht ausagieren mussten.“
Es wundert nicht, dass so ein Streit erstmal grundsätzlich zweifeln lässt, ob frau sich im richtigen Projekt befindet. Lisa fragt sich, warum sie hier Zeit und Energie investieren soll, doch gelingt es ihr, die Dinge für sich ins Positive zu wenden:
„Mir fiel nachträglich auf, dass genau dieser destruktive Selbstzweifel eine Art „patriarchal gefärbter Bumerang“ war (bzw. ist): Ich konnte mir diese Frage inhaltlich nicht befriedigend beantworten; mich trieb die Frage eher in eine Wut, in Resignation, auch in eine Kraftlosigkeit. Ich erklärte mir Wut und Resignation vor meinem subjektiven Hintergrund – und die Falle bestand darin, dass ich mich auf mich zurückzog und damit meine Beziehung zur Initiatorin und zur Kollegin, unser interne Verbindlichkeit und das politische Engagement aus den Augen verlor. Der Grund, warum ich hier sein wollte, waren zum einen die politische Idee, reale Häuser und deren Gärten dem Kapitalismus zu entziehen, und zum andern die Beziehung zu beiden Frauen. Und wenn der Wunsch der Initiatorin notwendig ist, muss ich nicht alles inhaltlich und politisch unmittelbar verstehen.“
Und weiter:
„Das gemeinsame politische Begehren nach gutem Zusammenleben ist mir Garant genug (geworden). Nachträglich wurde mir zudem bewusst, dass in diesem Moment die sexuelle Differenz in mir wirksam geworden ist: Einerseits wollte ich mich dieser politischen Idee und diesen Frauen zugehörig fühlen und weiterhin die kräftigen, gegenseitige Autorisierungen mittragen und die daraus wachsende Anerkennung auch zu mir nehmen; anderseits wollte ich mich weniger aufreiben und verausgaben, wollte ich zu den alten (patriarchalen Projektmanagement-)Formen zurück, mich auch für einen bequemeren klassischen Erfolg opfern. Dieser Riss drohte mich zu zerreiben und mich auf die gewohnte Seite zu ziehen. Ich erneuerte meinen inneren Zuspruch zum gemeinsamen Fare Diotima.“
Ich entnehme daraus, dass es um die Frage der Entscheidungsfindung ging: Muss jede mit allem einverstanden sein? „Weniger aufreiben und verausgaben“ bedeutet letztlich: weniger diskutieren und im Zweifel eine autorisierte Person entscheiden lassen – also eine Hierarchie einführen, explizit oder informell, nicht zwangsläufig für alle Entscheidungen, aber für einige.
Mich hat das zu einem längeren Kommentar inspiriert, denn mir leuchtet nicht ein, dass ein Projektmanagement mit hierarchischen Entscheidungsstrukturen per se „patriarchal“ sein soll. Ganz im Gegenteil spricht der Bericht dafür, dass es gute Gründe gibt, gelegentlich solche Strukturen zu etablieren.
Mein Kommentar: Die Welt wartet nicht auf uns
Ich habe dergleichen nicht selten in gemischten Teams erlebt – es ist sozusagen „das Normale“ und ich kann diese Art Differenz nicht in Bezug zum Geschlecht setzen.
Projekte machen, die erfolgreich sind, bedeutet immer, auf eine oder andere Art auf Methoden klassischen Campaignings zu setzen. Dass es dazu dann unterschiedliche Meinungen gibt, wundert nicht, muss aber irgendwie entschieden werden.
Man hat dann die Wahl:
- Man diskutiert so lange, bis eine Lösung auf dem Tisch liegt, die allen gleichermaßen gefällt (Konsensprinzip)
- Es wird so lange diskutiert, bis alle Widerstände minimiert sind und alle „mit der Lösung gut leben können“ (eine abgeschwächte Form des Konsensprinzips, das derzeit in linken Gruppen mit basisdemokratischem Selbstverständnis gern genommen wird)
- oder man etabliert eine Hierarchie, die im besten Fall der Person mit der meisten Kompetenz und Erfahrung die „letzte Entscheidungsmacht“ zuordnet.
Version 3 ergibt sich oft informell, wenn eine Kampagne Fahrt aufgenommen hat und Entscheidungen schneller getroffen werden müssen als es das oft langwierige Verfahren (1) oder (2) ermöglicht. Dann sehen alle schnell ein, dass die „gelebte Utopie“ auch mal hinter der Erfolgserwartung zurück stehen muss. (Ich ergänze nachträglich: oder auch nicht und endloser Streit bricht aus, Leute springen ab…).
Ein weiterer Grund für die Neigung zur etablierten oder informellen Hierarchie ist die Überlastung, der Zeitbedarf, das Gefühl „sich aufzureiben“ in endlos scheinenden Diskussionsprozessen. Meist geht es ja bei Projekten um etwas Neues, das die Mitwirkenden NEBEN ihrem normalen Alltag leisten müssen.
Alles in allem: im hierarchischen Modell sehe ich nicht „das Patriarchat“, sondern sachliche Gründe, die dafür sprechen – egal zu welchem Geschlecht die Teilnehmenden gehören. Ebenso gute Gründe gibt es für die Methoden 1 und 2, die ausführlichere und – bei Gelingen! – befriedigendere Gruppenerlebnisse mit sich bringen.
Der angesprochene Perfektionismus findet sich bei allen Geschlechtern – und ebenso gibt es Andere, die die Dinge „gemütlicher“ angehen wollen. Denen die Selbstverwirklichung im „Hier & Jetzt“ des Projekte-Machens wichtiger ist als der möglichst zügige bzw. große Erfolg des Projekts.
In diesem Spannungsfeld bewegt sich jede Projektgruppe. Wie sie sich letztlich organisiert und Entscheidungen handhaben wird, hängt davon ab, wie viele Perfektionist/innen wie vielen „Gemütlicheren“ gegenüber stehen. Und auch davon, ob es den Aktiven gelingt, unterschiedlich intensive Formen des Engagements abseits vom „alle entscheiden alles gemeinsam“ zu etablieren, so dass alle zufrieden sind.
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3 Kommentare zu „Entscheidungsfindung in Projektgruppen: Sind Hierarchien patriarchalisch?“.