So ein Titel in diesen Krisenzeiten? Während die Untergangspropheten verschiedenster Coleur mit zunehmendem Erfolg um Aufmerksamkeit buhlen und viele Menschen fürchten, arbeitslos zu werden oder es bereits sind?
Ja, gerade dann gibt es mehr Grund als sonst, sich zu besinnen und darauf zu schauen, was „ein gutes Leben“ eigentlich ist und was es braucht, um glücklich zu sein.
Angesichts der unglücklichen, deprimierten, frustrierten und verzweifelten Menschen, die wohl jeder von uns im Laufe seines Lebens schon kennen gelernt hat, sollte eigentlich bekannt sein, dass man auch inmitten äußerer Fettlebe und gesicherter Rahmenbedingungen sehr viel Leid empfinden kann. Warum sonst bringen sich Menschen um, die weder arbeitslos noch arm sind? Warum verfallen viele dem Suff, wenn doch von außen gesehen alles Paletti ist: Job, Besitz, Status, Familie – alles ok?
Ich weiß, wovon ich rede, denn ich war selber schon in Situationen, in denen ich keine Perspektiven mehr sah und vollkommen verzweifelt daran dachte, aus dem Leben zu scheiden – oder wahlweise einen kleinen Amok-Lauf hinzulegen. Und das ohne echte Sorgen um mein Auskommen, meine Bleibe, meine konkreten Umstände.
Warum zum Teufel gehen also so viele davon aus, dass es einen Automatismus gäbe zwischen vorhandenen Sicherheiten und Besitzständen bzw. deren Verlust und dem Grad des Leidens oder Nichtleidens, der damit einher geht? Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt, sagt der Volksmund – und das stimmt, doch hat diese „Beruhigung“ wie alles auf der Welt zwei Seiten: einerseits die angenehme, sorgenfrei leben zu können, andrerseits den einschläfernden Aspekt, der dazu drängt, in Gewohnheiten und Routinen zu erstarren, nichts mehr zu wagen, was den Bestand gefährden könnte und so letztlich viel Lebendigkeit zu verlieren.
Der Mythos „Realität“
Da gibt es die Augenöffner, die dem verängstigten Volk jetzt deutlich sagen wollen, wie die „wahre Wirklichkeit“ aussieht (und dabei doch nur IHREN subjektiven, meist extrem schwarzmalerischen Blickwinkel verbreiten). Was ist denn „die Wahrheit“? Verrückterweise verweisen auch Menschen, die ansonsten dem Bewusstsein alle Prioritäten einräumen, nun auf die „objektiven“ Horror-Szenarien und deren Allgemeinverbindlichkeit. Als gäbe es eine allen gemeinsame Bewertung äußerer Bedingungen und ein darauf basierendes allgemein „angesagtes“ Befinden – so nach dem Motto: wer noch nicht in Angst und Verzweiflung gerät, verdrängt die Wirklichkeit und ist blind für das, was stattfindet.
WELCHE Wirklichkeit?
Wirklich wahr ist für mich das, was in den Fokus meiner Aufmerksamkeit gelangt. Mit diesem Fokus verhält es sich aber wie mit einem Fernrohr, das den nächtlichen Himmel abtastet: der Himmel ist unendlich viel größer als der Ausschnitt, den ich zufällig oder absichtlich in den Blick nehme!
Jetzt sitze ich – wie so oft – vor meinem Monitor in Berlin-Friedrichshain und habe die Wahl, welchen Aspekt meiner multidimensionalen Wirklichkeit ich anschaue. Als da ist:
- die allgemeine Wirtschaftslage / Finanzkrise etc.,
- die vielen anderen Interessen-Szenen, in die ich schauen kann,
- mein konkretes Leben in dieser Wohnung und in Friedrichshain,
- meine liebevollen und freundschaftlichen Beziehungen zu Mitmenschen,
- all meine körperlichen Verfallserscheinungen und Zipperlein, die verschiedene „Krankheiten zum Tode“ wahrscheinlich machen,
- mein körperliches Wohlbefinden, die Freude weitgehender Schmerzfreiheit und problemlosen Atmens, die noch vorhandene Bewegungsfähigkeit,
- der unausweichliche Tod, den ich ab ca. 40 als persönlichen Tod erkannte,
- der blaue Himmel draußen, die Sonne, die Erde, der Garten, den ich mit dem Fahrrad binnen 20 Minuten anfahren kann,
- die Schwärze und unendliche Weite des Universum, in dem wir NICHTS sind und aus dem jederzeit ein Brocken auf uns fallen kann, der allem ein Ende macht,
- die Klimakatastrophe mit ihren möglichen Entwicklungen, das Ende der Menschheit, die sowieso keine Ewigkeitsperspektive hat,
- allerlei Kriegs-Szenarien, die sich aus dem, was bereits ist, alsbald entwickeln könnten,
und, und, und: mein aufgeräumtes Zimmer, der Netzanschluss, das Konto, derzeit glücklicherweise im Plus. Und schließlich DAS GROSSE WUNDER, dass alles so ist, wie es gerade ist.
Ein Verharren in Angst und Verzweiflung, Depression und Frustration sind nur im Festhalten an EINEM dieser Aspekte möglich: Wenn mein Konto ins Minus driftet und ich nur noch daran denke, welche Gefahr das bedeutet und gar kein Bewusstsein mehr dafür habe, wie schön es ist, dass gleich ein lieber Freund vorbei kommt, mit dem ich ein paar schöne Stunden verbringen werde.
Oder ich könnte das Gefühl im linken Vorderzahn wählen und nur noch an die Schrecklichkeiten der Bauarbeiten denken, die hier bald fällig sind. Vielleicht auch daran, dass es unmöglich werden könnte, mir noch teuren Zahnersatz zu leisten, wenn es mit der Krise so weiter geht. Ich könnte auch über die seit Jahren spürbaren Defizite am Bewegungsapparat und den Nervenbahnen klagen, die es mir mittlerweile unmöglich machen, noch länger als 20 Minuten schmerzfrei zu gehen. Oder ich mache ein paar Yoga-Übungen und freue mich über das tolle Gefühl und die noch vorhandene Flexibilität, über den trotz Rauchen noch recht frei fließenden Atem….
Ich wünsche mir, im Stande zu sein, noch während des Sterbens das Wechselspiel zwischen Licht und Schatten und eine Berührung zu genießen – und nach allem, was ich bisher vom Leben weiß, ist das durchaus möglich!
Krise? Na klar ist die real, aber eben nur eine Realität unter so vielen, zwischen denen ich wählen kann. Und wer jetzt meint, das sei bloße „Verdrängung“, dem antworte ich, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, wie etwas in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangt: unbewusst und von außen angestoßen – oder bewusst und selbst gewählt.
Letzteres ist für mein Empfinden die einzige „Befreiung“, die man in diesem Leben erringen kann. Ich gebe nicht vor, darin perfekt zu sein, aber ich arbeite dran! :-)
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14 Kommentare zu „Vom guten Leben und der Möglichkeit, glücklich zu sein“.