„Man glaubt immer, das die Masse der Nutzer eher gut ist und folglich die Minderheit in die Schranken weist. Aber wie überall: die Masse macht nix, sie geht einfach woanders hin. Die Minderheit, die laut schreit übernimmt das Ruder. Die welche nicht schreien sind auch eher Menschen, die nicht auf Krawall, Konfrontation, Gewalt aus sind. Und sich deswegen zurück ziehen, wenns stressig wird.“
Das schrieb „Chefin“ im Golem-Forum als Kommentar zu einem Interview mit dem Gründer des Imageboards 8Chan. Brennan hatte das Board als Feld „absoluter Meinungsfreiheit“ gegründet, es aber aufgrund der extremen Radikalisierung (Gewaltaufrufe, Nazi-ideologie, Postings von Attentätern) wieder abgegeben. Derzeit ist das Board offline, was hoffentlich so bleibt.
Die Sätze zur untätigen Masse sind mir einen eigenen Beitrag wert, weil sie nicht nur für die Entwicklungen auf 8chan gelten, sondern leider auch ganz allgemein. Zum Beispiel in Thüringen: Dort haben zwar 76 Prozent NICHT die Höcke-AFD gewählt, doch gegen die Allgegenwärtigkeit rechtsextremistischen Denkens, gegen die Präsenz und sogar Dominanz jugendlicher Nazis hilft das grade gar nichts.
Ein guter Augenöffner zur Umwandlung Thüringens in ein „braunes Nest“ ist dieser Artikel:
Meine Jugend in Thüringen: Er war schon immer da
Auch wenn Höcke erst 2014 nach Thüringen zog – sein Denken begegnete mir hier von klein auf.
Zitat:
Wer als junger Mensch nicht dauernd verprügelt werden wollte, musste lernen, neben den Glatzen zu existieren. In Thüringen gibt es, mit wenigen Ausnahmen wie Jena oder Weimar, keine vielfältige Jugendkultur. Wer tanzen gehen wollte, musste damit leben, dass die Glatzen beim Pogo dabei sind. Wer trinken gehen wollte, musste damit leben, dass sie zuerst am Billardtisch stehen. Für meine Jugend in Thüringen galt: mitmachen, ignorieren, oder sich ins Private zurückziehen.
Die meisten aus meiner Clique wählten das Ignorieren oder den Rückzug. Und sobald die Ausbildung in der Tasche war, wählten viele – auch ich – dann den Wegzug.
So waren also die 90ger für Jugendliche. Und so dachte man in Thüringen 2001:
„Bereits vor 18 Jahren stimmten mehr als 35 Prozent der Aussage zu, es gäbe „wertvolles und unwertes Leben“, knapp 49 Prozent stimmten zu, dass Deutschland durch die „vielen Ausländer“ in „gefährlichem Maße überfremdet“ sei (Thüringen-Monitor 2001). Es sind auch die Aussagen meiner Generation, es sind Aussagen, denen ich nichts entgegengesetzt hatte. Die Verschwörungstheorien von rechts, von der „Überfremdung“ bis zur „Umvolkung“, sickerten so in die Mitte der Gesellschaft.
Wenn ich heute auf Heimatbesuch bin, begegnen mir diese Ansichten überall. Als Aussagen am Esstisch oder in der Kneipe, als Sticker oder Graffiti an Häuserwänden und Laternenmasten.“
***
Dass sich ausgerechnet Länder der Ex-DDR als besonders „fruchtbarer Schoß“ erweisen, aus dem das neue Nazitum kriecht, hat mich gewundert. Die NeoNazi-Jugendkultur entwickelt sich doch nicht im luftleeren Raum, es bedarf eines zumindest ignoranten, wenn nicht in Teilen zustimmenden Umfelds. Wie kann das sein in einem Land, dessen offizielle Doktrin sozialistisch war?
Mit einem „Wossi“ (Mitte der 80ger als Jugendlicher in den Westen geflohen) besprach ich die unterschiedlichen Formen der „Aufarbeitung“ des 3.Reichs in Ost und West, die dabei eine durchaus prominante Rolle spielen. Anders als im Westen behandelte man die Untaten der Nazis als Verbrechen der Anderen, der Kapitalisten, die sich jetzt als Klassenfeind in Form der BRD ihre neue Heimat geschaffen hatten. Die DDR war der Gegenentwurf, die Lösung der Klassenfrage und somit der Ort der guten, neuen sozialistischen Menschen. Die sich natürlich selbst nichts vorzuwerfen hatten – und wenn doch, verschwand das tunlichst unter dem Mantel des Schweigens, denn offiziell verfolgte die Stasi publik gewordene Nazis durchaus.
So kommt natürlich keine problematisierende Sensibilität für die verschiedenen Denkweisen zustande, die bei Tolerierung recht zügig ins rechtsradikale Spektrum führen. Auch im Westen gab und gibt es Neonazis, doch konnten sie noch nie so breitflächig und zahlreich Erfolge feiern wie derzeit in einigen „neuen Bundesländern“.
Aber egal ob im Osten oder Westen, offline oder online: die zunächst große Mehrheit derjenigen, die diese Umtriebe zum Kotzen findet, macht sich durch Nichtstun, durch Vermeiden und Ausweichen zweifellos mitschuldig.
Verständlich, aber hoch gefährlich.
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45 Kommentare zu „„Die Masse macht nix“ und überlässt den Rechtsradikalen das Feld“.