Claudia am 02. März 2001 —

Die Kindertage des Webs

Wie lange braucht eigentlich heute jemand, der neu ins Netz kommt, bis er oder sie bemerkt, daß es neben den Shopping-, Schnäppchen- und Info-Seiten noch etwas anderes gibt? Vielleicht mach‘ ich dazu mal eine eigene Umfrage, denn selbst in den üblichen Erhebungen zur „Netznutzung“ tauchen fast nur noch kommerzielle Kategorien auf. Douglas Rushkoff schreibt gerade in Telepolis über den Tisch der Freaks und diagnositiziert in den USA das „Wiedererwachen der Do-it-yourself-Kultur nach dem Dot.com-Crash“, und ich hoffe, daß auch hierzulande die NoCommerce-Szenen wieder lebendiger werden.

Es sieht gar nicht SO schlecht aus: Immerhin wird in der Liste Netzliteratur mal wieder die „Verbindung der Kräfte“ diskutiert, Szenen wie die Blogger-User sind ausgesprochen aktiv und so langsam lernen viele, fortgeschrittene Automatisierungstechniken auch nonkommerziell einzusetzen, mit denen es einfach wird, gemeinsam auf einer Website zu schreiben.

Vorgestern abend bin ich ganz spontan in eine Sammel-Leidenschaft verfallen, hab‘ Texte eines Netz-Autors, der vielen nicht unbekannt sein dürfte (verrat ich erst, wenn die Site fertig ist!) verwebt und dabei eine längere Reise durch ALTE Websites gemacht, immer auf der Suche nach Texten seit 1996. Meine Güte, die Atmosphäre und Ausstrahlung dieser Oldies, die im besten Fall als abgeschlossene „Museen“ herumstehen, stimmt richtig melancholisch: wie war das doch toll, als wir – noch ganz „unter uns“ – die Möglichkeiten erforschten, die das Netz auf einmal eröffnete. Auf die Idee, was zu verkaufen, ist man damals nicht mal am Rande gekommen! Ja, die Leute, die sich Sorgen um die Honorare für ihre kreative Arbeit machten, wurden sogar bespöttelt: Schließlich schöpften wir aus dem Vollen, eine Idee jagte die andere und die Aufmerksamkeit unserer Besucher war uns Belohnung genug.

Als Ausgabe von 1996/97 hab‘ ich zum Beispiel noch das alte Cyberzine Missing Link im Museum (Außenlinks entfernt!) stehen: wie kommunikativ diese Site wirkt: vielleicht gerade WEIL noch keinerlei Gästebuch- oder Forentechnik eingesetzt wurde? Es machte höllische Arbeit, aber die Beiträge und die Anteilnahme der Leser in den Diskussionen (Was ist Wirklichkeit? etc.) war deutlich intensiver als heute, wo man an jeder Ecke aufgefordert wird, doch bittschön ein Statement abzugeben.

Wer Lust hat, ein bißchen nostalgisch zu surfen, ist auch bei Ralph Segert auf Home richtig: Sein Minimal Design verbreitete sich schnell, aber niemand konnte so subtil wie Ralph mit einfachsten Mitteln Atmosphäre erzeugen – heute wird halt mit Flash geklotzt. Erst im Jahr 2000 eingeschlafen ist DAS AUGE von Thorsten Kull – auch so ein ästhetisches Einzelkämpferprojekt, das nicht einfach vergessen sein soll. Manche berühmte Seiten überleben die Jahre auch nur als geklaute: Auf der Suche nach „The Fine Site“, eine quer durch verschiedenste Künste elegant in Szene gesetzte Gallerie von Gerd Marstedt, die dereinst mehrere 1000 Zugriffe am Tag verzeichnete, stößt man nur noch auf Kommerz-Seiten, die Bilder verkaufen wollen und dergleichen – halt, nicht ganz: The Fine Site lebt: auf russisch!. Ich weiß nicht, ob Gerd die „Übernahme“ erlaubt hat, bin aber froh darüber: Schaut Euch nur mal die Präsentation Greatest Animations on the Web an!

Weitgehend im Urzustand erhalten ist auch Carola Heines einzig wahre offizielle deutsche Emanzen-Homepage von 1996: Hier fetzt der Inhalt! Wenn ich dran denke, was diese Site für eine Provokation darstellte! Die gesammelten „Haß-Mails“ geben noch einen Eindruck davon. Vielen hat sie aber auch ungeheuer gefallen und man surfte täglich hin, wie auch zu Sites wie Herberts Männerseiten (nicht mehr im alten Zustand) oder den Hausfrauenseiten (dito). Das tägliche Ranking gabs bei Webhits, in deren Top 100 man 1996 noch mit knapp 100 Zugriffen pro Tag erscheinen konnte.

Tja, die Kindertage des Web waren auch in DE voller Zauber: große Gefühle, himmelstürmende Utopien, kämpfende Stämme und kuschelige Heimplaneten voller Poesie – soviel Aufbruch war nie.

 

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