In meinem Zimmer stehen drei Regale, jedes 80 cm breit, jedes mit fünf Einlegeböden, also insgesamt 18 Fächer. Davon sind sieben voll mit Büchern, drei enthalten Aktenordner, in zwei stehen Schuber mit Internet-Magazinen, und über die restlichen sechs ist Kleinkram verteilt, Kästen mit CDs, allerlei technisches Kleingerät (Kamera, Rotlichtlampe, die Kartons vom Handy und der Digicam etc.) und Schachteln mit uraltem Nippeskram, Fotos, schöne aber nutzlose Geschenke, die ich nicht wegzuwerfen wage.
Dieser Zustand ist schon das Ergebnis vieler Entsorgungsaktionen. Früher, zu Beginn meiner mitterweile zwölf Umzüge, war ich stolz auf die ständig wachsenden Bücherwände, zeigten sie doch, was ich alles schon wußte! Gern besuchte ich Samstags die Flohmärkte, immer auf der Jagd nach schönen Gegenständen, die ich noch irgendwo aufstellen könnte. Entsprechend aufwendig gerieten die ersten Wohnungswechsel, große Umzugsfeten und zwei Wochen Arbeit, um alles wieder neu einzuräumen und hübsch zu arrangieren. Im täglichen Leben neigte das Ganze dazu, in ein staubiges Chaos überzugehen, klar, ich sprach vom „kreativen Chaos“, räumte aber doch piekfein auf, wenn sich WICHTIGER Besuch ankündigte.
In Berlin änderte sich dann alles. Kurz aufeinander folgende Umzüge durch verschiedene besetzte Häuser befreiten mich von einer Unmenge Ballast. Schließlich mußte man mit der „Räumung“ rechnen, es stand also nicht dafür, an dem ganzen Zeug zu hängen, es hatte auch niemand mehr Lust, die Samstage als ehrenamtlicher Möbelpacker – drei Treppen runter, vier Treppen rauf – zu verbringen, es gab ja so viel spannenderes zu tun! Als ich dann wieder friedlicher wohnte, merkte ich, dass sich mein Verhältnis zu den Dingen geändert hatte: Sie erschienen mir nicht mehr als Beute und schätzenswerter Besitz, sondern als Last mit Abstaube-Pflichten.
In der letzten Berliner Wohnung kämpfte ich schon bewußt gegen die Anhäufung der Gegenstände, merkte aber schnell, dass es gar nicht so einfach ist, sich von ihnen zu befreien. Man kann nur schwer verhindern, dass immer mal wieder neue dazu kommen, selbst wenn man sich dem weihnachtlichen Schenken verweigert und keinerlei Neigung zum Shopping als Freizeitvergnügen entwickelt. Die Schachtel mit den alten Disketten, die unbenutzte Spiegelreflex vom verstorbenen Vater, aber vor allem jede Menge Akten, ausgedruckte Texte, eigene Werke und Arbeitsergebnisse, alte Fotos und Briefe KLEBEN geradezu an mir. Schon öfter betrachtete ich diese WERKE-Schuber in agressiver Entsorgungslaune, brachte es aber nicht fertig, mich zu trennen. Sind nicht gerade sie Belege, dass ich gelebt habe? Dass ich arbeiten kann und hübsche Ergebnisse zustande bringe? Vielleicht muß ich ja mal wieder etwas vorzeigen, um meine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen?
Alles Unsinn, reine Ablenkungsmanöver! Als „Referenzen“ sind allenfalls die Werke der letzten Jahre verwendbar, und die stehen im Web oder liegen auf meiner Festplatte. LayOut-Künste von vor zehn Jahren interessieren nun wirklich niemanden, geschweige denn zwei Schuber mit Briefen an meinen Yoga-Lehrer oder drei Bände gesammelte Texte aus Creative-Writing-Gruppen. Als ich gestern so durch die Ausdrucke und Briefe blätterte, stellte ich mir vor, das alles nochmal lesen zu sollen – allein der Gedanke löste Grauen aus! Ich will NIE NIE NIE in eine Situation geraten, in der es mir wichtig und spannend erscheint, in der eigenen Vergangenheit zu wühlen. Ich erinnere mich mit Schrecken an alte Tanten und Omas, die bei jedem Besuch Fotos von anno dunnemal aus Schuhkartons zogen und erzählten, „wie es damals war..“ Höflich das Gähnen unterdrückend versuchte man, die Sache mit Anstand hinter sich zu bringen, zumindest bis zum unvermeidlichen „Du, tut mir leid, ich muß jetzt aber wirklich…“.
Und für mich? Werde ich nicht das Bedürnis haben, zu sehen, was war? Wenn nicht mit 60, dann vielleicht mit 70? So zur reinen Selbsterkenntnis und autobiografischen Selbstversenkung? Das ist eine Frage, die ich mir bei jeder Entsorgungsaktion stelle, wenn ich an die persönlichen Dinge Hand anlegen will. Die Antwort ist jedoch kein „Wissen“, sondern eine Entscheidung. Ich habe gelernt, dass wir unsere Vergangenheit in jedem Moment neu erfinden. Was ich mit 30 erlebte, erscheint mir mit 35 in einem anderem Licht als mit 45. In den „Unterlagen“ zu wühlen, bringt da keine weitere „Wahrheit“, belastet allenfalls den Geist, der gezwungen wird, die Neuinterpretation auf eine Unmenge längst vergangener und unwichtiger Einzelheiten auszudehnen, nach denen kein Hahn mehr kräht außer mir. WENN ich denn verkalkt genug geworden bin, um am aktuellen JETZT und an der realen Welt das Interesse zu verlieren. Das will ich nicht, also weg mit dem Scheiß! Und: Wer sagt denn, dass ich überhaupt so alt werde?
Ein ganz schön langer Text angesichts der Tatsache, dass es mir gestern gerade mal gelungen ist, weitere 80 Regalzentimeter vom Inhalt zu befreien! Steht jetzt hier rum und füllt einen großen Computerkarton, ich darf nicht nochmal reinsehen, sonst sortier ich wieder aus. Statt dessen werd‘ ich jetzt zum Grillplatz gehen und ein Feuer machen – eine tolle Frühlingsaktivität, es scheint sogar die Sonne.
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