Über Anthropotechniken und den Menschen als übendes Wesen
Ein Buch wie dieses liest sich nicht „so eben mal“ durch, schon gar nicht, wenn man sich in den Zeiten des Internets ein wenig vom Lesen dicker Wälzer entwöhnt hat. Den letzten Rundumschlag von Peter Sloterdijk – aus meiner Sicht DER Philosoph unserer Tage – wollte ich dennoch nicht auslassen: keiner fasziniert mit derart originellen Gedanken und einer überaus geistreichen Sprache. Seine Wortschöpfungen vermitteln Aha-Erlebnisse und lassen oft herzlich schmunzeln, wobei es dem neuen Buch gut tut, dass er es mit seiner spezifischen Philosophie-Lyrik diesmal nicht übertrieben hat.
Zum ersten Mal erkenne ich in einem Sloterdijk-Buch auch eine klare Botschaft – die vieldimensionale Krise hat ihn dazu bewegt, von der er kürzlich sagte: „Die Krise ist die einzige Göttin, der wir noch erlauben, uns von oben anzusehen“. Dieses „wir“ ist der Mensch in der Postmoderne, der lange schon mit dem Tod Gottes lebt und nun erstaunt ein Phänomen bemerkt, das der Autor gleich am Anfang seines Buches anspricht:
„Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt – das Gespenst der Religion. Landauf, landab wird uns von ihr versichert, nach längerer Abwesenheit sei sie unter die Menschen der modernen Welt zurück gekehrt, man tue gut daran, mit ihrer neuen Präsenz ernsthaft zu rechnen. Anders als das Gespenst des Kommunismus, der im Jahr 1848, als sein Manifest erschien, kein Wiederkehrer war, sondern eine Neuheit unter den drohenden Dingen, wird der aktuelle Spuk seiner wiedergängerischen Natur vollauf gerecht.“
Wie man an der Wortwahl schon erkennt, macht sich Sloterdijk im folgenden daran, die neuen Auseinandersetzungen rund ums Religiöse auf andere Füße zu stellen: Religion gibt es nicht wirklich, im Kern sind alle Religionen Übungssysteme, nämlich Anthropotechniken, mit denen sich die Menschen fit fürs Überleben in einer oft chaotisch und feindselig wirkenden Umwelt halten – was sowohl das Verhalten gegenüber den Lebensrisiken, als auch den Umgang mit der Todesgewissheit umfasst. Er schlägt dann einen weiten Bogen über 3000 Jahre Philosophiegeschichte und zeigt auf, mittels welcher Übungsformen Menschen versuchten, ihrer „Vertikalspannung“ Genüge zu tun.
„Vertikalspannung“ ist Sloterdijks Begriff für das stete Streben, sich selbst übend zu verbessern, sich höher und weiter zu entwickeln und über den Status Quo hinaus zu wachsen. Diese Spannung blieb auch erhalten, nachdem Gott als obere Instanz abgedankt hatte – und sie reicht bis in unsere Tage mit ihren vielfältigen Ratgebern, Selbstmanagement-Hilfen, Kursen, Workshops, Therapien und Lebenslehren, die uns versprechen, mittels der richtigen Übungen das Glück zu erlangen.
In der Betrachtung und Bewertung etlicher mehr oder weniger nach vorne weisender Übungssysteme und auch in seinem Plädoyer für ein engagiertes Sich-Aufraffen schreibt Sloterdijk ohne belehrenden Gestus, obwohl man eine ganze Menge über Philosophiegeschichte lernt. Allerdings nicht in der unsäglich trockenen Art, in der viele Kathederphilosophen, die mehr Professoren als Philosophen sind, ihren Stoff abhandeln, sondern mit Leidenschaft und immer in Bezug zum menschlichen Streben, wie man es auch als „ganz normaler Mensch“ in sich spürt. Dabei werden die unterschiedlichsten Gestalten, die eine bestimmte Haltung zur Welt propagierten, ausgiebig und teils sehr unterhaltsam besprochen: u.a. Nietzsche, Kafka, Cioran und sogar Ron Hubbard, der mit der Umwidmung seiner „Dianetik“ zur Scientology-„Kirche“ aus Sloterdijks Sicht einen letzten Beweis erbracht hat, dass Religion nicht existiert: indem er nämlich eine gründete.
WOFÜR wird nun geübt, wenn es doch keinen Gott mehr gibt, der uns dazu auffordert, bessere Menschen zu werden? Können wir uns da nicht einfach zurück lehnen und Spaß haben? Martin Muno von der Deutschen Welle bringt es in seiner Rezension schön auf den Punkt:
Warum aber soll ich mich ändern? Wer hat überhaupt das Recht, die Autorität, so mit mir zu sprechen? Es ist – so Sloterdijk – die Krise selbst; die wirtschaftliche, kulturelle, moralische und ökologische Krise. Wenn Banker durch hemmungslose Gier Milliardensummen vernichten, wenn zahllose Menschen beim Stichwort Kultur ans Privatfernsehen und beim Stichwort Genuss an einen Hamburger denken, wenn wir dabei sind, unsere Lebensgrundlagen auf diesem Planeten zu zerstören – dann ist schlussendlich jeder von uns gefragt. Von uns will Sloterdijk, dass wir „in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten des gemeinsamen Überlebens annehmen.“
Ich lese nicht mehr viele Bücher, obwohl ich in der Gutenberg-Galaxis sozialisiert wurde und als junger Mensch halbe Bibliotheken über die wesentlichen Fragen verschlungen habe: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was ist der Sinn? Was ist gut und böse? Was kann man erkennen und was soll man tun? Heute verschwende ich keine Zeit mehr darauf, bloß Wiedergekäutes zu lesen, das so oder ähnlich schon zigmal verbreitet wurde. Umso glücklicher bin ich, ab und an ein Buch zu finden, das aus dem Gewöhnliche deutlich heraus ragt: “Du musst dein Leben ändern” gehört zweifellos dazu!
Mehr dazu:
- Das ausführliche Inhaltsverzeichnis (.pdf);
- Üben, üben, üben! Rezension von Adam Soboczynski in der ZEIT;
- Video: Beitrag in KULTURZEIT zum Erscheinen des Buches;
- Philosophisches zur Krise 1 (Zwiegespräch mit Sloterdijk in Vis à Vis.);
- bestellen / Amazon-Rezensionen lesen
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22 Kommentare zu „Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern“.