Die Büroklammer aus Winword kratzt sich am Kopf, schaut mir in die Augen und zieht die Brauen hoch – zwinkert, lächelt verschmitzt, guckt in Richtung Werkzeugleiste, dann wieder zum Scrollbalken, zwinkert wieder – jetzt starre ich das Teil bestimmt schon zwei Minuten an! Ich klicke drauf und schicke den wundersamen Help-Agenten zurück ins Nichts. Lass‘ mir doch nicht von einer Büroklammer die Ruhe stören – ob es Menschen gibt, die nicht mal „in einem Schreibprogramm“ mit sich alleine sein mögen?
Normalerweise schreibe ich direkt in den Code des Webeditors, faul wie ich bin. Doch „dort“ bin ich schon halb draußen in den unendlichen Weiten. Die HTML-Tags bilden eine Umgebung, die nie vergessen lässt, dass ich fürs Web schreibe. Winword ist intimer, ich schaue auf ein weißes Blatt, auf dem meine Worte erscheinen und sonst nichts. Sollte ich später mit diesen Sätzen „raus“ wollen, ist ein „Umzug“ per Copy & Paste fällig, noch mal eine Gelegenheit, sich zu fragen: Muss das sein?
Wenn von „Virtuellen Räumen“ die Rede ist, assoziiert man immer noch diese simulierten 3D-Spielwelten, die mittels Cyberbrille und Datenhandschuh erlebt und gesteuert werden. Auch so ein Hype, der Jahr um Jahr durch die Medien recycled wurde, ohne dass diese „Räume“ je mehr als marginale Bedeutung gewonnen hätten. Genau wie der Künstler Stellarc (Vereinigung Mensch/Maschine/Netz) immer wieder als grundstürzend neu verbraten oder der Wissenschaftler Hans Moravec (Roboter lösen den Menschen ab) warnend zitiert wird, der doch seit dreissig Jahren dasselbe sagt. Nun, wo sind sie denn, die posthumanen, sich selbst programmierenden Roboter, die uns angeblich ein bequemes Restleben in Reservaten bereiten werden? Oh, ich vergaß: die Büroklammer da oben rechts…
Die heute tatsächlich genutzten virtuellen Räume unterscheiden sich vom Hype wie die ehemals real existierende DDR von der Idee des Sozialismus: Das Mailprogramm zum Beispiel – ist es nicht wie eine ungemütliche Bahnhofshalle? Nachrichten kommen über verschiedene Gleise (Mailaccounts) herein und werden von Filtern (Weichen) in ihre Positionen rangiert. Wer in verschiedenen Mailinglisten Mitglied ist, kann sich noch dazu an die Vorhalle eines Kongresszentrums erinnert fühlen: Überall verschiedene Tagungen, die allerdings niemals enden.
Dann die Orte, wo man sich trifft, im Web zum Beispiel: Wie auf einer richtigen Tagung heisst es oft zuerst: Sie sind noch nicht registriert! Da ich mich ohne Not nicht verdaten lasse, meide ich solch‘ ungastliche Orte. Wenn es ein reizvoller Treff zu sein scheint, an dem ich womöglich finde, was ich suche, schreib‘ ich auch schon mal ’ne Mail an den Veranstalter – und tatsächlich ist es vorgekommen, daß der Registrierzwang daraufhin abgeschaltet wurde! Erfolglos mosert man natürlich an Stellen, wo es den Betreibern hauptsächlich auf umfangreiches Data-Mining ankommt, wobei der Tausch „Dienstleistung gegen Daten“ durchaus korrekt sein kann, wenn – ja wenn mir mitgeteilt wird, dass es hier um ein Geschäft geht. Aber wo finden sich schon ehrliche Angaben darüber, was mit den Daten passiert?
Am liebsten besuche ich noch immer die freien Foren, z.B. aus dem Parsimony.net. In der alten Medienwelt konnte man nirgends einen so guten Einblick bekommen, was es alles für Interessengruppen gibt! Interessant auch, dass viele dieser Foren wesentlich lebendiger sind als kommerzielle, mit super-komplexer-Community-Software ausgestatte Orte.
Während alle Foren öffentlichen Plätzen gleichen, weil man nie weiß, wer gerade vorbeikommt, bieten Mailinglisten die anheimelnde Anmutung eines Closed Club: Sobald ich etwas von mir gebe, bekommen es alle Listenteilnehmer mit, im Guten wie im Schlechten. Man „erlebt“ also das gleiche, wenigstens potenziell, und das schafft eine größere Gemeinsamkeit als das Kommen und Gehen beliebiger Besucher in Foren und auch im Usenet. Es gibt Listen, die bleiben über Jahre stabil und fluktuieren wenig: Philweb zum Beispiel verfügt über einen „harten Kern“ von 70% der Listenteilnehmer, obwohl es allen Philosophie-Interessierten offen steht. Als ich nach einigen Jahren wieder mal mitlas, waren es sogar diesselben Themen wie zu Zeiten meines Ausstiegs!
Chat-Welten, die von den Altmedien meist-gehypte Form der Netzkommunikation, verströmen den Charme einer lauten Disko: wie flirrende Video-Projektionen an realen Wänden rauschen kurze Rufe, Grüße, Minimalstatements („Ich geh‘ jetzt“) von oben nach unten, man muß viele Male „rufen“, bis jemand reagiert. Chat fasziniert vor allem Jüngere, für die der Kontakt als solcher schon toll ist, noch dazu in ECHTZEIT, wie spannend! Ältere wissen von sich, dass sie in Echtzeit nicht unbedingt das bestmögliche Bild von sich abgeben und ziehen Remote Access-Kommunikationen vor.
Trifft man sich bei alledem „wirklich“? Wir tauschen Texte, Bilder, Daten: in den virtuellen Räumen generieren wir unsere Masken selbst, bewußt und mit mehr Sorgfalt als im realen Leben. Die laufende mediale Selbstdarstellung führt zur Frage: Bin ich das denn? Kann ich „mich“ überhaupt abbilden? Oder töte ich mich nicht viel mehr Tag um Tag, indem ich mich in Symbolen ablege?
Viele Newbees beginnen damit – von den Medien so angeleitet – ein oder mehrere Pseudos aufzubauen. Hab‘ ich am Anfang auch gemacht aber schnell gemerkt: Warum sich diese Arbeit mit einer virtuellen Figur machen? Der Darstellungsaufwand soll – wenn schon – mir selbst zugute kommen, nicht einem erfundenen Charakter, den ich womöglich morgen ersetzen muß, weil er nicht mehr paßt. Dass sich so auch eine Vergangenheit in die Netze schreibt, die jeder nachlesen kann, der in Google „Claudia Klinger“ eingibt, stört mich nicht. Da sammeln sich im Lauf der Zeit derart unterschiedliche Dinge an, daß die pure Vielfalt einen gewissen Schutz bietet, allzu leicht in eine einzige Schublade gesteckt zu werden. Interessant wird es sowieso erst im ganz persönlichen Kontakt – auch im virtuellen Leben.
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