Gestern abend rief mich ein Unbekannter an und bezog sich zum Einstieg auf den Titel des letzten Eintrags: „Der User existiert“. Er wolle sehen, bzw. hören, ob ich wirklich existiere. Nun gut, es gibt mich tatsächlich, doch war das natürlich nicht der Grund des Telefonats. Seines Zeichens Psychoanalytiker wollte mir der Mensch mit der freundlichen, aber etwas verspannt klingenden Stimme mitteilen, daß ich doch etwas anderes tun solle. Ich sei „Web-satt“, würde zuviel schreiben, meine Zeit im Internet überflüssig verplempern – auch sei es nicht angesagt, nach Berlin zu ziehen, im Süden, z.B. in meiner Geburtsstadt Ulm könne ich mich viel besser entfalten. Schlußendlich sei das, was ich mache, keine ECHTE Kommunikation, und schon gar nicht eine im Sinne des Cluetrain-Manifests!
Wow, wenn jemand soviel über mich weiß, mehr als ich selbst, die ich mich doch schon so lange kenne, dann frag‘ ich doch gleich weiter: WAS soll ich denn statt dessen machen? Für neue Vorschläge bin ich offen! Leute, sagt mir, was ich tun soll, ich sammle die Vorschläge und lasse dann darüber abstimmen! :-). Leider hatte mein Gegenüber dazu keinerlei Ideen, wollte mir offensichtlich nur das große „So nicht!“ herüberreichen – aber warum nur? Und warum schreibt er keine Mail? Weil das keine ECHTE Kommunikation wäre? Das ist jedenfalls ein Irrtum, doch gestandene Telefonierer sehen das selten ein (siehe Weiteres per Telefon?). „Durch das Internet kommen Menschen miteinander ins Gespräch, das war im Zeitalter der Massenmedien undenkbar“, Cluetrain-Manifest, Punkt 6. Vom „Ins Telefonieren kommen“ ist keine Rede, und wenn es in Punkt 5 heißt: „Menschen erkennen einander am Klang ihrer Stimme“, so bezieht sich das, wie der weitere Kontext zeigt, auf die übliche großkotzige Marketing-Sprache, die sich auf so vielen Unternehmensseiten findet. Spreche ich etwa so? Grübel…
Mail hat im übrigen auch einen „Sound“ und es ist manchmal ulkig, wie dieser Ton sich von der physischen Stimme unterscheidet! Verschiedentlich kompensiert das eine das andere, wenn sich etwa jemand per Mail oder in Foren eher autoritär gibt (viele Ausrufungszeichen, Großschreibungen, unbegründete Behauptungen etc.), und am Telefon spürt man dann die Angst vor dem Anderen, die Schüchternheit, die Fluchttendenzen – was ist davon also „echt“? Ich denke beides, und es kommt darauf an, den für das angestrebte Ziel angemessensten Kanal zu wählen. Bevor ich jemanden „von Angesicht“ treffe, telefoniere ich gerne erstmal, damit der „Schock“ nicht so groß ist, wenn das per Text entstandene Gebäude der Projektionen zusammenbricht. Das ist allerdings rein pragmatisch gedacht, denn „in Wahrheit“ ergibt die Stimme nur neues Material für andere Projektionen, genau wie der physische Körper, die Mimik und Gestik, wenn der Andere vermeintlich GANZ vor mir steht. Letztlich interpretiere ich meine Wahrnehmungen IMMER anhand eigener Erfahrungen und Befindlichkeiten. Der einzige Weg, dem Anderen näher zu kommen ist, sich selber näher zu treten.
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