Wie, du willst dieses alte Fass nochmal aufmachen? Haben wir nicht schon übergenug „Hitler-Content“ aus zigtausenden Dokus, Artikeln und Büchern zur Kenntnis genommen? Gibt es denn noch irgend etwas, das nicht bis zum Überdruss berichtet, durchanalysiert, in 3.Programmen wieder und wieder gezeigt wurde?
Oh ja, das gibt es! Das knapp 600 Seiten dicke Buch „Hitler – Die wenig bekannten Fakten“ von Claus Hant hat mich so beeindruckt, dass mir schon mal die Tränen in den Augen standen – ein Gänsehauterlebnis ganz eigener Art, das das Werk für mich zum wichtigsten Buch 2020 macht. Nie hätte ich gedacht, dass es noch so vieles gibt, was in den gängigen Dokus über Hitler nicht vorkommt – aus Gründen, die ich zwar verstehe, die aber 76 Jahre nach seinem Tod nun wirklich keine Rolle mehr spielen sollten.
In den „wenig bekannten Fakten“ macht sich der Drehbuchautor Hunt daran, Hitler als ganzen Menschen zu zeigen: Mal nicht nur Aspekte, die ihn als Inkarnation des absolut Bösen kennzeichnen, sondern auch jene Eigenschaften, die ihn für die Zeitgenossen so faszinierend machten. Das waren ja „nicht nur die »leicht verführbaren Massen«. Es waren – gerade auch in den entscheidenden Anfangsjahren seiner Karriere – hochgebildete, kritische und intelligente Einzelpersonen.“, wie Hunt im Intro zu seinem Buch schreibt.
Tabubruch mit Heilwirkung
Das ist nicht nur ungewöhnlich, sondern für manche auch ein Tabubruch. Dass es gleichwohl wichtig, ja sogar sehr nötig ist, endlich einmal ein vollständiges Bild gezeigt zu bekommen, merkte ich schon während der ersten paar Kapitel. Ich spürte, dass eine Wunde heilt, deren Existenz mir nicht wirklich bewusst war, was mich zum eigenen Erstaunen zu Tränen rührte.
Die Wunde war die Verachtung, die ich – niemals ausgesprochen – gegenüber meinen Eltern (jugendliche Mitläufer) und ihrer ganzen Generation empfand, weil sie offenbar einem ungehobelten Schulabrecher und talentlosen Postkartenmaler aufgesessen waren, der an irrer Selbstüberschätzung krankte. Wie konnte so etwas geschehen? Hatten sie denn überhaupt keine eigene Urteilskraft?
In den Dokus sah ich, wie dieser Hitler „große Reden“ hielt, sich in immer wahnwitzigere Aussagen steigerte, wobei die verblendeten Massen dem Führer huldigten und geradezu in Ekstase gerieten. Waren die denn alle verrückt? Als HJ- und BDM-Führer/in (Jg. 1925/27) waren meine Eltern gewiss dabei, wenn er sich an „die deutsche Jugend“ wandte und seine Erwartungen in ihre Hirne hämmerte.
In unserer Familie war das „3.Reich“ allerdings kein Thema. Ich bin 1954 geboren, 9 Jahre nach Kriegsende, mitten in der Aufbauzeit. Mutter gab sich unpolitisch und erzählte schöne Dinge vom BDM, wo sie Chorleiterin war. Mein Vater (Prager Deutscher) musste nach dem Not-Abi gleich in den Krieg und kam später in russische Gefangenschaft, wovon er nur lustige Anekdoten über die „dummen Russen“ erzählte. Und natürlich hatte er nichts gegen Juden, es gab auch einen „jüdischen Freund“ (den nach dem Krieg ja alle hatten). Ansonsten Schweigen.
In Claus Hants Buch las ich nun die „wenig bekannten Fakten“. Hitler war nicht der „hoffnungslose Stümper“, als der er häufig dargestellt wird, war weder talentlos noch ungebildet, trotz Schulabbruch. Ganz im Gegenteil war er ungeheuer belesen und hatte sich autodidaktisch ein umfangreiches Wissen auf vielen Gebieten angeeignet. In der Münchner Gesellschaft verkehrte er mit den Reichen, Schönen und Wichtigen, die von ihm fasziniert waren: wegen seiner Ideen, seinem Konversationstalent, seiner Fähigkeit, Sachdiskussionen „auf gleicher Augenhöhe“ zu führen und von seiner Ausstrahlung. Sogar „Humor“ wurde ihm bescheinigt und mit seiner gelegentlich exzentrischen Klamottenwahl galt er als „cool“, wie man heute sagen würde.
Künstlerisch war Hitler wirklich nur ein mittelmäßiger Maler, konnte sich damit aber in Wien immerhin mehrere Jahre über Wasser halten. Und ja, er hat das kulturelle Verbrechen begangen, die moderne Kunst als „entartet“ in die Tonne zu treten, sobald er an die Macht kam (zum Gefallen gewisser konservativer Kreise), war jedoch kein einfacher Kunstbanause. Er verehrte alte Meister und Künstler des 19.Jahrhunderts und träumte von einer „arischen Kunst“, die im Nationalsozialismus erblühen sollte (was natürlich nicht klappte!). Er ließ deutsche Künstler fördern, die „nicht in Dachkammern ein armseliges Leben fristen sollten“ und wollte Deutschland mit Museen pflastern. Bei Staatsbesuchen besuchte Hitler die jeweiligen Kunsttempel, verbrachte z.B. mit Mussolini viele Stunden in den Uffizien – zu dessen Missfallen, der nur genervt stöhnte „so viele Bilder…!“.
Das sind nur einige von unzähligen Details im Buch, die das Bild von Hitler vervollständigen. Alles Berichtete wird minutiös belegt, zum Glück ohne dass der Fluss des Lesens dadurch groß gestört würde – eine Meisterleistung.
Die verbreitete Sorge, dass eine ganzheitliche Darstellung der Person Hitler zu einer Beweihräucherung oder gar nachträglichen Minderung seiner gigantischen Schuld führen könnte, ist gänzlich unbegründet. Das ist kein Buch, aus dem Rechtsradikale Ermunterungen schöpfen könnten – gar nicht schädlich, wenn auch sie es lesen!
Fazit: Die vielschichtigen Schilderungen der Gründe, warum die damalige Gesellschaft „auf Hitler abfuhr“ (darunter viele große Namen) hat die unbewusste Verachtung aufgelöst, die ich für meine Eltern empfand. Zwar hatte ich schon zuvor verstanden, dass der Kohl’sche Spruch von „der Gnade der späten Geburt“ eine Wahrheit beschreibt, doch hatte ich das noch nie auf die Person Hitlers selbst bezogen, sondern mehr auf die damaligen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Jetzt verstehe ich, warum man darüber hinaus „den Führer“ toll finden konnte. Wenn diverse „Spitzen der Gesellschaft“ ihn begeistert unterstützten, was konnte man da von meinen Teeny-Eltern erwarten?
Der Autor und eine neue Herangehensweise
Dass ein Drehbuchautor (z.B. „Der Bulle von Tölz“) ein Buch über Hitler schreibt, ist ungewöhnlich, aber in diesem Fall ein Glück! Es liest sich nicht nur gut, sondern folgt einer anderen Methode und eröffnet völlig neue Blickwinkel. Hant schreibt dazu:
„Das Faktenmaterial, das die Grundlage meiner Arbeit zu diesem Buch darstellte, unterscheidet sich in nichts von dem Material, das ein Historiker seiner Arbeit zugrunde legt. Sorgfältige Recherche war auch für meine Arbeit die Grundvoraussetzung. Der Unterschied besteht in der Art und Weise, in der das Wissen, das durch die Recherche gewonnen wurde, verarbeitet wird. Während der Historiker, der »Geschichte-Erzähler«, seinen Protagonisten und dessen Handlungen von außen betrachtet, lese ich als »Geschichten-Erzähler« gewisse Dokumente, die mit dem Protagonisten persönlich zu tun haben, aus dessen Perspektive. Ich versetze mich also in die Lage des Protagonisten und nähere mich auf diese Weise seinem Selbstverständnis. Dass diese vollkommen andere Herangehensweise an einen wichtigen Teil des Faktenmaterials zu einem fundamental anderen Ergebnis führt als die Herangehensweise des Historikers, belegt dieses Buch….. Die einzelnen Kapitel folgen keinem linearen Bezug; sie sind wie Teile eines Puzzles zu verstehen, dessen Zusammenhang sich dem Leser erst am Ende des Buches erschließen wird. Damit das Lesen unterhaltsam bleibt, habe ich Kurioses und Skurriles nicht ausgespart.“
Meinen durch das Internet veränderten Lesegewohnheiten kommt diese nicht-chronologische Struktur sehr entgegen. Die Überschriften funktionieren wie Hashtags („Hintergrund“, „Intellekt“, „Wagner“, „Frauen“, „Ausland“, „Begeisterung“….), der zugehörige Text widmet sich dann genau diesem Thema. Es bleibt nicht aus, dass es so – rein historisch – zu Wiederholungen kommt, doch immer aus einer ganz anderen Perspektive. So entsteht ein Facetten-reiches Bild, nicht nur der Person Hitlers, sondern auch der zeitlichen Umstände und Ereignisse. So detailliert und auch spannend hab‘ ich z.B. noch nirgends über die Geschehnisse in München während der „Revolution“ gelesen.
Mehr unbekannte Fakten
Eine weitere Entdeckung, die Claus Hant in aller Ausführlichkeit präsentiert: Hitlers mystisches Erlebnis in der Psychiatrie. Unbekannte Fakten von einiger Tragweite, deren Unbekanntheit an sich schon ein Grund ist, sich zu wundern. Obwohl Hitler offenbar selbst einiges unternommen hat, die Spuren zu verwischen, finde ich es doch recht seltsam, dass sich klassische Historiker sich nicht mehr darum gekümmert haben, hier Licht ins (mystische? wahnsinnige?) Dunkel zu bringen.
Weil das aber noch einmal einen längeren Text erfordert und einen komplett anderen Schwerpunkt hat, schreibe ich eventuell später noch etwas dazu.
Hitler. Die wenig bekannten Fakten
von Claus Hant
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12 Kommentare zu „Wenig bekannte Fakten: Ein neuartiges Buch über Hitler mit Tiefenwirkung“.