Mehr vom Chaos soll ich schreiben, mailt mir eine Leserin. Dabei bin ich doch so froh, dass es bis jetzt nicht überhand nimmt! Ich beobachte es genau, denn Chaos macht mir Angst, zumindest erinnere ich mich gut an Zeiten, in denen die Angst vor dem Chaos – und damit das Chaos selbst – mein Leben bestimmte.
Heute weiß ich: Chaos verhindert man nicht mit dem Kopf, im Gegenteil, der Verstand macht es nur schlimmer. Das fängt schon bei den kleinen Dingen an, wie etwa mit der Ordnung auf dem Schreibtisch, in der Wohnung oder auch auf der Festplatte. Große Aufräumaktionen bringen nichts, feste Vorsätze, in Zukunft die mal eben eingeführte „neue Ordnung“ pingelig einzuhalten, laufen ins Leere. (Wer z.B. seine Festplatte aufräumt, wird schnell feststellen, daß man danach nichts mehr findet.) Der jeweilige Grad der Ordnung oder Unordnung, die mich umgibt, entspricht mir, das kann ich nicht im Hau-Ruck-Verfahren ändern.
Was funktioniert, sind kleine „Work-Arounds“. Weil ich z.B. keine Ordnung in den Gegenständen halten kann, trenne ich mich von allem, was ich nicht wirklich brauche. Was weg ist, kann sich nicht zu unübersichtlichen Ramschecken anhäufen. Was übrig bleibt, kann ruhig kreuz und quer liegen, ich blick immer noch durch, weil es eben nicht mehr viel ist. Und Aufräumen ist dann eine Sache von fünf Minuten, wenn mal alles richtig gut aussehen soll, weil Besuch kommt.
Solange ich dieses „Gut aussehen“ nicht selbst im täglichen Leben vermisse, werde ich es auch nicht dauerhaft herstellen. Kleine Fortschritte gibt es ja durchaus, immerhin BRAUCHE ich heute diese Transparenz, die keine Dreckecken mehr duldet. Und auf meinen Webseiten herrscht sowieso Ordnung, mehr, als ich je im physischen Raum verwirklichen konnte. Vielleicht, weil Webseiten vor allem Kopfprodukte sind? Liegt nahe, stimmt aber auch nicht: Unordnung auf Webseiten tut mir einfach weh, falsche Proportionen, unklare Navigation – der reine Horror! Es wundert mich selbst, daß sich dieses Gefühl nicht beim Anblick meiner gegenständlichen Umgebung einstellt. Vielleicht schau‘ ich einfach zu selten hin! Die 1024 mal 768 Pixel auf dem Monitor sind ja so viel leichter und anstrengungsloser in den Griff zu bekommen… ;-)
Ein Philosoph würde jetzt vielleicht einwerfen: Je mehr Menschen sich mit der Gestaltung von Medien befassen, desto chaotischer wird die Welt.
Es geht los..
Am Montag zieh‘ ich nun wirklich um. Wir haben uns jetzt doch dafür entschieden, den Umzug machen zu lassen – und zwar von derselben schnellen türkischen Firma, die uns auch hier ‚rausgebracht hat. Der Rückzug nach zwei Jahren kostet 500 Mark mehr, aber was soll’s. Selber einen Laster mieten, selber Schilder beantragen und aufstellen, Hilfskräfte von der Jobvermittlung organisieren und selber schwer schleppen? Es ist gut, dass es auch anders geht, ich bin halt nicht mehr zwanzig. Der Break zwischen der hiesigen Welt der Stille, umgeben von Natur, Tieren und Pflanzen, zurück in die laute Mitte Berlins ist eh so heftig, daß ich mich im Äußeren dabei gern so wenig wie möglich anstrenge. Gegen das Chaos hilft nämlich am besten, recht nah bei sich zu sein, in sich hineinzulauschen, was denn los ist – und wenn ich schwitze und schwer schleppe, gerate ich einfach „außer mir“.
In diesen letzten Tagen erlebe ich Anfälle von Abschiedsschmerz. Alles erscheint auf einmal schöner denn je. Draussen vor der Saunalandschaft in der Sonne liegen, gegenüber der Wald, in den Lüften kreist ein Adler… Morgens der Weg zum Zigarettenautomt, das immer schlafend wirkende Dorf ganz still, nur die Vögel zwitschern, der Wind streichelt mich, die klare Luft und das Grün überall – werde ich das nicht furchtbar vermissen?
Wenn es dann im Kopf so auf die übliche automatische Weise weiterdenkt: Hast du das richtige gewählt? Bist du sicher, dass es gut ist, wieder in die Stadt zu ziehen? – dann sage ich „Stop!“. Diese Zweifel haben nichts mit dem realen Leben zu tun, wie ich es von Augenblick zu Augenblick fühle. Im Denken will man immer „das Andere“ und außerdem alles auf einmal und gleichzeitig – nur, um wieder an Anderes zu denken, wenn man wirklich etwas „hat“. Dem sitze ich nicht mehr auf. Nicht „ich“ habe auf einmal beschlossen, in die Stadt zu ziehen. Es hat sich als Stimmung angebahnt, als Leiden, als Gefühl, als Verlangen, dann als Gespräch mit meinem Lebensgefährten, und nach und nach war es klar: Ich gehe zurück – und doch nach vorn, denn wie ich jetzt schon weiß, ist die Stadt nicht mehr diesselbe Stadt. Sie ist im Gegenteil ganz neu für mich, vermutlich, weil ich eine andere bin als die, die damals voller Überdruss Berlin verlassen hat.
„Ereignisse geschehen, Handlungen erfolgen.“
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