Impfen, testen, digitalisieren: Haben wir die Regierung und Verwaltung, die wir verdienen?
Es läuft schlecht in Deutschland: Beim Impfen geht es nur schleppend voran, was nicht nur an den Lieferverzögerungen der Herstellern liegt. Beim Umgang mit PCR-Tests und der Versorgung wichtiger Bereiche mit Schnelltests hat sich unser Land auch nicht mit Rum bekleckert. Geradezu ein Desaster ist die zögerliche und krass verspätete Auszahlung von Hilfen an Selbständige und Unternehmen, die faktisch Berufsverbot hatten und zum großen Teil noch haben. Und die Digitalisierung der Schulen, zu der die Corona-Pandemie nun zwingt, offenbart sehr schmerzlich die Jahrzehnte lange Ignoranz gegenüber dieser lange schon angesagten Modernisierung. Ein ganzes Corona-Jahr hat nicht gereicht, um die Versäumnisse nachzuholen. Nach wie vor geht vieles eher holpernd und stolpernd vor sich, die Gelder des „Digitalpakts“ sind bei weitem noch nicht alle abgerufen.
Wer ist schuld?
Die Schuldfrage ist keine Frage, die „nach vorne weist“, gleichwohl beherrscht sie viele Gespräche und wird in der Presse weidlich gestellt und beantwortet. Es ist einfach und deshalb auch zum Massensport geworden, Politiker verantwortlich zu machen für alles, was schief läuft. Doch wie überall gibt es unter ihnen So’ne und Solche, auch sind die Anforderungen und Unsicherheiten inmitten der Pandemie nicht eben einfach zu handhaben: da ist schon ein gewaltiger Unterschied zum Politikbetrieb normaler Zeiten. Die Gespaltenheit der Bevölkerung, die zum einen Teil größtmögliche Sicherheit verlangt, zum anderen mehr Bewegungsfreiheit und Öffnungsperspektiven fordert, bringt es zudem mit sich, immer sehr viele zu vergrätzen, egal was man tut. Ein Fakt, den wiederum die Presse weidlich ausschlachet, denn mit Ärger, Unmut und Angst lassen sich leichter Seitenabrufe generieren als mit Vorgängen, die funktionieren.
In einer der vielen Talkshows zum Thema sagte ein Sprecher (leider vergessen, wer das war!): Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Bild vom Staat, in dem alles funktioniert, ja sogar besser als anderswo. Deutschland sei seit eh und je für seine funktionierende Organisation und Verwaltung bekannt, umso verstörender wirkten nun die Defizite, die Corona sichtbar und spürbar macht.
Staatsversagen? Wer macht denn diesen Staat?
Aber woher kommt dieses Versagen der Strukturen, das derzeit als „Staatsversagen“ recht hoch gehangen wird? Ich stelle die These auf, dass genau das, was sonst als Vorteil und Leistungsfähigkeit bundesdeutscher Politik und Verwaltung erscheint, in der Krise zum massiven Nachteil wird:
- Alles muss immer buchstabengetreu „nach Vorschrift“ abgearbeitet werden. Wo es noch keine oder auf die aktuelle Situation nicht passende Vorschriften gibt, kommen sich die Handelnden vor wie Fische auf dem Trockenen. Auf einmal sind sie in der ungewohnten Situation, Verantwortung für neuartige Entscheidungen zu tragen – mit der Möglichkeit, hinterher in Haftung genommen zu werden, meist nicht finanziell, aber mit Folgen für den Berufsweg.
- Ermessenspielräume in der Verwaltung sind möglichst weit reduziert, damit nur ja keine Ungerechtigkeiten vorkommen (und keine „kleine Korruption“ im Alltag der Beamten und Angestellten). Wo keine Gesetze den Einzelfall regeln, gibt es sehr konkrete Arbeitsanweisungen, die kaum Spielräume lassen.
- Verantwortung ist in der Regel auf mehrere Hierarchie-Ebenen aufgeteilt, so dass eine Anforderung bzw. ein Änderungswunsch erst nach oben durchgereicht werden muss, was natürgemäß eine langwierige Sache ist, insbesondere, wenn die Möglichkeiten der Digitalisierung nur begrenzt genutzt werden. (Ich hörte gerade, dass z.B. Schulen nicht etwa einen Etat für Digitalisierung bekommen, sondern ihre Bedarfe konkretisiert beim „Schulträger“ einreichen müssen. Wo sie erst noch geprüft werden und im positiven Fall beim zuständigen Landesministerium eingereicht werden, das auch wieder prüft. Wen wundert’s, dass das sehr schleppend läuft!)
- Die eigentlich vorteilhafte Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden erweisen sich im Krisenfall als schwerfällig und führen bei wichtigen Maßnahmen zu „Flickenteppichen“, die vielen wiederum ungerecht vorkommen. Oft ist noch nicht einmal genau bekannt, wer für was nun rechtlich bindend zuständig ist, wofür dann erst Gutachten eingeholt werden müssen. Im Zweifel entscheiden am Ende Gerichte.
Das alles und einiges mehr, was ich in der Aufzählung sicher vergessen habe, ist nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern historisch gewachsen, entlang an den Einstellungen und Werten der Gesellschaft. Wir Bundesbürger wollen möglichst genaue Vorschriften, „damit nicht alle machen, was sie wollen“. Vor allem soll niemand „leistungslos“ an irgend einen Vorteil kommen, auch dann nicht, wenn dieser Vorteil allen anderen nicht schadet. So wurden und werden etwa Renter, die Grundsicherung beziehen, dazu gezwungen, im Land zu bleiben. Sie dürfen nicht etwa dorthin gehen, wo das Leben billiger ist und sie mit der Grundsicherung besser leben könnten. Man hat halt lieber Flaschen sammelnde Grundsicherungsempfänger in diesem Land!
Gerecht, genau geprüft und in der perfekten Reihenfolge!
In Corona-Zeiten zeigt sich das deutsche Bestehen auf Einzelfallgerechtigkeit insbesondere bei den Hilfen für Selbstständige: Im ersten Lockdown wurde wirklich mal schnell und unbürokratisch Geld ausgereicht, doch angesichts diverser Missbräuche (teils wegen unklarer Vorgaben, teils tatsächlich mit Bereicherungsabsicht) war es damit schnell vorbei. Bei den „Novemberhilfen“ war den Zuständigen vom Start weg klar, dass sie nicht vor März ausgezahlt werden würden, zum einen wegen fehlender Software (!) zum anderen, weil die Vorschriften zum Antrag nun sehr detailliert und komplex angelegt wurden. Da das alles geprüft werden muss, kann es natürlich auch nicht schnell gehen! Und selbst diese komplizierten Auszahlungsverfahren wurden zwischenzeitlich nochmal gestoppt, weil sich wiederum einige mit betrügerischen Absichten beteiligt hatten – erneute Verzögerung für alle, statt nachfolgende Verfolgung der Betrüger.
Gesetze und Vorschriften wurden in den letzten Jahrzehnten immer konkreter ausformuliert, was dem Bedürfnis nach Klarheit und Genauigkeit geschuldet ist. Niemand soll sich der Lage befinden, in eigener Verantwortung entscheiden zu müssen, ob eine Entscheidung vom Gesetz gedeckt ist oder nicht. (Letztes Beispiel: Das zunächst allgemein formulierte Infektionsschutzgesetz wurde kritisiert und deshalb schnell geändert zu Gunsten eines Katalogs an konkreten Maßnahmen, zu denen es die Politik ermächtigt). Doch damit ergeben sich immer mehr Einzelfälle, die in den Vorschriften nicht erfasst sind, die aber dennoch im Empfinden „aller billig und gerecht Denkenden“ (ein juristischer Terminus) eigentlich ebenso geregelt gehören.
Das Empfinden von Ungerechtigkeit wird somit nicht etwa geringer, im Gegenteil! Allein das Vorschriftendickicht wird immer dichter, Deutschland versumpft regelrecht in seinen Vorschriften und Gesetzen, die dennoch nie genügend genau sind, um wirklich jedem Einzelfall gerecht zu werden.
Pragmatismus? Schnelles Reagieren? Unbürokratisches Vorgehen? Leicht gefordert, aber in einem solchen Umfeld geradezu utopisch!
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33 Kommentare zu „Wer macht den Staat, der hier versagt?“.