Weil Jans Spahn angekündigt hat, „in der Zukunft“ müssten Geimpfte nicht mehr in Quarantäne und bräuchten auch keine Tests für den Besuch beim Frisör und anderswo, reagieren gerade viele ziemlich aufgeregt: Spaltung, Erpressung, Ungerechtigkeit, keine Solidarität – das sind so die Vorwürfe, die angesichts solcher Perspektiven gepostet werden.
Spahn stützt seine Verkündung auf einen aktuellen Bericht des RKI, in dem es heißt:
»Nach gegenwärtigem Kenntnisstand ist das Risiko einer Virusübertragung durch Personen, die vollständig geimpft wurden, spätestens zum Zeitpunkt ab dem 15. Tag nach Gabe der zweiten Impfdosis geringer als bei Vorliegen eines negativen Antigen-Schnelltests bei symptomlosen infizierten Personen.«
Bei mir wird das ab dem 17.Juli der Fall sein, doch war meine Meinung zu „Erleichterungen für Geimpfte“ schon immer diesselbe: Wenn es keinen sachlichen Grund mehr gibt, die Bewegungsfreiheit von Geimpften zu beschränken, dann sind solche Maßnahmen nicht mehr zu rechtfertigen. Denn:
- Was bittschön soll eine Quarantäne bei zweimal Geimpften noch bringen?
- Warum soll Geld für ihre Testung ausgegeben werden, wenn die Tests doch nur geringere Sicherheit bieten als die Impfung?
- Warum sollten Bewohner/innen von Pflegeheimen weiter kaum Besuch empfangen und keine Gemeinschaftsveranstaltungen genießen dürfen, obwohl sie zu allererst geimpft wurden? Sie sind in ihrer letzten Lebensphase, wovor will man sie durch massive Minderung ihrer Lebensqualität jetzt noch schützen?
Staatliche Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein!
Es gerät offenbar leicht in Vergessenheit, dass staatliche Maßnahmen, die Grundrechte einschränken, immer verhältnismäßig sein müssen. Das folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip und ist ständige Rechtsprechung beim Bundesverfassungegericht. Es bedeutet:
Eingriffe in Grundrechte müssen einen legitimen Zweck verfolgen, sowie geeignet, erforderlich und angemessen sein, diesen Zweck zu erreichen.
Zum „Zweck“ schreibt z.B. Dr. Milke Wienbrake, Prof. für öffentliches Recht:
„Welchen Zweck der Gesetzgeber mit dem von ihm eingesetzten Mittel genau verfolgt, ist durch Auslegung der jeweiligen gesetzlichen Regelung nach ihrem Wortlaut, ihrer Systematik, ihrer Historie sowie ihrem Telos [=Ziel] zu ermitteln. Ist der Gesetzeszweck auf diese Weise identifiziert, so ist anschließend zu untersuchen, ob dieser auch legitim ist.“
Kaum jemand wird bestreiten, dass die Corona-Maßnahmen den Zweck haben, Ansteckungen mit dem Virus durch Reduzierung der Kontakte zu vermeiden. (Ich sage „kaum jemand“, weil es ja doch ein paar Schwurbler gibt, die meinen, das alles seien reine Staatsschikanen, „um das Volk zu unterdrücken“). Wenn also das Ansteckungsrisiko bei Kontakten mit Geimpften kleiner ist als das Risiko bei Treffen mit Getesteten, dann kann die Folge doch nur sein, Geimpfte den Getesteten zumindest gleich zu stellen. Mit der Folge, dass alle Einschränkungen, die durch Tests aufgehoben werden können, für sie entfallen.
Nicht als Gnade von Seiten eines Ministers, nicht als von irgendwem zu verleihendes „Privileg“, sondern als schlichte Folge aus dem Wegfall des Zwecks der Beschränkungsmaßnahme.
Ist „Impfneid vermeiden“ ein legitimer Zweck?
Es ist mehr als fraglich, ob das „Vermeiden von Impfneid“ bzw. gefühlter Ungerechtigkeiten ein legitimer Zweck für das Beibehalten der Beschränkungen für Geimpfte ist. Warum? Weil weder Wortlaut noch Systematik noch Historie der Gesetze und Verordnungen zu Corona eine solche Interpretation der Maßnahmen stützt. Ihr Zweck war und ist der Seuchenschutz, sonst nichts. Und: Es ist nicht möglich, Gesetzen und Verordnungen neue Zwecke „nachzuschieben“, was auch gut und richtig ist, sonst kämen wir in Teufels Küche!
Wäre es dann aber möglich, neue Gesetze und Verordnungen zu verabschieden, die dann den Zweck „Impfneid vermeiden“ beinhalten? Also ins neue Gesetz rein zu schreiben:
„Diese Vorschriften gelten auch für Geimpfte, solange nicht jeder die Möglichkeit zur Impfung hatte, um Gefühle der Ungerechtigkeit und des Neids auf die vermehrten Freiheiten Geimpfter zu vermeiden.“
Da Parlamente eine gewisse (jedoch nicht schrankenlose!) Freiheit genießen, Gesetzeszwecke zu bestimmen, wäre das – vielleicht! – möglich. Auf keinen Fall gilt das für bloße Rechtsverordnungen der Verwaltung, die immer ein ermächtigendes Gesetz benötigen (hier: das Infektionsschutzgesetz, das genau deshalb geupdatet wurde).
Angemessen?
Nehmen wir also mal an, die Vermeidung von Impfneid könnte ein „legitimer Zweck“ sein, begründet mit dem Gemeinwohl, das durch zuviel Ärger Noch-nicht-Geimpfter vielleicht gestört werden könnte (sicher ist das nicht, wg. der o.g. „Schranken“). Dann kommt es aber immer noch darauf an, ob der angestrebte Zweck wichtiger, also höher zu bewerten ist, als die Freiheiten, die auf Seiten der Geimpften eingeschränkt würden. Sprich: Das Mittel muss für die Erreichung des Zwecks „angemessen“ sein:
„Das Ziel darf in seiner Wertigkeit nicht außer Verhältnis zu den Eingriffsauswirkungen stehen. Je intensiver das Mittel in das Grundrecht eingreift, umso gewichtiger und dringlicher muss das Ziel sein, das gefördert wird.“
(Quelle)
Die Corona-Beschränkungen (Kontaktverbote, Testpflichten, Quarantäne) schränken die Grundrechte aller Betroffenen erheblich ein, das bestreitet niemand. Die Eingriffe sind normalerweise auch gerechtfertigt, soweit es um das Ziel geht, Ansteckungen zu vermeiden. In diesem Fall wird die Abwägung (Seuchenbekämpfung gegenüber Grundrecht auf Bewegungsfreiheit) zu Gunsten der Beschränkungen ausgehen. Das ist jedenfalls derzeit Stand der Dinge in der Rechtsprechung.
Ob die Verhinderung von – verständlichem – Impfneid jedoch so „gewichtig und dringlich“ ist, dass sie die Schwere der durch Seuchenschutz nicht mehr zu begründenden Eingriffe in die Grundrechte Geimpfter rechtfertig, bezweifle ich. Grundrechte haben Verfassungsrang, was man von der Vermeigung von Ärger und Unmut bei Noch-nicht-Geimpften nicht behaupten kann.
Dass Spahn mehr Freiheiten für Geimpfte ankündigt, ist also keine neue Gemeinheit eines mittlerweile unbeliebten Ministers. Sondern die schlichte Einsicht in das, was die derzeitige Rechtslage hergibt und was nicht.
Mal ganz unjuristisch…
…finde ich die Überlegung nahe liegend: Was gewinnen wir Noch-nicht-Geimpften, wenn die Geimpften unsere Beschränkungen weiter mitmachen müssen?
In dieser empfehlenswerten „beta story“ wird das Thema mal angenehm unpolemisch ausgebreitet und von allen Seiten betrachtet:
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16 Kommentare zu „Mehr Freiheiten für Geimpfte?“.