Selten vermag es ein langer Artikel, mich vom ersten bis zum letzten Wort auf den Text am Bildschirm zu konzentrieren: „10 Milligramm Arbeitswut“, Birgit Schmids Bericht über ihren einwöchigen Selbstversuch im schweizerischen TAGESANZEIGER schafft es mühelos – fast als wirke das Ritalin auch ein wenig auf die Leserin.
Eine Woche lang schluckte die Autorin die mehr und mehr zur LifeStyle-Droge werdenden kleinen Pillen, nachdem sie ihren Hausarzt überredet hatte, ihr eine Packung mit relativ niedrig dosiertem Wirkstoff zu verschreiben. Ihre Ausgangssituation kenne ich zur Genüge: man arbeitet und arbeitet, doch gibt es immer wieder 10.000 Ablenkungen und die Verführung, mal wieder in die E-Mail zu schauen, ein bisschen zu twittern, Kommentare in den Blogs zu beantworten und vieles mehr. Es nervt, sich immer wieder mühsam am Riemen zu reißen und auf das aktuelle Tun zu konzentrieren: die Aufmerksamkeit verhält sich gelegentlich wie eine springende Heuschrecke, mal hier, mal da – ein Wunder, wieviel ich dennoch abarbeite!
Es ist allerdings auch immer zuwenig: zuwenig für die eigenen Ansprüche, die sich entlang an den vielen Ideen in Richtung MEHR und ANDERES entwickeln und die Mühen der Ebene nicht in Betracht ziehen. Man möchte Gipfel stürmen, aber nicht langwierig herum klettern – und wenn es eine Pille gibt, die das ermöglicht, warum nicht? Konzentrierte Leistungsfähigkeit ist schließlich das, was in unserer arbeitsversessenen Gesellschaft Anerkennung und Erfolg bringt, im Großen und im Kleinen. Es wundert nicht, dass viele dahin kommen, der Sache chemisch auf die Sprünge zu helfen. Fragt sich, zu welchem Preis!
Speed light: Vorteil ist Nachteil
Obwohl der „Nutzen“ der RITALIN-Wirkung in Schmids Artikel ausgiebieg gewürdigt wird, führt er in meinem Fall nicht dazu, dass ich mir jetzt eine Packung im Netz bestelle. Wie bei allen Drogen zeigt sich klar: der Vorteil ist auch Nachteil, das extrem konzentrierte Denken bedeutet auch Verluste:
„….und weil die scharfen Denkstrahlen alles wegschneiden, was belasten könnte, scheint eine Empfindung wie Traurigkeit gerade unerreichbar. Es leuchtet ein, dass Ritalin schon als Antidepressivum verwendet wurde. Auch jede Melancholie geht auf Kosten der Superkonzentriertheit. Verloren geht, was eigentlich inspiriert. Unter Ritalin wäre ich kaum zwei Stunden lang durch den Friedhof Montparnasse in Paris flaniert, und ich hätte meinen Schatten, der in der Abendsonne auf die Grabsteine fiel, nicht mal bemerkt. Flirten wäre nicht wie ein Schmetterling, den man zu fangen versucht, sondern angestrengt und aggressiver. Ich würde mich nicht mehr gedankenlos verlieben mit einem schon fast körperlichen Wissen, sondern mit Verstand. Scharf denken macht unfrei: rumblödeln, absurde Ideen entwickeln? Nein. Auf sich selbst zurückgeworfen, wird auch das Schreiben eng. Man hinterfragt sich nicht, tritt keinen Schritt zurück; die Kehrseite der fehlenden Selbstzweifel.“
Im Artikel kommen alle wichtigen Aspekte vor: Die Frage nach der Gerechtigkeit und Legitimität des „Hirndopings“, die Bemäntelung der Smart Drugs als Therapeutikum, die Argumente der Pharmaforscher und natürlich die Nebenwirkungen: auf das leicht euphorisierte Arbeits-High folgt das entsprechende „Down“, der Sturz ins Energieloch, wenn nicht nahtlos die nächste Pille folgt. RITALIN zeigt sich als „Speed light“ und hat bei Gesunden ebensolche Wirkungen: Appetitlosigkeit, gefolgt von Heißhunger, wenn die Wirkung nachlässt – und ein Gefühl des Ausgebrannt-Seins und der mentalen Erschöpfung:
„Obwohl es an müden Tagen von Vorteil sein kann, sich an die Arbeit zu setzen, ohne einen Sinn zu hinterfragen, hat das Gefühl der Hyperfokussiertheit rückblickend etwas Erschöpfendes. Das Medikament eignet sich dann, wenn man sich an eine Tätigkeit peitschen muss und sich von jeder Mücke ablenken lässt. Aufgeputscht, erlebte ich das Zwischenmenschliche als eher mühsam.“
Ich empfehle, auf jeden Fall auch die interessanten Kommentare unter dem Artikel zu lesen: hier treffen sehr kontroverse Meinungen aufeinander und die dunklen Seiten der Medaille kommen deutlicher heraus als im Text selbst. Schließlich benebelt so eine Erfahrung ja auch das übliche kritische Denken – es wundert nicht, dass das Ganze ein wenig zu positiv ausgefallen ist.
Offene Frage: wie entsteht ein Flow ohne Dopamin?
Gleich zu Beginn des Selbstversuchs heißt es zur beginnenden RTALIN-Wirkung: „In den nächsten Minuten wird der Wirkstoff Methylphenidat die Wiederaufnahme des Neurotransmitters Dopamin in meinen Nervenzellen hemmen.“ Was mir fehlt, ist eine weitere Darstellung des Wirkungsmechanismus. Dazu heißt es nur recht allgemein, der Wirkstoff stimuliere jene Bereiche im Gehirn, die für die Aufmerksamkeitskontrolle und Wahrnehmung zuständig sind. Dadurch könne man sich besser konzentrieren, klarer denken und jeder Anflug von Müdigkeit sei verscheucht.
Wie kann das sein? DOPAMIN gilt doch als das „Glückshormon“, das für das Empfinden eines „Flows“ im jeweiligen Tun zuständig ist. Wie kann also die Hemmung der Dopamin-Rezeption Flow-ähnliche Zustände der Versunkenheit verursachen?
Wenn ich dann noch auf Wikipedia lese, in welche Wirkungszusammenhänge Dopamin ebenfalls eingreift, kann einem angesichts der lockeren Medikation heutzutage schon ein wenig mulmig werden:
Dopamin ist aber auch ein Neurotransmitter in einigen Systemen des vegetativen Nervensystemes und reguliert hier die Durchblutung innerer Organe. Es wird für eine Vielzahl von lebensnotwendigen Steuerungs- und Regelungsvorgängen benötigt.
Unter anderem beeinflusst Dopamin die extrapyramidale Motorik (hier besteht möglicherweise ein Zusammenhang mit der Parkinsonschen Erkrankung). Ebenso steht der Dopaminhaushalt im Zusammenhang mit den neurobiologischen Aspekten von Psychosen und verschiedenen Störungen. Auch in die Regulation des Hormonhaushaltes greifen dopaminerge Systeme ein. So hemmt Dopamin aus Neuronen, die entlang des 3. Hirnventrikels lokalisiert sind, an der Hypophyse die Ausschüttung des Hormones Prolaktin. Weiter regelt es die Durchblutung der Bauchorgane, insbesondere ist Dopamin an der Steuerung der Nieren beteiligt.
Und da geht man also her und hemmt mal eben die Zufuhr bzw. den Dopamin-Stoffwechsel, bloß um sich besser konzentrieren und effektiver arbeiten zu können? Mir kommt es vor wie ein weiteres Öffnen der Büchse der Pandora: wegen eines singulären positiven Effekts wird ein ganzes System mittels chemischer Gewalt in den Griff genommen – OHNE dass man genau wüsste, was alles langfristig darunter leiden mag. Wieder mal typisch für unsere „herrschende Medizin“!
All meine Lebenserfahrung zeigt: nutzt du eine Krücke, kannst du bald nicht mehr ohne sie leben. Das gilt sogar für die täglich aufgetragene Gesichtscreme: die Haut verlernt schnell, das Gleichgewicht aus Fett und Feuchtigkeit eigendynamisch aufzubauen und man ist zur Freude der Kosmetik-Hersteller von den teuren Tages- und Nachtcremes abhängig.
Mit dem Glückshormon würde ich also ganz gewiss nicht mutwillig herum spielen, nur um eine wenig effektiver arbeiten zu können. Kann ja gut sein, dass jegliches „natürliche“ Glück dann einfach ausbleibt.
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20 Kommentare zu „Ritalin: Über einen journalistisch motivierten Selbstversuch“.